Wem gehört die Krise?
Europa und die Flüchtlingsfrage im Spiegel zeitgenössischer deutschsprachiger Literatur (Schimmelpfennig, Jelinek, Kuhligk)
AbstractThe article discusses the topos of crisis which has been associated with the topic of refugees since at least 2016. Starting from the word »refugee crisis«, which defines the discourse and clearly shows the European perspective on refugees, asylum and migration, the article explores the question of how literary texts observe and comment on the refugee discourse. The focal point is the dual observer perspective that literature maintains. On the one hand, the migration experience as such is literarily staged. On the other hand, the texts observe the ways that refugees are spoken of in the host countries. The consequence of this discourse on refugees is that the crisis experience of the refugees is overwritten by the crisis assertion of the host countries.
TitleTo whom does the crisis belong? Europe and the refugee question as reflected in contemporary German-language literature (Schimmelpfennig, Jelinek, Kuhligk)
Keywordsrefugees; migration; discourse; contemporary German literature; Europe
Fragestellung
Migration hat es »zu allen historischen Zeiten und fast überall gegeben« (Mecheril 2012: 15). Dieser grundsätzliche Hinweis darauf, dass Migration in einer historischen Perspektive keine Ausnahme darstellt, wie ihn der Bildungswissenschaftler und Migrationsforscher Paul Mecheril hier formuliert, findet sich in vielen aktuellen Artikeln, die Überlegungen zum Thema Flucht und Migration anstellen. Adressat:innen solcher recht allgemeinen Aussagen sind vor allem diejenigen, die auf Deutschland bezogen dieses nicht als Einwanderungsland begreifen wollen, obwohl seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Vielzahl von Zuwanderungen stattgefunden haben, wie z.B. durch Kriegsflüchtlinge, Aussiedler:innen, sogenannte Gastarbeiter mit ihren Familien seit den 1950er Jahren oder Spätaussiedler:innen in den 1990er Jahren.
Betrachtet man den zeitgenössischen Diskurs über Flucht, Asyl und Migration, fallen die den unterschiedlichen Redeweisen zugrundeliegenden gegensätzlichen Perspektiven auf das Thema auf. Auf der einen Seite findet sich die Betonung der Notsituation der betroffenen Menschen, während auf der anderen Seite die lebensbedrohlichen Lebensumstände der Flüchtenden geradezu überschrieben werden durch den Fokus auf die Fluchtfolgen für die Aufnahmeländer. Diese beiden Haltungen führen dazu, dass sich entsprechend zwei dominante Redeweisen im medialen und politischen Diskurs über die in Europa Schutzsuchenden etabliert haben, nämlich ›Flüchtlingskrise‹ versus ›Willkommenskultur‹. Seit 2015 geistert das Wort Flüchtlingskrise durch den öffentlichen Diskurs, der sich rund um das Themenfeld Flucht, Asyl und Migration entsponnen hat. ›Flüchtlingskrise‹ wird in der öffentlichen Debatte selten dafür verwendet, die Krisensituation der Geflüchteten zu bezeichnen. Der Sprachgebrauch des Kompositums hat vielmehr eine semantische Verschiebung erzeugt hin zu einer europäischen ›Krise‹, die dadurch entsteht, dass eine große Anzahl von Menschen aus Kriegs-, Terror- und Hungergebieten nach Europa fliehen. Aus der Krise, in der sich die Geflüchteten befinden, wird in diesem Narrativ die Krise mit den Flüchtlingen (vgl. Gerwing 2015; Schulze Wessel 2017). Kurzzeitig überlagert von der Coronapandemie liegt der öffentliche Fokus erneut auf dem Einlassbegehr Geflüchteter: im Jahr 2021 durch die Migration von Menschen aus Belarus nach Europa, im Jahr 2022 durch die Menschen, die aus der Ukraine auf der Flucht sind.1
Der vorliegende Beitrag widmet sich dem Krisennarrativ, das spätestens seit 2016 mit dem Thema Flucht verbunden ist, und fragt nach dem Anspruch auf Deutungshoheit der Krise, über die in Europa seit den 2010er Jahren geklagt wird. Ausgehend von dem den Diskurs bestimmenden Wort Flüchtlingskrise, an dem die europäische Perspektive auf Flucht, Asyl und Migration deutlich wird, geht der Beitrag der Frage nach, wie literarische Texte den Fluchtdiskurs beobachten und kommentieren. Im Zentrum des Interesses steht die doppelte Beobachterperspektive, die die Literatur einnimmt. Zum einen wird die Migrationserfahrung als solche literarisch inszeniert. Zum anderen beobachten die Texte die Redeweisen über die Geflüchteten in den Aufnahmeländern. Dieser Diskurs über die Flucht hat – so die These – zur Folge, dass die Krisenerfahrung der Geflüchteten von der Krisenbehauptung der Aufnahmeländer überschrieben wird.
Wer profitiert von wem?
Der ausgebeutete ›Wirtschaftsflüchtling‹
Schon in Roland Schimmelpfennigs am 5. September 2009 am Akademietheater in Wien unter der Regie des Autors uraufgeführtem Stück Der goldene Drache geht es darum, dass die Problematik von Flucht und Migration nach Europa lange Zeit verdrängt wurde. Das Ignorieren der Fluchtbewegung, die spätestens seit 2008 über die sogenannte Mittelmeerroute hin zur europäischen Küste zu beobachten war (vgl. Bonse 2011; Albahari 2015), wird in Schimmelpfennigs Stück regelrecht vor Augen geführt, wenn sich in einer Szene zwei Flugbegleiterinnen darüber unterhalten, ob sie bei einem Flug über das Mittelmeer womöglich ein Flüchtlingsboot sehen. Während die eine überrascht ausruft: »Da! Ist das nicht ein Boot?«, winkt die andere ab: »Ein Boot, wie willst du das von hier aus sehen.« Die Erste insistiert jedoch: »Ja, ein Boot! Ein Boot voll mit Leuten, siehst du es nicht?« (Schimmelpfennig 2011: 232).2 Darauf schauen beide weg und reden nicht mehr über den Vorfall. Sie nehmen damit die europäische Haltung der Verdrängung solcher lebensgefährlichen Fluchtunternehmungen ein, wie sie bereits zur Entstehungszeit des Theaterstücks von Zeitungen vermeldet werden (vgl. u.a. Johnson 2008; Pries 2009; Böhm 2009).
Der goldene Drache ist ein Stück, das aus 49 Bildern und 17 Rollen besteht, die von fünf Schauspieler:innen gespielt werden. Es setzt auf starke Verfremdungseffekte wie age- und gender-crossing, Kostümwechsel als Teil der Bühnenhandlung, Verlagerung von Haupt- und Nebentext, sodass das Stück als abstrakter Kommentar zu den behandelten Themen wirkt. Der oben zitierte Dialog der Stewardessen ist in Bilder über illegal in Deutschland lebende Asiat:innen eingebettet. Durch den Status der Illegalität sind sie dem Ausbeutungswillen der ›Legalen‹ hilflos aufgeliefert. Handlungsort ist ein Haus mit verschiedenen Wohnparteien und einem Asia-Restaurant im Erdgeschoss, das dem Stück seinen Titel gibt, wobei die Illegalen im Keller und im Hinterzimmer bis an ihre physischen Grenzen gehend arbeiten.
Während die Speisekarte mit den jeweiligen Nummern der Gerichte den Text gliedert, d.h. die Nummern werden aufgerufen und die Zutaten des Gerichts werden kurz benannt, durchzieht der Schmerzensschrei eines jungen Chinesen leitmotivisch den Text. Dieser Chinese hat keine Krankenversicherung und kann deshalb seine Zahnentzündung nicht richtig behandeln lassen. Jeder Schrei ist mit einer Essensbestellung verknüpft. Durch diese Verschränkung wird der Eindruck erweckt, dass sich die Menschen, die dort preiswertes Essen bestellen, buchstäblich vom Schmerz derer ernähren, die sich zwar unerlaubt, aber durchaus nutzbringend in Europa aufhalten. Am Ende findet in der Küche eine improvisierte Zahnextraktion statt. Der Mann verblutet darauf und sein Zahn landet in der Suppe bzw. im Mund der Stewardess aus der eingangs zitierten Szene, doch der Zahn sorgt bei ihr für eine nur kurz anhaltende Irritation. Wie das Flüchtlingsboot im Meer wird der Zahn einfach entsorgt und vergessen.
Parallel dazu ist die als Aesop-Fabel von der Grille und der Ameise angelegte Leidensgeschichte der Schwester des Chinesen gesetzt. Während der Bruder im Restaurant arbeitet und unter seinen Zahnschmerzen leidet, wird die Schwester, die Grille, als Prostituierte ausgebeutet und misshandelt.
Die Ameisen machen mit der Grille, was sie wollen. Sie nehmen sie hart ran. Sie ficken sie durch, oft eine nach der anderen. Dafür bekommt die Grille im Gegenzug hinterher etwas zu essen. Teile von toten Fliegen. Aber manchmal bekommt sie auch nichts. Dann sagen die Ameisen, daß die Grille froh sein soll, daß sie ein Dach über dem Kopf hat. Sie sagen, daß die Grille froh sein soll, daß die Ameisen sie nicht wegschicken. Zurück. Zurück in den Schnee. (GD: 224)
In diesen Sätzen, die nicht der Figurenrede entstammen, sondern als episches Element die Vorgänge beschreiben, wird – angezeigt durch die Inquit-Formel ›sie sagen‹ – der Diskurs über (illegale) Migrant:innen abgebildet. Wiederholt wird die Aussage, dass die Grille über ihre Situation froh sein solle. Damit wird das Hegemonieverständnis des Aufnahmelandes klar, dass Migrant:innen nämlich nicht als Menschen angesehen werden, sondern als – mit Giorgio Agamben (2002) gesprochen – homo sacer, dem keine Selbstbestimmung zugestanden wird. Der Flüchtling im Abschiebegefängnis oder in der Illegalität befindet sich im Zustand des entrechteten Lebens. Was hier von den ausnahmslos männlichen Peinigern der Grille als Alternative aufgemacht wird, ein Leben als Misshandelte oder das Sterben im Schnee, findet sich auch bei Navid Kermani, der in Izmir mit geflüchteten Menschen aus Syrien und aus dem Irak ins Gespräch gekommen ist und sie nach ihren Erlebnissen und Gedanken gefragt hat:
Nicht nur von der syrischen oder irakischen Heimat handeln sie [die Berichte der Geflüchteten; C.S.], sondern auch von Unterdrückung und Krieg, von der Flucht und wie ihnen das Geld ausgegangen, abhandengekommen oder gestohlen worden ist. Wo sollen wir denn hin? fragen sie alle und fürchten, daß sie am Ende zurückkehren müssen, um sich zwischen zwei Toden zu entscheiden, dem des Regimes oder dem des ›Islamischen Staats‹. (Kermani 2016: 73; vgl. auch Kingsley 2016)
›Wo sollen wir denn hin?‹, das ist genau die Frage, die die Illegalen in Schimmelpfennigs Stück bewegt. Aufgrund der Alternativlosigkeit bleibt die Grille/Schwester unter der Gewalt der Ameisen. Wie ihr Bruder hat auch sie als Illegale keinen Subjektstatus und d.h., für beide ist die Sicherheit des eigenen Körpers nicht gewährleistet.3 Der junge Mann stirbt an seiner nicht richtig behandelten Erkrankung, und die Schwester wird Opfer zerstörerischer Gewaltexzesse durch die Freier, die in den anderen Bildern des Stückes mit ihren europäischen Luxusproblemen den Bühnenraum einnehmen. So leidet die Großvaterfigur an ihrem Älterwerden und ein junger Mann hat Beziehungsprobleme – beide reagieren ihren Frust an der Grille ab. Als diese von einem der ›Kunden‹ lebensgefährlich verletzt worden ist, beschwert sich der Zuhälter bei dem letzten Freier: »Wie soll sie denn so je wieder – wie soll sie denn so – bist du besoffen oder was, du hast sie ja vollkommen kaputt gemacht, vollkommen kaputt – Hör zu, Junge, dafür bezahlst du, du kannst doch nicht einfach, das bezahlst du mir, das arme Ding –« (GD: 258). Es handelt sich also um eine Sachbeschädigung, für die der ›Besitzer‹ Schadensersatz fordert. Die misshandelte Frau kommt als Individuum in seiner Perspektive nicht vor. Sie gerät buchstäblich aus dem Blick, auch aus dem der Bühnenhandlung. Christian Steltz liest das Stück entsprechend als »Verdrängung illegaler Migration« (Steltz 2017: 111). Anhand der Bruder-Schwester-Konstellation wird »das Machtgefälle zwischen westeuropäischen Wohlstandsgesellschaften und den von Armut geprägten Herkunftsländern [verhandelt], worunter all jene Aspekte der Lebensqualität fallen, die in der aktuellen politischen Diskussion gerne als ›Fluchtursachen‹ bezeichnet werden.« (Ebd.: 120) Und – so ist Steltzʼ Analyse hinzuzufügen – das Stück führt schon 2009 vor Augen, dass der europäische Wohlstand einem verdrängten Ausbeutungsverhältnis entspringt.4
Privilegiertes Sprechen
Flucht und Eurozentrismus
In seinem 2016 erschienenen Langgedicht Die Sprache von Gibraltar literarisiert Björn Kuhligk die Eindrücke einer Reise, die er in das Grenzgebiet von Melilla unternommen hatte: »ich bin angekommen in der Krise/es ist kein Zeitungsartikel, kein Diskurs,/kein surrealer Film, es ist zum Riechen/zum Anfassen, zum Durchgehen« (Kuhligk 2016: 18).5 Das räumliche Ankommen in einer Krisenregion lässt zwar die Krisenstimmung physisch erfahrbar werden, hat aber nicht zur Folge, dass der Reisende tatsächlich teilhätte an jener Krise, über die in Zeitungen geurteilt wird. Der Reisende ist eben kein Flüchtender, er kann nur beschreiben, was er sieht, aber es widerfährt ihm nicht: »Die in die Nächte verlängerten Gesichter/der brüllenden Soldaten, der Bettler/und Schlepper, der dreckigen Kinder/neben den Abfall fressenden Ziegen/das Gesicht des Jungen, der die Kontrolle/durchbrach, Richtung Spanien rannte/dem die Beine weggetreten wurden« (SG: 18). Diese Beobachtungen werden im Gedicht hart kontrastiert mit der bevorrechtigten Stellung des Sprechers: »Es gibt die Grenze, den Grenzzaun, Grenzzaunlichter/es gibt die Möglichkeit, in einem 4-Sterne-Hotel/alles miteinander zu verknüpfen« (SG: 31).6 Dem männlichen, weißen Sprecher ist allenfalls eine »ironische Lossagung von der gängigen Privilegierung von whiteness« (Hermes 2019: 45) möglich, etwa durch eine ironische Selbstbeschreibung: »ich, mit der Hautfarbe des Brötchens/das zu kurz gebacken wurde« (SG: 18). Lakonisch bilanziert der so Sprechende seine eigene sorglose Stellung in der Welt: »Selbst mein Nacken steht/außer Frage bis zum Haaransatz« (SG: 18) oder: »ich habe den Reisepass, ich kann mir/das Essen aussuchen, das Hotel, die Uhrzeit/mare nostrum, nicht eures« (SG: 12). Mit dem zuletzt zitierten Vers wird subtil die Abwehr von Geflüchteten aufgerufen, die in der zeitgenössischen Asylpolitik Europas vorherrscht, denn mit dem Pronomen ›nostrum‹ ist das Wir Europas gemeint, das seit der Operation Triton7 von sich sagt: Es ist unser Meer, wir dürfen die Grenze überqueren, wir können sie schließen und wir können damit den Blick auf unsere Krise lenken, die die anderen, welche Einlass begehren, uns damit – angeblich – bereiten. Kuhligks Sprecher-Ich nimmt seine Umgebung und die Atmosphäre minutiös wahr und bildet dies im Gedicht ab: »in diesem sanften, heruntergebrochenen Licht/wenn die elektronische Glocke angeht/wenn der elektronische Muezzin angeht/wenn drei Mädchen auf der Strandpromenade laufen/auf ihren T-Shirts ITʼS NOT OKAY« (SG: 18). Der T-Shirt-Protest der Mädchen, ihr »ITʼS NOT OKAY«, prallt jedoch an dem ›Außer-Frage-Stehen‹ der europäischen Perspektive auf die (Macht)Verhältnisse ab.
Zu dieser Perspektive gehört auch das Selbstverständnis bezüglich der Lebensstandards, wie es etwa in Deutschland anzutreffen ist. Das 17. Gedicht des ersten Teils von Die Sprache von Gibraltar stellt dies aus. Die im Titel genannte ›Sprache‹ spielt auf die Narrative und die dahinterliegenden Gedankengebäude an, auf denen gesellschaftliches Selbstverständnis fußt, wie Kuhligks Sprecher ausführt:
Vor der Mauer, auf der Lauer
wenn die allgemeine Sonne
versunken ist, wenn sie kommen
Nachtschmetterlinge mit Haken
und Leitern, erfasst von Sensoren
sie wollen morgen früh, wenn Gott will
sie wollen ein Stück vom Kuchen
sie wollen nicht die Bäckerei
sie wollen Leistungsträger werden
sie wollen musikalische Früherziehung
sie wollen Stundenhotels
sie wollen Worte wie Familienvater und Mutterwitz
sie wollen Daueraufträge
[…]
sie wollen von Glück verzerrte Gesichter
sie wollen sich in der Sonnenbrille der Tagesmutter spiegeln (SG: 27).
Während die Sonne noch ›allgemein‹ ist und demnach allen gehört, sind alle anderen Dinge exklusiv. Kuhligk verknüpft den gefährlichen nächtlichen, von Sensoren erfassten Fluchtversuch mit dem im christlichen Kontext kanonisierten Wiegenlied, dessen erste Strophe, die hier anzitiert ist, sich erstmals 1808 unter dem Titel Gute Nacht, mein Kind! in der von Achim von Arnim und Clemens Brentano herausgegebenen Sammlung Des Knaben Wunderhorn findet: »Guten Abend, gute Nacht,/Mit Rosen bedacht,/Mit Näglein besteckt,/Schlupf’ unter die Deck’,/Morgen früh, wenns Gott will,/wirst du wieder geweckt« (Armin/Brentano 1808 [Teil: Kinderlieder]: 336 [68]). Die Menschen, die vor der Mauer und auf der Lauer liegen – auch hier spielt Kuhligk auf ein Kinderlied an –, sind aber nicht »mit Rosen bedacht«, sondern sie bangen um ihr Leben, wenn sie sich über die Mauer wagen. Die verheißungsvolle Aussicht auf das Gewecktwerden hängt im Gute-Nacht-Lied von Gottes Willen ab; die Menschen im Grenzgebiet können zwar auf Gott vertrauen, doch in der Welt, die Kuhligk zeichnet, hängt ihr Überleben vom Zufall ab, ob die Sensoren, die nicht göttlichem, sondern menschlichem Willen folgen, sie erfassen oder nicht. Die Aufzählung der Wünsche, die mit dem anaphorischen »sie wollen« eingeleitet wird, liest sich zum einen wie eine Zustandsbeschreibung der Lebensumstände in einer Wohlstandsgesellschaft, zum anderen zeigen die Verse auf, dass diese Wünsche exklusiv sind. Menschen, die Teil einer Wohlstandsgesellschaft sein wollen, werden diese Partizipationswünsche abgesprochen, mehr noch, ihnen wird unterstellt, die wollten »die Bäckerei« und nicht nur »ein Stück vom Kuchen«.
So erweisen sich der Anspruch auf Glück und auf Wohlstand als jene Dinge, die an der europäischen Außengrenze verteidigt werden. Dabei weiß Kuhligks Sprecher um den Zufall der Geburt, bei der darüber entschieden wird, auf welcher Seite der Macht- und Wohlstandsverhältnisse sich jemand befindet: »Die Geschichte meiner Abstammung/ist die Geschichte meiner Abstammung/die Geschichte meiner Hautfarbe/ist die Geschichte meiner Hautfarbe« (SG: 12). Mit den Mitteln der Wiederholung und des Parallelismus veranschaulichen die Verse, dass das Wohlstands- und Freiheitsgefälle in der Welt zum einen kulturhistorische und geopolitische Gründe hat und dass es zum anderen aus einer eurozentrischen Perspektive diskursiv hergestellt ist.
Anerkennungsproblematik
Diskurs über Geflüchtete
Die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek lässt ihren Chor von Schutzbefohlenen – so der Titel des Theatertextes aus dem Jahr 2013 – über die Frage nachdenken, ob sich die Regierungsverantwortlichen in Europa überhaupt für die Fluchterfahrungen der Menschen aus Krisengebieten interessieren:
Den Herrn in diesem Land und den Stellvertretern der Herren in diesem Land und den Stellvertretern der Stellvertreter der Herren in diesem Land würden wir, wir dürfen ja nicht, aber wir würden, würden wir, wies Fremdlingen ziemt, verständig unsere blutschuldlose Flucht erzählen, bereitwillig jedem erzählen, er müßte ein Stellvertreter gar nicht sein, wir würden das machen, Ehrenwort, wir erzählen es jedem, wir erzählen es allen, die es hören wollen, aber es will ja keiner, nicht einmal ein Stellvertreter eines Stellvertreters will es hören, niemand, aber wir würden es erzählen, wir würden über unsere Flucht ohne Schuld, unsre schuldlose Flucht, die Sie ja immer als Flucht vor Schulden darstellen, die Flucht von Schuldlosen also erzählen, in unserer Stimme wird nichts Freches sein, nichts Falsches, wir werden ruhig und freundlich und gelassen und verständig sein, aber verstehen werden Sie uns nicht, wie auch, wenn Sie es gar nicht hören wollen? Verstehen werden Sie nicht, und unser Reden wird ins Leere fallen, in Schwerelosigkeit, unser schweres Schicksal wird plötzlich schwerelos sein, weil es ins Nichts fallen wird, in den luftleeren Raum, ins Garnichts, wo es dann schweben wird, in Schwebe bleiben wird, im Wasser, in der Leere, ja. (Jelinek 2018: 15f.)8
Folgt man Michel Foucault, so gilt es, in der Analyse von Diskursen anhand der Redeweisen die dahinterliegenden Wissensformen und Wirklichkeitsvorstellungen freizulegen: »Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muß man ans Licht bringen und beschreiben« (Foucault 1981: 74). Jelineks Chor bringt mit dem Wortspiel um die beiden Lexeme ›Flucht‹ und ›Schuld‹ dieses Mehr ans Licht. An »unsere Flucht ohne Schuld« reiht sich die Variante »unsre schuldlose Flucht«. Die erste Formulierung mit dem präpositionalen Attribut ›ohne Schuld‹ lässt zwei Bedeutungen zu, zum einen kann sich das Attribut auf die Flucht beziehen, zum anderen auf das Erzählen selbst, das ja hier zentral zur Debatte steht. Die zweite Formulierung hingegen verknüpft die Schuldlosigkeit eindeutig mit der Flucht. Danach werden die Adressat:innen der Rede direkt angesprochen, indem eine im Flüchtlingsdiskurs vorfindliche Meinung zitiert wird: »die Sie ja immer als Flucht vor Schulden darstellen«. Zwei Wahrheiten prallen somit aufeinander: die schuldlos zur Flucht getriebenen Menschen gegen die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge, deren Gründe für das Fliehen in dem Wortspiel aus ›Schuld‹ und ›Schulden‹ als (selbst)verschuldet bewertet werden. Nach Paul Mecheril sind derartige Gegenüberstellungen in einem breiteren Spektrum von Redeweisen über Flucht und Flüchtlinge einzuordnen:
So gibt es etwa Diskurse über Flucht (mit dem abenteuerlichen Begriff der Flüchtlingskrise […]), Diskurse über europäische Werte, über Armutsmigration und soziale Ungleichheit […], über die Frage, welche Migrant/innen willkommen und welche gefährlich sind. Der Gegenstand eines Diskurses wird im und vom Diskurs erst hervorgebracht. (Mecheril 2016: 10)
Das Zitat aus den Schutzbefohlenen greift aber auch die Frage auf, wer eigentlich die Diskurshoheit innehat. Foucault folgend kann man sagen, dass Jelinek die Frage stellt, welche Ausschließungssysteme greifen, wenn die Flüchtlinge selbst keine Stimme haben, sodass ihr Sprechen »ins Nichts fallen wird«. Dieses Bild der Schwerelosigkeit der verpuffenden Rede wird in dem Zitat mit dem Wasser verknüpft, das wiederum auf die lebensbedrohliche Mittelmeerroute vieler Flüchtender verweist. Die ertrunkenen Flüchtlinge, also ihr Tod, und das Verdrängen dieser Tatsache werden so im Text kurzgeschlossen.
Elfriede Jelineks Text ist als Reaktion auf den Hungerstreik protestierender Flüchtlinge entstanden, die 2012 gegen unwürdige Bedingungen in den österreichischen Flüchtlingsunterkünften demonstrierten (vgl. Brickner 2013). Die Anerkennungsproblematik als Individuum ist bei Jelinek als Flehen der Geflohenen selbst angelegt; aber nicht als authentische Stimmen, sondern als Diskursgeraune, d.h., der Text reflektiert zugleich die Diskursbedingungen, unter denen er entsteht. Somit agieren bei Jelinek keine Figuren, sondern der Text versammelt, überlagert und überkreuzt verschiedene Stimmen, die als Diskursechos zu verstehen sind. Jelinek hat aufgrund der weiteren Ereignisse und politischen Entscheidungen zur Flüchtlingsfrage ihren Text laufend erweitert.9 Referenztext ist die griechische Tragödie Die Schutzsuchenden von Aischylos, die von Jelinek überschrieben wird (vgl. Reinhardt 2016: 274).
Aischylos greift in seiner Tragödie den Mythos der Danaiden auf. Die 50 Töchter des Danaos verweigern sich danach ihrer Zwangsverheiratung mit den 50 Söhnen von Aigyptos, dem Zwillingsbruder Danaosʼ. Aigyptos hatte dies vorgeschlagen, um einen Erbschaftsstreit mit seinem Bruder beizulegen. Im Mythos fliehen die Frauen in Begleitung ihres Vaters von Ägypten über das Mittelmeer zu den Küsten Griechenlands, um in Argos um Schutz zu bitten. Dem Ritual der Hikesie folgend versammeln sie sich in weiße Kleidung gehüllt an einem Altar, legen Ölzweige nieder und beten zum Schutzpatron Zeus. Dies nimmt Aischylos auf. Er gestaltet eine Rettung der Frauen durch den König der Argeier, Pelasgos. Damit endet Aischylos’ Tragödie in aus heutiger Sicht geradezu frauenrechtlerischer Weise, denn die Zwangsehen werden abgewehrt und die Aufnahme der Frauen in die Gesellschaft wird versprochen.10
Diese Rettungsgeschichte bildet nun den Subtext zu Jelineks Reflexionen über die aktuelle Situation von Geflüchteten in Österreich und Westeuropa. Der Chor der Schutzbefohlenen wendet sich heute wie einst die Danaiden, die übers Mittelmeer geflohen sind, an die Westeuropäer:innen und befragt diese danach, wie sie sich zu den globalen Fluchtbewegungen und konkret zu den Schutzsuchenden in ihrem Land verhalten wollen. Im Sinne des postdramatischen Theaters bietet Jelinek ein Metadrama an, das aus einem einzigen Redeschwall besteht. Die sich oft über mehrere Zeilen erstreckenden Bandwurmsätze simulieren ein atemloses Sprechen. Daneben finden sich ebenfalls gehetzt wirkende Parataxen, die dem Prinzip von Wiederholung und Variation entsprechen, wie das folgende Beispiel der anaphorischen Häufung des Pronomens ›wir‹ zeigt:
Wir werden wieder weggeschickt. Wir legen uns auf den kalten Kirchenboden. Wir stehen wieder auf. Wir essen nichts. Wir müssen doch wieder essen, wenigstens trinken. Wir haben hier so ein Gezweig für den Frieden, so Zweige von der Ölpalme, nein, vom Olivenbaum haben wir abgerissen, ja, und das hier auch noch, alles beschriftet; wir haben sonst nichts, wem dürfen wir ihn bitte überreichen, diesen Stapel, wir haben zwei Tonnen Papier beschrieben, man hat uns natürlich dabei geholfen, bittend halten wir es nun hoch, das Papier, nein, Papiere haben wir nicht, nur Papier, wem dürfen wir es übergeben? Ihnen? Bitte, hier haben Sie es, aber wenn Sie nichts damit anfangen, müssen wir das alles noch einmal kopieren, noch einmal ausdrucken, das ist Ihnen doch klar? (DS: 9)
Aus dem Ölzweig des antiken Mythos werden die Antragspapiere, die ihre Gültigkeit bzw. Wirksamkeit nur über die Adressat:innen erhalten, die die Zeichen der Schutzsuche anerkennen müssen. Die Adressierten müssen etwas »damit anfangen«, sonst verpufft die Rede und die Existenz der Redenden bleibt fragil, d.h., die Schutzbefohlenen reden buchstäblich um ihr Leben.
In der Leipziger Inszenierung aus dem Jahr 2015, in der Aischylosʼ Tragödie den ersten Teil bildet, klingt die antike Rettungsgeschichte mit einer Wiederholungsschleife der Lobpreisung der Chorführerin aus: »Ziehet nun hin und preiset/die Herren von Argos, die seligen Götter,/die Hüter der Stadt und Bewohner des Landes«,11 während im Hintergrund der Chor die Brautkleider auszieht. Die weißen Kleider werden an einer Deckeninstallation aufgehängt, sodass sie als Projektionsfläche für eine Videoeinspielung dienen. Im Video hört und sieht man eine als Elfriede Jelinek kostümierte Frau an einem Text schreiben. Die Inszenierung markiert also die Verschränkung der Texte. Auf die von den Danaiden aufgeworfenen Sorgen: »Für die Flüchtlinge sehe, voll Grauen, ich widrige Stürme voraus, unseligen Kummer und blutige Kriege! Warum hatten sie günstige Fahrt über die See vor dem Zug ihrer flinken Verfolger?«, antwortet die fiktive Autorin, die gegen den Bildschirm klopft und den mahnenden Satz der Mägde aus Aischylosʼ Tragödie rezitiert: »Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt.« (LA) Nach diesem Satz flattern DIN-A4-Zettel auf die Bühne; das Manuskript Jelineks regnet quasi auf die Bühne und wird von der Inszenierung demnach als Positionierung zur antiken Tragödie markiert. Die Zukunft der Schutzflehenden von einst, das sind die Probleme der Schutzbefohlenen von heute.
Mit dem Ruf: »Wir leben. Wir leben. Hauptsache wir leben, und viel mehr ist auch nicht als Leben nach Verlassen der heiligen Heimat. Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug, aber auf uns herabschauen tun sie schon« (DS: 9/LA), beginnt Jelineks Text und auch der zweite Teil der Leipziger Inszenierung, die einigermaßen frei mit der Textvorlage umgeht. Ein Chor aus Geflüchteten, für die wir durch Aischylos wissen, dass beherzte Rettung möglich wäre, kämpft im Heute darum, überhaupt Gehör zu finden. Das Wahrgenommenwerden ist die Existenzgrundlage und genau diese wird den Flüchtenden verwehrt. Sie verweisen intertextuell mit den Formulierungen ›heilige Heimat‹ sowie dem ›gnädigen Herabschauen‹ auf Aischylosʼ Tragödie. Bei Aischylos können die Schutzsuchenden auf die geltenden Regeln der Hikesie vertrauen. »Die intertextuelle Bezugnahme auf die Tragödie Aischylos’ ist für das Stück Jelineks insofern strukturbildend, als sie den tagespolitischen Ereignissen einen mythischen Rahmen gibt. Umgekehrt dekonstruiert der aktuelle Stoff die tradierte Fabel« (Reitani 2014/2015: 66). Jelinek konterkariert den Mythos etwa mit dem oben zitierten Wortspiel. Aus dem ›gnädigen Herabschauen‹ eines Gottes oder Herrschers wird die herablassende Unbarmherzigkeit einer Gesellschaft, die auf die Flüchtenden ablehnend ›herabschaut‹.
Die Regeln der Hikesie finden in unserer Gegenwart eigentlich ihre Entsprechung im Asylrecht und den Genfer Flüchtlingskonventionen. In der europäischen Wirklichkeit seit 2010, wenn nicht nur theoretisch, sondern konkret viele Schutzsuchende um Aufnahme bitten, sind mit dem Dublin-II-Abkommen und der Operation Triton die Regeln jedoch geändert und nicht Aufnahme, sondern Abwehr zur (neuen) Marschrichtung erklärt worden.
Der Ausgangspunkt der Flehenden ist der Zustand der nackten Existenz, von dem aus der homo sacer, der Flüchtling, um Anerkennung bittet. Die Anerkennung ist bei Jelinek an das existentielle Flehen angelehnt, als Person wahrgenommen zu werden. Also rücken die individuellen Fluchterlebnisse in den Vordergrund, wobei wiederum die Diskursbedingungen reflektiert werden, hier in Bezug auf die Glaubwürdigkeitsproblematik:
Schauen Sie, Herr, ja, Sie!, flehend wenden wir uns Ihnen zu, uns hat irgendwer gezeugt und irgendeine geboren, wir verstehen, daß Sie das überprüfen wollen, aber Sie werden es nicht können. […] Man hat uns Videos geschickt, meiner Familie, als ich sie noch hatte, inzwischen alle tot, alle tot, kein einziger noch da, ich bin der letzte […]. Schauen Sie, da werden zwei unserer Verwandten geköpft, danach waren noch einige übrig, fotografiert mit dem Handy, solange noch Zeit war, jetzt sind sie es nicht mehr, es gibt sie nicht mehr, es gibt nur noch mich, aber dieses schwer zu enträtselnde Geschick, denn wieso machen Menschen das?, erlaubt mir nicht Aufenthalt hier, schauen Sie. (DS: 11f.)
Wiederholt wird mit dem grammatischen Imperativ und durch direkte Anrede zum Hinsehen und Zuhören aufgefordert. Das »schwer zu enträtselnde Geschick« führt – so die Erfahrung des Chors der Schutzbefohlenen – nicht zur Gewährung des Aufenthalts, sodass die Sprechenden doppelt ohnmächtig vor der Gewalt im Herkunftsland sowie der bürokratischen Gewalt im Zufluchtsland stehen. Der Zufluchtsraum ist ein Europa, das eigentlich niemanden aufnehmen will, wie Zygmunt Bauman resümiert: Es finden sich »hastig errichtete Mauern, Stacheldrahtzäune, überfüllte Flüchtlingslager und Regierungen, die darum wetteifern, die Wunden des Exils und die nervenzerreißenden Gefahren der Flucht noch dadurch zu verschlimmern, dass sie die Flüchtlinge auf beleidigende Weise wie heiße Kartoffeln behandelt.« (Bauman 2016: 8)
Die Sprechakte von Jelineks Chor sind somit als Versuche der Selbstkonstitution zu verstehen, denn Jelinek billigt den Flüchtlingen die Stimme zu, die sie im Diskurs nicht haben. Ihr Text zeigt aber zugleich, dass die Erzählungen kein Echo finden: »Am Ende müssen die Flehenden zur Kenntnis nehmen, dass sie kein Gehör finden. Keine täuschende Hoffnung schließt sich ihnen auf. Und dennoch bestehen sie (und ihre Autorin) auf ihr Recht, das auch ein Recht zum Zu-Wort-Kommen ist« (Reitani 2014/2015: 69). Das Weghören und -schauen und das Überschreiben mit eigenen, europäischen Krisennarrativen negiert hingegen gleichsam die Existenz der Schutzbefohlenen.
Fazit
Die Beispielanalysen haben gezeigt, wie literarische Texte Beobachtungsinstanzen und Schnittstellen von Diskursen in Politik, der Presse und der Öffentlichkeit darstellen, indem sie im Kontext der Flüchtlingsfrage zum einen das Wegschauen, also die europäische Ignoranz gegenüber dem Schicksal der Geflüchteten, aufzeigen, zum anderen auch ein Hinsehen betreiben als Versuche, Gegennarrative über die Situation der Flüchtenden aus deren Perspektive in die öffentliche Debatte einzubringen.
Anmerkungen
1 Es gibt jedoch einen Unterschied im Umgang mit den Geflüchteten. Während den aus der Ukraine Geflüchteten mit einer enormen Hilfs- und Aufnahmebereitschaft begegnet wird, wurden die Grenzen angesichts der über Belarus nach Europa fliehenden Menschen, die überwiegend aus Nordafrika sowie aus Vorder- und Zentralasien stammen, mit Waffengewalt gesichert.
2 Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe unter Verwendung der Sigle ›GD‹ und Seitenbelege im laufenden Text zitiert.
3 Dass der weibliche Körper zum Austragungsort männlicher Machtdemonstration im Kontext von Flucht wird, veranschaulicht in eindrücklicher Weise die französische Schriftstellerin Marie NDiaye mit ihrem ebenfalls 2009 erschienenen Roman Trois femmes puissantes (Drei starke Frauen; vgl. Ndiaye 2010), für den sie in Frankreich den Prix Goncourt und in Deutschland den Internationaler Literaturpreis für die Übersetzung erhielt. Die drei Geschichten ihres Romans sind nur lose miteinander verbunden. Fokussiert werden jeweils Schwellenmomente zwischen afrikanischer und französischer kultureller Zugehörigkeit. Eine Leitfrage, die den Roman durchzieht, ist die, ob und wo es für Frauen möglich ist, ein freies, würdevolles und sicheres Leben zu führen. Vor allem die mangelnde Integrität des weiblichen Körpers steht in allen drei Geschichten zur Debatte. Für den vorliegenden Zusammenhang ist insbesondere die letzte der drei Erzählungen relevant, weil sie eine junge afrikanische Frau namens Khady Demba ins Zentrum setzt, die versucht nach Europa zu migrieren, aber auf dem Weg dahin noch im Heimatland zahlreichen vor allem sexuellen Gewalterfahrungen ausgesetzt ist und letztlich bei einem Fluchtversuch ums Leben kommt. NDiaye zeichnet exemplarisch nach, wie sich eine weibliche Biographie in Afrika gestalten kann. Aufgrund der existentiellen Abhängigkeit vom Ehemann (oder von der Familie) gibt es für eine Frau keinen Halt, wenn beides wegbricht. Eine unabhängige auf Bildung und beruflicher Entwicklung aufgebaute Existenz scheint undenkbar. In einer Prolepse, in der Khadys späteres Schicksal als Prostituierte angedeutet wird, wird jedoch vor allem die psychische Verfasstheit und das desolate Selbstbild der weiblichen Figur in NDiayes Geschichte deutlich. Diese junge afrikanische Frau kennt keinen Respekt vor der Integrität ihres Körpers oder ihres Willens, sodass sie nicht glaubt, ein Recht auf ein würdevolles und gewaltfreies Leben zu haben. So erweist sich das klaglose Hinnehmen ihres Martyriums, in das sie ihr Fluchtgefährte führen wird und an dem viele Männer mitwirken, die selbst hoffnungslos und elend irgendwo in Afrika ausharren und von einem fernen, besseren Leben in Europa träumen, während sie sich unentwegt an der jungen Frau vergehen, die in einem Hinterzimmer auf einer Matratze liegt, als einzige Möglichkeit der Selbstbehauptung. Drei starke Frauen liest sich als eine empathische Aufforderung zum Hinsehen, zum Wahrnehmen der Lebenswirklichkeit von Frauen, die aus Afrika nach Europa fliehen (wollen).
4 Auf die historischen Zusammenhänge dieser europäischen Ausbeutungsgeschichte macht Christoph Ransmayr in seiner Dankesrede zum Würth-Preis aufmerksam (vgl. Ransmayr 2018).
5 Im Folgenden wird nach dieser Textausgabe unter Verwendung der Sigle ›SG‹ im laufenden Text zitiert.
6 An anderer Stelle heißt es: »die Linie/verläuft zwischen denen, die Krieg haben/und denen, die ihn betrachten, […] nach dem Tag, an dem dreißig über den Zaun kamen/fliege ich an einem Sonntag der Ruhe/um zwölf Uhr dreißig in fünfzig Meter Höhe/mit einer Fluchtgeschwindigkeit/die ich bezahlt habe, über den Golfplatz« (SG: 32). Hatte Kuhligk an anderer Stelle die Rolle von Dokumenten und die ungleiche Bewertung von Pässen – sein deutscher Pass ermöglicht ihm Bewegungsfreiheit – deutlich gemacht, hebt der Sprecher hier mit der Wortneuschöpfung ›Fluchtgeschwindigkeit‹ auf das ökonomische Gefälle ab, sodass die Fahrt auf einem Schlepperboot, die ja ebenfalls bezahlt werden muss, mit der bequemen Flugreise eines Europäers kontrastiert wird.
7 Diese Mission begann am 1. November 2014. Es handelt sich um die Ablösung der von der italienischen Marine im Oktober 2014 initiierten Seenotrettungsoperation Mare Nostrum durch die europäische Agentur Frontex, die nunmehr die Außengrenzen absichern sollte. Am 1. Februar 2018 wurde Triton wiederum von der Operation Themsis abgelöst.
8 Im Folgenden wird nach dieser Textausgabe unter Verwendung der Sigle ›DS‹ im laufenden Text zitiert.
9 Die Schutzbefohlenen ist also in die Zeit geschrieben und um die Textteile Appendix (2015), Coda (2015), Epilog auf dem Boden (2015) und Philemon und Baucis (2016) ausgedehnt worden.
10 Der Mythos hingegen kennt ein anderes Ende.
11 Das Zitat ist eine Transkription der Aufführung des Schauspiels Leipzig unter der Regie von Enrico Lübbe. Im Folgenden wird nach dieser Quelle unter Verwendung der Sigle ›LA‹ im laufenden Text zitiert. Vgl. Aischylos/Jelinek 2016.
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