Anti-Requiem auf einen fremden Vater
Überlegungen zum Zusammenhang von Motiven der Fremdheit und formalästhetischer Verfremdung in Carmen-Francesca Bancius Langgedicht: Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten! Tod eines Patrioten
AbstractThis article discusses different facets of foreignness in Carmen-Francesca Bancius’s long poem Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten! Tod eines Patrioten (Farewell, comrades and beloved. Death of a patriot), which made it onto the longlist for the German Book Prize in 2018.
In addition to the central (foreignness) motifs, which are already indicated in the title – the death of the father and (Romanian) patriot, his self-written eulogy to his comrades and beloved –, the author chooses a relatively ›foreign‹ aesthetic form: a type of anti-requiem in the form of a long poem as a countermeasure. The article attempts to show the connection between the autobiographical specifications of the author, the content-related motifs of the work and the literary type of text or formal aesthetic alienation of the structure of the oeuvre.
TitleAnti-requiem to a foreign father – Reflections on the connection between motifs of strangeness and formal-aesthetic alienation in Carmen-Francesca Bancius’s long poem Farewell, comrades and beloved. Death of a patriot
Keywordsthanatology; obituary; otherness; family novel; literature of migration
Doch was sagte dir einst Zarathustra? Dass die Dichter zu viel lügen? ‒ Aber auch Zarathustra ist ein Dichter.
(Nietzsche 1883: 382)
Einführung
Im Fokus dieses Beitrags stehen unterschiedliche Ausformungen von Fremdheit und Verfremdung in Carmen-Francesca Bancius’ Werk Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten! Tod eines Patrioten, das sich 2018 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises befand. Ausgangspunkt der Überlegungen bildet das im Werk geschilderte Sterben des Vaters der Protagonistin und die damit verbundenen Reflexionen über beider Leben sowie eine lebenslange (Anti-)Bindung.
Die hier angestellten Überlegungen setzen am Titel des Werks an, einer vom Vater auf sich selbst verfassten Trauerrede, die die Tochter auf dessen Beerdigung vortragen soll. Zudem verfasst er auch noch eine Traueranzeige auf sich selbst, so dass der Tochter »nichts mehr zu tun bleibt, als zu trauern.« (Banciu 2018: 289). Die Trauerrede ist ein performatives Ritual, während die Traueranzeige eine statische Form des Gedenkens bzw. Kommemorierens vergleichbar einem Epitaph o.Ä. darstellt. Paradoxerweise spricht der Vater »vom Tod selbst nicht« (ebd.: 281).
Die Tochter, zugleich die Ich-Erzählerin, weigert sich aber, den Auftrag des Vaters auszuführen. Der Text lehnt sich stark an die Lebensgeschichte der Autorin an. Um einer zu großen autobiographischen Nähe zu begegnen, wählt Banciu eine eher ungebräuchliche, ›fremde‹ ästhetische Form: Aus autobiographischen Versatzstücken entwickelt die Autorin eine Art Anti-Requiem in Form eines Langgedichts. Der Begriff wird hier im ›klassisch‹ theologischen respektive musikwissenschaftlichen Sinne gebraucht, im Sinne des »Requiem aeternam dona eis, Domine« – »Ewige Ruhe schenke ihnen, o Herr«. Der Hinweis sei erlaubt, dass sich kaum Belege zu einem literaturwissenschaftlichen Begriff finden (vgl. als Gegenbeispiel dazu Dalos 2018).
Anhand der Betrachtung letzter Begegnungen wird im Folgenden versucht, den Konnex von autobiographischer Vorgabe der Autorin, inhaltlicher Motivik des Werks und literarischer Textart bzw. Verfremdung im formalästhetischen Sinne der Struktur des Œuvres aufzuzeigen.
Die hier zur Begründung stehende These lautet: Im Text finden sich starke autobiographische Bezüge zum Leben der Autorin. Durch die formale Darstellungsweise bzw. unter Verwendung einer bestimmten Textart enträt das Werk der Gefahr eines vorschnell zugeschriebenen Biographismus und wird zu einem ›ästhetischen‹, fiktiven Werk im Sinne eines Vexierbilds. Eine strukturell motivische Analogie hierzu findet sich bei Simmel (vgl. 1995) und seiner Metapher vom Bilderrahmen, der einer realen wie zugleich einer anderen, künstlerischen Ebene angehört. Auf diese Weise eröffnet sich eine Doppelstruktur und die Rückbezüglichkeit des literarischen Bilds: Der Topos im wörtlichen wie übertragenen Sinne fungiert als konkreter Ort wie als künstlerischer Raum zugleich. Eine ähnliche Unterscheidung, wenngleich unterschiedlichen wissenschaftlichen Provenienzen entstammend, findet sich beim literatursemiotischen Ansatz Lotmans (vgl. 1993) sowie beim phänomenologischen Konzept von Waldenfels (vgl. 2009). Der Tod, besser: der Prozess des Sterbens, wird im Roman als das Betreten eines »Zwischenraums« oder »Nichtraums« bezeichnet (Banciu 2018: 291).
Daran anknüpfend wird von der Voraussetzung ausgegangen, dass sich über das eigene Leben – und in diesem Fall dessen tragische Verstrickungen – nur unter einer Art von Autorinnen-Maske in Form der Fiktion schreiben lässt (vgl. Gruenter 1992; Wolting 2020). Es bietet sich die Analogie zu dem alten Topos an, wonach aus den ›tiefsten Schmerzen die schönsten Lieder‹ entstehen, was aber keineswegs einem natürlichen Automatismus, sondern strengem Formwillen entspringt. Zu gleichen Teilen ist einschränkend zu bemerken, dass sich nach übereinstimmender Position einschlägiger Studien der modernen Gedächtnispsychologie (u.a. Schacter 1998; Markowitsch 2000) über das eigene Leben, ganz im Sinne von Max Frischs berühmter Formulierung (vgl. Frisch 1964: 8), nur als Erfindung oder, anders ausgedrückt: als Fiktion sprechen lässt, wie es zudem jüngere philosophische Veröffentlichungen etwa von Gabriel (vgl. 2020) oder Liessmann (vgl. 2021) nahelegen. Diese Art der Fiktionalisierung stellt bereits eine erste Verfremdung dar, weshalb sie u.a. von Platon als einem der bedeutendsten Verfechter epistemologischer Wahrheit in der berühmten Stelle in der Politeia (vgl. Platon 1993b: 407f.), aber auch im Dialog Ion (vgl. Platon a 1993: 113) in Hinblick auf die Dichter sehr bekämpft wurde. Von Platon abgesehen ist allen oben genannten Positionen gemein, dass die Fiktion in jedmöglicher Darstellung nicht zu hintergehen ist und im künstlerischen bzw. literarischen Werk noch einmal potenziert wird, wobei sie sich dort wenigstens als solche zu erkennen gibt. Selbst wenn man deshalb geneigt zu sein scheint, den Unterschied zwischen (auto)biographischer Schilderung und ästhetischem Kunstwerk nicht als prinzipiell, sondern nur als graduell einzuordnen, so ist dennoch von einer anderen Seinsweise auszugehen (vgl. Heidegger 2012). Insofern lässt sich bereits hier ein ›erstes Scharnier von Verfremdung‹ erkennen.
Es ist vorauszuschicken, dass die hier zugrunde liegende Bedeutung von Verfremdung nichts mit der prominentesten Verfremdungsposition, mit Brechts V-Effekt, zu tun hat, sondern sich in erster Linie an Positionen des französischen Surrealismus, aber auch an Theorien des russischen Formalismus anlehnt. Nach Überzeugung des Verfassers wird dem Zusammenhang von formalästhetischen Kategorien und Konzeptionen oder Motivik von Fremde innerhalb von Fremdheitsstudien zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Allerdings endet die Fiktion oder das Fiktionalisieren bei der Beschreibung eines realen Sterbeprozesses, obwohl »Vater lange glaubt, der Tod ist eine Fiktion« (Banciu 2018: 241). »Lebt wohl« indiziert die Abschieds- oder Trauerrede. Darüber hinaus markiert der Titel unterschiedliche Zuschreibungen gesellschaftlicher wie kultureller Art: »ihr Genossen und Geliebten« weist die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bzw. das »Primärkollektiv« (Hansen 2009: 45-47) Geschlecht aus, der »Tod« bedeutet jene angedeutete »letzte Fremde« und »Patriot« eröffnet die kulturkontrastive oder der Xenologie zugehörige wie die habituelle Ebene im Sinne bestimmter gesellschaftlicher bzw. kultureller Attitüden. Als direkte Gegenführung zu dem oben Ausgeführten sei darauf hingewiesen, dass der Tod allerdings real und nicht fiktional daherkommt. Andererseits lässt sich festhalten, dass gemäß einschlägigen thanatologischen Forschungen dieses letzte Mysterium nur erzählend darstellbar ist (vgl. z.B. Assmann 1980 u.a.). Aus diesem Grund werden die ›biographischen Fakten‹ – wenn man denn davon überhaupt sprechen mag – in die literarische Form des Langgedichts gebracht.
Trauerrede und Langgedicht
Der Tod als letzte fremde Begegnung
Grob skizziert thematisiert der Text im Grunde ein über Monate sich hinziehendes Abschiednehmen einer Tochter, die im »Ausland« lebt, von ihrem im Sterben liegenden Vater, »der sich mit dem Sterben Zeit ließ«, so dass »ich nicht mehr warten konnte« (Banciu 2018: 7, 263).
Der Tod, jene letzte Instanz, wird schon in Shakespeares Hamlet in der klassischen Schlegel’schen Übersetzung als »das unentdeckte Land, von des Bezirks kein Wanderer wiederkehrt« (Shakespeare 1962: 42), als letzte Fremde räumlich markiert. Im Text selbst wird wiederholt das Motiv des Todesengels (vgl. etwa Banciu 2018: 10 et passim) und des Todesraben herangezogen, was die Assoziation mit ›Rabenvater‹ nahelegt, auch wenn diese Bezeichnung hier postmortal gemeint ist.
Auf Basis dieser biographischen wie textuellen Vorgabe stellt sich die Frage nach der Bezüglichkeit verfremdender literarischer Darstellungen auf der einen sowie Alteritätskonzeptionen auf der anderen Seite. Wie oben bereits erwähnt, spielen dabei formalästhetische Kategorien oder ›Techniken‹ eine besondere Rolle, nicht als ›manieristische Spielerei‹, sondern dem Plot selbst Rechnung tragend, der im Folgenden kurz skizziert werden soll.
Zur Einordnung des Werks in die Trilogie
Kurz umrissen geht es inhaltlich um eine Erzählung des Sterbens eines rumänischen Vaters, eines ehemals ranghohen kommunistischen Funktionärs, der in einer Kleinstadt lebt, dort sogar Bürgermeister wird, und der Erzählerin, einer in Berlin mit ihren drei Kindern lebenden Schriftstellerin und ›Exilrumänin‹, die im Verlaufe des Textes immer wieder an das Krankenbett des Vaters gerufen wird. Von Zeit zu Zeit wird sie auch von einem ihrer Kinder begleitet, vor allem vom ältesten Sohn, weil »der Vater immer einen Sohn wollte« (Banciu 2018: 76). Am Sterbebett trifft sie auf zwei der Geliebten des Vaters, eine ehemalige und die aktuelle: Rebeca, die langjährige Sekretärin des Vaters und ›Freundin der Familie‹, und Daria, eine Krankenschwester, die vor mehr als dreißig Jahren die Mutter der Erzählerin in den Tod begleitet hat und die kurz nach dem Vater selbst an Krebs stirbt. Die Mutter nahm in der kommunistischen Partei Rumäniens, der CPR, ebenfalls eine hohe Funktionärsstelle ein, war zunächst für die Verstaatlichung von Banken, später für die Bildung in Hinblick auf die »Schaffung des neuen Menschen« (Banciu 2018: 55, 100, 133, 173, 188) zuständig. Die Aufgabe versuchte sie mit der Erziehung der Tochter in Einklang zu bringen, was sich u.a. darin zeigt, dass die Mutter (wie auch der Vater) der Tochter gegenüber handgreiflich und gewalttätig wird.
Die Geschichte wird in Form eines inneren Monologs der Ich-Erzählerin geschildert, besser gesagt eines Bewusstseinsstroms, in den zum Teil die Perspektiven anderer Figuren, aber insbesondere jene des Vaters (wie die der Geliebten) zu großen Teilen, beschreibend und unkommentiert, miteinbezogen werden. Am Ende des Werks »verpasst« die Erzählerin nicht ganz ungewollt den Tod des Vaters, während sie sich in der »schönsten Stadt der Welt« aufhält (was sie den »Tod in Venedig« nennt), wohin sie zu einem Schreibworkshop an der Universität eingeladen ist. Sie »rechtfertigt« ihre Abwesenheit beim Tod des Vaters mit der Verpflichtung eines Projekts: »Ich sollte den Studenten etwas beibringen.« (Banciu 2018: 341, sowie 289: »Nein/Ich konnte nicht mehr warten.«) Die Ich-Erzählerin ist sich aber über ihren Selbstbetrug im Klaren, als die Ärzte ihr sagen, dass es dem Vater besser geht, »will sie daran glauben«, weil es ihr »passt, daran zu glauben« (Banciu 2018: 295).
Dieser Text, der auf der Titelseite des Werks nicht als Roman bezeichnet wird, stellt den dritten Teil einer Familientrilogie dar: Die ersten beiden Texte, von der Autorin als Romane bezeichnet, betreffen die Erzählerin selbst, der erste mit dem sprechenden wie programmatischen Titel Vaterflucht von 1998 (vgl. Banciu 2009), der zweite Band von 2007 betrifft das Sterben der Mutter und heißt Das Lied der traurigen Mutter (vgl. Banciu 2007). Alle Teile der Trilogie sind auf Deutsch verfasst. Der Erste ist zugleich das erste Werk, das Banciu auf Deutsch geschrieben hat. Die drei unterschiedlichen Texte sind von autobiographischen Versatzstücken durchsetzt. Formal lässt sich innerhalb der Trilogie eine Entwicklung von einer relativ offenen Struktur hin zu einer, aus der Perspektive der Prosa betrachtet, relativ strengen Form, dem Langgedicht, beobachten. Trotz dieser zahlreichen autobiographischen Bestandteile ist der innerhalb der narratologischen Forschung inzwischen zum Gemeinplatz gewordene Aspekt zu berücksichtigen, wonach die Erzählerin nie mit der Autorin identisch ist.
Zugleich deutet sich bereits in den ersten beiden Teilen eine Doppelperspektive an: zum einen eine geradezu biografische Besessenheit in Hinblick auf ihre Familiengeschichte, die zum anderen im Verlaufe der »Handlung« in allen drei Teilen ästhetisch verfremdet wird, was sich etwa auch in der formalen Struktur des zweiten Bands äußert, wenn beispielsweise relativ ungewöhnlich im Werk die Erzählerin die Autorin trifft, die ihr dann plötzlich zur Protagonistin des Romans wird. Als weitere Besonderheiten können etwa die refrainartigen Liedformen in Form von Wiederholungen etc. gelten. Insofern ist der zweite schon lyrischer als der erste Band, wo noch ›klassisch allwissend‹ erzählt wird.
Im oben angedeuteten Sinne oszilliert die Erzählerinstanz zuweilen zwischen Erzählerin und Protagonistin bzw. Autorin. Es sei noch einmal rekapitulierend festgehalten: Fast alles, was hier inhaltlich dargestellt wird, weist Referenzen auf die Wirklichkeit auf, etwa dort, wo die »Erzählerin« schreibt: »Ohne Vater hätte es den Roman [hier spricht sie doch von Roman; S.W.] nicht gegeben.« (Banciu 2018: 52) Dennoch wird hier der Anspruch eines ästhetischen Kunstwerks aufrechterhalten (und eben nicht einer Autobiographie) und das ist unmittelbar mit den verschiedenen Facetten der Verfremdung und Motiven der Fremdheit verbunden.
Die andere Kategorie der Fremde im Sinne des Konflikts sozialer Rollenzuschreibungen
Wollte man versuchen, die Struktur des Werks in einem Satz auszudrücken, würde dieser in etwa wie folgt lauten: Die Autorin schreibt als Erzählerin in einem bestimmten Alter (hier wird Identität u.a. als Gruppenzugehörigkeit verstanden) in einer Fremdsprache (ethnisch) sowie fremden Sprache (sozial, politisch) in einer verfremdenden Form (dem Langgedicht, eine dem Leserkreis heute fremd erscheinende Form) über ihre ihr fremd gebliebenen Eltern, in einem anderen Land lebend, mit unterschiedlichen Habitusformen und einem anderen ›Werteraum‹ als ihre Eltern aufwachsend, über den sich im Sterbeprozess befindenden Vater mit der Intention der Darstellung ›nachgetragener Fremdheitsbegegnungen‹ und dem Wunsch der psychologischen Bewältigung dieser ›Fremdheit zwischen ihnen‹, was sich aber als unmöglich erweist, weil der Vater sich bis zu seinem Ende nicht drauf einlassen will.
Von hier aus lassen sich weitere konkrete Bezüge zu Konzepten von Fremdheit herstellen, die am Text aufgezeigt werden sollen. Angedeutet wurde bereits der Zusammenhang von Fiktion und Familientrilogie, die fremde Form zur Herausstellung des inkompatiblen absolut Fremden (im Sinne von Lévinas 1984; Waldenfels 2009) sowie das Sterben, den Tod, als die letzte ›fremde Begegnung‹.
Biographischer Bezug (1)
Das Motiv der ›fremden Familie‹
Im Werk von Banciu wird die von ihr selbst autobiographisch erfahrene Fremde in der Familie noch mal potenziert: zunächst durch die Fremdsprache, dann aber auch in der Darstellung des Fremdelns in der Familie. Erdheim (vgl. 2011) stellt dieses Phänomen ethnopsychoanalytisch in Zusammenhang mit konkreten Sozialisationsprozessen. Er ergänzt die erste (in der Familie) und die zweite (in Schule und Gesellschaft) um eine dritte Art von Sozialisation in der Begegnung mit dem kulturell Fremden. Diese Art kultureller Fremde bzw. die Begegnung(en) damit über eine längere Zeit bewirken die Herausbildung einer anderen Habitusform und schaffen damit zugleich einen anderen ›Werteraum‹ als jenen, der in der eigenen Familie vorherrscht. Das Fremdeln in der Familie wirkt nach Erdheim (vgl. ebd.) im Normalfall konstruktiv und konstitutiv für jeden weiteren kulturellen wie individuellen Entwicklungsprozess: Über die fremd werdende Familie werden verschiedene gesellschaftliche Rollen vermittelt.
Die Kollektivforschung hat uns zudem darüber belehrt (vgl. aber auch u.a. Goffman 2003), dass die verschiedenen gesellschaftlichen Rollen zum Teil miteinander konkurrieren, wie hier die Rolle des Vaters und jener des Parteifunktionärs: Der (reale wie fiktive) Vater verliert seine gesellschaftliche Stellung aufgrund der politischen Aktionen seiner Tochter gegen den Kommunismus und spricht über Jahre nicht mehr mit ihr. Hier zeigt sich eine Art familiäre wie gesellschaftliche Fremde (im [Nicht-]Vertreten der Ideale der oder des jeweils anderen), was zu einem Konflikt mit der Tochter führt. Darüber hinaus eröffnet sich mit der Haltung des wiederum realen wie fiktiven Vaters als rumänischer Patriot die Ebene der (ethnisch)kulturellen Fremde, eine Ebene, die wiederum für die Tochter nicht nachvollziehbar ist. Es lässt sich nur darüber spekulieren, ob sie aus dieser Vaterfluchtbewegung heraus ihre Familientrilogie in deutscher Sprache schreibt.
Festzuhalten bleibt, dass der zum Teil versuchte Dialog zwischen beiden selbst im Angesicht des Todes misslingt, was wiederum Auswirkungen auf die Beziehungen zu anderen Personen hat (den Kindern der Erzählerin, den Geliebten etc.). Der Konflikt innerhalb der Familie ist nicht zu lösen. Aus diesem Umstand heraus entsteht der Impuls für das Werk, worauf die Erzählerin selbst hinweist. Auf dieser Grundlage sind die biographischen Bezüge noch einmal genauer zu beleuchten.
Biographischer Bezug (2)
Leben in der fremden Kultur, Schreiben in der Fremdsprache
Da ist zunächst die Autorin selbst, 1955 in Lipova (Westrumänien) geboren, die nach diversen Veröffentlichungen in ihrer rumänischen Muttersprache seit 1998 in deutscher Sprache schreibt, ihren »autobiographischen Stoff«, den dritten Teil ihrer Familientrilogie, in ein knapp 370 Seiten langes Gedicht kleidet und auf diese Weise formalästhetisch verfremdet.
Die Autorin hat inzwischen in beiden Sprachen Werke verfasst. Sie gehört zu jener Gruppe SchriftstellerInnen, die auf Deutsch schreiben, obwohl Deutsch nicht ihre Muttersprache ist und sie Deutsch zum Teil erst relativ spät gelernt haben. Schon früh kommt sie mit dem kommunistischen Regime in Rumänien in Konflikt: Nachdem ihr 1985 der Internationale Kurzgeschichtenpreis der sauerländischen Stadt Arnsberg verliehen wird, wird sie in Rumänien mit einem fünfjährigen Schreibverbot belegt. Nach der Wende siedelt sie 1990 von Rumänien nach Berlin über. Es muss noch erwähnt werden, dass sie sowohl Kirchenmalerei in Arad im Norden des Banats als auch Außenhandel an verschiedenen Fachhochschulen in Bukarest studiert. Was auf den ersten Blick paradox erscheint, wird bei genauerem Hinsehen verständlicher: Nachdem Banciu in ihrer Heimatstadt Demonstrationen organisiert hat, wird sie deshalb vom Geheimdienst bespitzelt und verhört. Nachdem ihr nahegelegt wird, die Stadt zu verlassen, versucht sie in Bukarest (wo sie wegen der Anonymität der Stadt mit weniger Schikanen zu rechnen hat und zunächst tatsächlich weniger behelligt wird) einen Studienplatz in Kunstgeschichte zu ergattern. Allerdings wird ihr dieser Platz verwehrt, und so bleibt ihr nur übrig, sich für ein anderes Fach einzuschreiben. Von Anfang an entwickelt sie aber ein besonderes Interesse am Geschichtenerzählen und Fresken bemalen im bekannten orthodoxen Erzbistum. Während ihres Studiums in ihrer Heimatstadt wird ihr die Möglichkeit eröffnet, schon in ihrem vermeintlich späteren Beruf zu arbeiten, was ihr zugleich erlaubt, zusammen mit anderen KommilitonInnen, sich lange vom Geheimdienst unbehelligt zu verwirklichen. Im Weiteren gilt es nun, die oben genannten theoretischen Vorgaben der Kriterien am Text deutlich zu machen. Auf die Bedeutung des Titels ist dabei bereits hingewiesen worden.
Der Text als Langgedicht
Wie schon erwähnt, gilt das Langgedicht zunächst ganz simpel als eine zugleich offene wie strenge Form: offen in dem Sinne, dass es nicht an eine Reimform gebunden ist, streng im anderen Sinne, da es sich dennoch um gebundene Sprache handelt. Schon beim flüchtigen Blick auf den Text fällt auf, dass er aus reimlosen Versen ohne Interpunktion in unterschiedlichen Strophen- und Zeilenlängen besteht und eine besondere Art von Rhythmus und Tonalität erzeugt.
Alle Versanfänge sind großgeschrieben, selbst die Adjektive, Präpositionen, Konjunktionen oder Verben. Damit ist zum einen eine besondere Form der Wort- und Wortartengleichstellung gegeben. Auf der anderen Seite entsteht durch die suggestive Wiederholung, oft mit kleinen Veränderungen, eine Art von unendlicher Suada, die den vom Vater vorgegebenen Auftrag der Trauerrede formal aufnimmt, ihn aber dann inhaltlich ganz anders ausführt. In manchen Passagen erinnert der Text auch im Sinne des Lamentierens an eine Art von Trauergesang oder sogar an ein Gebet.
Die formale, sich auf den ersten Blick widersprechende Figur schien für die Autorin der angemessene formalästhetische Rahmen zu sein. Der zentrale programmatische Text zum Langgedicht stammt von Höllerer aus dem Jahre 1965, worin er Thesen zum langen Gedicht aufstellt. Dazu hebt er folgende Aspekte besonders hervor: Zum einen geht es nicht um die Länge des Gedichts, sondern um eine bestimmte Art des Bewegens in der Welt: »Das lange Gedicht unterscheidet sich nicht nur durch seine Ausdehnung von den übrigen lyrischen Gebilden, sondern durch seine Art sich zu bewegen und da zu sein, durch seinen Umgang mit der Realität.« (Höllerer 1965: 128) Dieser veränderte Umgang mit der Realität lässt sich als besondere Form von Verfremdung festhalten. Im Text finden sich dazu weitere Stilmittel wie jenes der Wiederholung oder einer suggestiven, lied- und vershaften Sprache, die die Welt auf eine bestimmte Weise neu ordnet.
Zum anderen verweist Höllerer darauf, dass »das lange Gedicht im gegenwärtigen Moment, schon seiner Form nach politisch [ist]; denn es zeigt eine Gegenbewegung gegen eingegrenzte Kästchen und Gebiete« (ebd.: 129). Bancius Werk ist dann insofern politisch, als es die unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Aktivitäten zwischen Tochter und Vater beschreibt, die sich auch mit dem Tod des Vaters bzw. dessen Sterbeprozess nicht versöhnen lassen. Im Text heißt es: »Über seinen Tod hinaus/Ist Vater ein grausamer Mann/Hungrig nach Opfern.« (Banciu 2018: 288) Aber nicht nur der Vater ist grausam, sondern auch der Abschied von ihm, »weil er die anderen dazu bringt, ihn vorher zu verlassen.« (Ebd.: 294) Weil er sie mit seiner aggressiven Art auf dem Sterbebett abstößt, verzichten sowohl der Enkel als auch die frühere Geliebte Rebecca darauf, ihn weiter zu besuchen.
Zur Form der Trauerrede im Text
Es gibt keine eigentliche Theorie der literarischen Trauerrede. Dennoch gibt es Hinweise auf eine Art Prolegomenon zur Trauerrede (vgl. Assmann 2000; Macho 2000; Wolting 2014). Kurz definiert, ließe sich von einem performativen Akt (vgl. Fischer-Lichte 2004: 67) als Sterberitual sprechen. Obwohl es keine explizit literaturwissenschaftliche Theorie dazu gibt, hat die Trauerrede dennoch schon seit der Antike eine sehr große Bedeutung als Lamento. Dabei ist mit Freud (vgl. 1991a) sehr deutlich zwischen einer Rede an die Trauernden und einer Rede im Sinne der oder des Toten zu unterscheiden, wie es z.B. Spillner (vgl. 2002) oder Kotthoff (vgl. 2003) linguistisch untersucht haben. Im vorliegenden Fall ist der Versuch einer Verbindung von beidem unternommen worden. Bei der klassischen Figur der Trauerrede ist davon auszugehen, dass sie nach dem Tod von einer mit dem oder der Toten sehr verbundenen Person konzipiert und gehalten wird. In Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten! formuliert der Vater in einer Trauerrede auf sich selbst, die er auch als »Abschiedsballade« (Banciu 2018: 282) bezeichnet, worin er die wichtigsten Facetten und Stationen seines Lebens nennt und die er in Bezug auf die Genossen und Genossinnen der kommunistischen Partei Rumäniens, seine Frauen und Geliebten und schließlich Rumänien, sein ›Vaterland‹, immer wieder perfektioniert. Jedoch tauchen sie genau in dieser Reihenfolge auf. Bezug wird hier im Sinne der Kollektivtheorie auf die verschiedenen Rollenzuschreibungen genommen. Zugleich dreht die Erzählerin die Funktion der Trauerrede um, und damit den alten klassischen Satz De mortuis nil (=nihil) nisi bene, und nutzt sie zu einer persönlichen Abrechnung mit dem Vater.
Am Ende wird die Trauerrede noch dadurch weiter verfremdet, dass sie von einem Vater über sich selbst geschrieben wird: nicht ein Nekrolog auf den Toten, sondern eine von ihm, für sich selbst verfasste Trauerrede, die seine Tochter halten soll. Abgesehen von der Missachtung der Person bzw. Figur der Tochter, wird zugleich der Begriff der Trauerrede völlig zweckentfremdet bzw. ad absurdum geführt. In dieser Umformung der Trauerrede spielt eine besondere Motivik eine exponierte Rolle.
Zur Todesmotivik
Der Todesengel und der Rabe Metatron
Der Tod wird bereits zu Beginn des Textes als Todesengel personifiziert, wo es heißt:
Der Todesengel erschien drei Tage nach Ostern
Er kam als junger Mann in einem Blechkarren
Vater war Kartoffeln kaufen
Vater hat den Engel überhört
Vater hat den Engel übersehen
Der Engel rollte auf ihn zu in seinem Karren
Ließ Blitz und Donner über ihn fallen
Und spuckte Wut aus seinen sieben Köpfen
Vater hat den Engel überhört
Vater hat den Engel übersehen
Vater hielt die Kartoffeltüte fest
Vater flog empor
Dann fiel er zu Boden
Die Finger um die Henkel der Tüte gekrampft
Die weiße Tüte zerfetzt
Verletzte Kartoffeln bluteten am Straßenrand
Eines Tages ist Vater Kartoffeln kaufen gegangen
Und kam nie wieder zurück in sein Zuhause
Kartoffeln und Brot
Kartoffeln und Brot am Straßenrand
Mehr hat man mir nicht erzählt. (Ebd.: 10)
Die hier zitierte Passage ist eine scheinbare Addition der auf einen Moment komprimierten Szene. In äußerster Verknappung und liedhafter, refrainartiger Weise wird die Beschreibung dieses entscheidenden Moments zugespitzt. Auch inhaltlich wird mit dem Mittel des Kontrasts gearbeitet, hier der Sterbende, dort Symbole des Lebens, das Brot und die Kartoffeln, die allerdings auf der Straße ›(ver)bluten‹.
Dem Todesengel wird der Rabe Metatron an die Seite gestellt, der in dem Text eine Art Eigenexistenz führt. Der Begriff Metatron ist eine Reminiszenz an ein engelartiges Wesen, das sowohl in der jüdischen als auch in der islamischen Mythologie auftaucht. Sein Charakter ist es eigentlich, keinen besonders explizierten Charakterzug zu haben, weshalb sich die Autorin im Werk die Freiheit nimmt, das Motiv in einer neuen Weise auf den Vater zu beziehen. Obwohl dieses mythologische Wesen in einigen literarischen Texten rezipiert ist, bleibt es stets unbestimmt. Deshalb bietet sich der Rabe für die literarische Rezeption geradezu an.
Im Text wird der Vogel als der »Rabe der letzten Vernunft« bezeichnet in Anklang an Kants Kritik der reinen Vernunft; der Tod gilt somit als Einwand gegen jedes aufklärerische Denken. Die Beschreibung des Vaters als Rabe geht von der Wahrnehmung der Ich-Erzählerin aus, die gleichzeitig darauf verweist, dass sich der Vater die Existenz nach seinem Tod offenbar immer so vorgestellt hat:
Nach dem Tod wird er ein Rabe sein
So hatte er sich das vorgestellt
Nach dem Tod wird er ein Rabe sein
[…]
Mit pechschwarzem, schimmerndem Federkleid
Nach dem Tod wird er ein Rabe sein
Mit glänzendem Schnabel
Die Füße mit Goldschuppen geziert
Nach dem Tod wird er ein Rabe sein
Und so ist es auch gekommen (ebd.: 334).
Fast beschwörend sentenzenhaft wird der Satz wiederholt, der Rabe wird zunehmend detaillierter beschrieben, der Rabe, der in einen Zusammenhang mit dem Todesengel Metatron gestellt wird und der in verschiedenen Mythologien so unterschiedliche Bedeutung haben kann. Ungewöhnlich ist der Zusammenhang zwischen dem Motiv des Raben und Metatron:
Der Rabe Metatron sitzt auf der Stromleiter
Über sich hört er die Engel streiten
Einen Kanon, einen Chor
Oder eher einen Dialog hört er
Und Schimpfen und Streiten
Er will sich erheben
Aber die Flügel sind schwach
Der Schnabel zu schwer
Die Füße kleben an der Leitung
Die Engel streiten und fliegen an ihm vorbei (ebd.: 169).
Die Beziehung zwischen dem Raben und den »schwarzen Engeln« (ebd.) wird immer wieder von neuem im Text aufgenommen und auf unterschiedlichen Referenzebenen eingesetzt. Insofern wird hier erneut eine (literaturmotivische) Vorlage ästhetisch verfremdet, so weit, dass es sich schließlich nicht mehr um Engel handelt, sondern um »die Wesen, die Engel verschluckt haben/Die ihren Mantel aus Federn gestohlen haben/Die ihren Mantel aus Federn selbst angezogen haben« (ebd.: 333). Auf diese Weise erfolgt die Mutation vom Engel zum Vogelwesen, zu jenen Raben, die »mit den Flügeln flattern/Und schreien« (ebd.: 334). Diese dunklen Wesen, die am Schluss doch wieder »schwarze Engel« genannt werden, kündigen die Finsternis des Todes an. Gleichwohl werden sie, wiederum in symbolischen vierzig Tagen, um den Vater flattern, ein letztes Mal mit Metatron kämpfen, bis der Vater unten im Sarg selbst zum Raben geworden ist (vgl. ebd.: 345). Dabei wird sich »die Sonne zu seinem Begräbnis verfinstern« (ebd.). In so eindringlich schönen wie suggestiven Bildern verabschiedet die Protagonistin den Vater in den Sarg, d.h. in den Tod, woran noch ein letztes Mal die große Bedeutung dieses so fremden Vaters für die Protagonistin deutlich wird: Der Vater ist zum Ende hin selbst die pure Verwandlung, zu einer unauslotbaren Fremde geworden: »Vater wird heute begraben/Ein Teil von Vater wird heute begraben/An seinem Begräbnis ist Sonnenfinsternis« (ebd.: 334).
Resümee
Im Werk von Banciu werden das Sterben eines Vaters und all seine damit verbundenen Implikationen in Bezug auf sein Leben (Beziehung zur Familie, zu den Geliebten, zu seiner politischen Tätigkeit, die mit seinem Beruf verbunden ist, in seiner Rolle als Vater und Geliebter) ästhetisch durchgespielt im wahrsten und übertragenen Sinne von Performation und Permutation. Der Text legt nahe, ihn zu deklamieren, und wirkt auf diese Weise in erster Linie durch seine formale Struktur bzw. Textart und erst dann im Sinne eines relativ banalen Plots. Die Performativität des ›Textes‹ (vgl. Fischer-Lichte 2004, die einen eher antihermeneutischen, erfahrungsbezogenen Ansatz vertritt) und die lyrische Struktur des Langgedichts erlauben zum einen die Distanz zum autobiographischen Inhalt, zum anderen ästhetisieren sie die Geschichte in folgendem Sinne:
Die Form des Langgedichts zeigt sich in den Sätzen in Versform, ohne Punktation, in zum Teil strukturell einfachen Hauptsätzen, die in jeder Zeile wieder neu beginnen. Diese erschaffen und verfremden die an sich schon unglaublich suggestive Sprache, die dadurch zugleich sehr eingängig und wahrhaftig wird und Vorbilder in klassischen bzw. antiken Klagegesängen hat.
Das Requiem auf den Vater verwandelt sich in Form der von ihm selbst geforderten Trauerrede in eine Art Abrechnung mit dem Toten seitens der Tochter. Die Tochter antwortet im Text schon einem vermeintlich Toten, aus einer Art Zeit-Raum im wortwörtlichen Sinne, aus einer fremden Zukunft, »in der es Vater nicht mehr geben/Eine Inszenierung, die Vater nicht mehr sehen wird« (Banciu 2018: 291).
Auf diese Weise verlagert sich auch strukturell der schon von Freud (vgl. 1991b) herausgestellte Schwerpunkt vom Sterbenden zur Trauernden. Es kann schon deshalb im Text keine Versöhnung zwischen dem Sterbendem und der Trauernden geben, weil die Schilderung der Tochter dahin geht zu behaupten, dass der Vater nichts von der Situation, in der er sich befindet, ja darüber hinaus nichts von seinem Leben, begriffen hat, das auf Lebenslügen aufbaute, weshalb es schon ziemlich zum Ende des Werks heißt, »dass er seinen Tod inszenierte, wo er mit dem Leben noch nicht fertig war« (Banciu 2018: 293).
Zahlreiche Motive wie der Todesengel Metatron, der Rabe des Todes, das darüber hinaus zu erwähnende Sterbefloß (vgl. ebd.: 96, 125f.) lassen einen starken Bezug zu mythologischen Vorbildern deutlich werden, vor allem der mythologischen Figur des Fährmanns Charon, wobei der Vater zu seinem eigenen Fährmann werden möchte.
Letztendlich deckt die dargestellte Perspektivierung (wie also die Beziehung und Bindung des Vaters aus unterschiedlichen Positionen heraus im Sinne des lyrischen Ichs oder, wenn man so will, der personalen Erzählerin charakterisiert wird) die Lebenslügen des Vaters gnadenlos auf (zum Teil auch jene der anderen Figuren). Es sind im Grunde etwas einfach gestrickte psychologische Charaktere (etwa die Genossen und Geliebten), denen ihr Selbstbetrug selbst im Angesicht des Todes bzw. im Prozess des Sterbens nicht aufgehen will. In umgekehrter Relation steigt die Angst vor dem Tod umso stärker. Eine Versöhnung im Sinne eines Verständnisses des ganz Anderen (etwa im Sinne von Lévinas, vgl. 1984) bleibt ausgeschlossen.
Umgekehrt muss aber genauso festgehalten werden, dass auch hier über das letzte große Geheimnis des Sterbens bzw. des Todes nur erzählend-lyrisch gesprochen werden kann, da sich der Tod jeder beobachtenden Teilnahme oder empirischen Untersuchung entzieht (vgl. Macho 2000), frei nach dem schönen Satz aus der Nachschrift zum »Namen der Rose« von Umberto Eco: »Worüber man nicht theoretisch handeln kann, davon muss man erzählen.« (Eco 1984: 82) Selbst wenn es der Protagonistin respektive Erzählerin versagt bleibt, die Tochter-Vater-Beziehung zu klären, zu verarbeiten oder zu versöhnen, so scheint es der Autorin Banciu mit ihrem Langgedicht gelungen zu sein, ihr Leben zum Kunstwerk zu überhöhen. Gleichwohl ist sich die Erzählerin darüber bewusst, dass sie in einer Art Anti-Requiem den Vater erinnert. Ob sich mal einer an sie erinnern und von ihr erzählen wird, ist unklar, weshalb der Text mit den Sätzen ausklingt;
Und wer wird uns weitererzählen
Wer wird über uns weitererzählen
Wer wir waren
Wer wir immer noch sind
Wer wir weiter bleiben
Unsterblich
Denn in Wirklichkeit
Was wissen
Oder was wissen wir nicht
Was wissen wir über das Leben
Was wissen wir über den Tod (Banciu 2018: 365f.).
Literatur
Assmann, Aleida (1980): Die Legitimität der Fiktion. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Kommunikation. München.
Assmann, Jan (2000): Der Tod als Thema der Kulturtheorie: Todesbilder und Todesriten im Alten Ägypten. Frankfurt a.M.
Banciu, Carmen-Francesca (2007): Das Lied der traurigen Mutter. Berlin.
Dies. (2009): Vaterflucht. Berlin.
Dies. (2018): Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten! Tod eines Patrioten. Berlin.
Dalos, György (2018): Ein endloses Requiem. Nachwort. In: Carmen-Francesca Banciu: Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten! Tod eines Patrioten. Berlin, S. 367-371.
Eco, Umberto (1984): Nachschrift zum »Namen der Rose«. München/Wien.
Erdheim, Mario (2011): Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Frankfurt a.M.
Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M.
Freud, Sigmund (81991a): Trauer und Melancholie. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Anne Freud. Bd. 10: Werke aus den Jahren 1913-1917. Frankfurt a.M.
Ders. (81991b): Zeitgemäßes über Krieg und Tod [1924]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Anne Freud. Bd. 10: Werke aus den Jahren 1913-1917. Frankfurt a.M.
Frisch, Max (1964): Mein Name sei Gantenbein. Roman. Frankfurt a.M.
Gabriel, Markus (2020): Fiktionen. Berlin.
Goffman, Erving (102003): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. Übers. v. Peter Weber-Schäfer. München.
Gruenter, Undine (1992): Der Autor als Souffleur. Frankfurt a.M.
Hansen, Klaus P. (2009): Kultur. Kollektiv. Nation. Passau.
Heidegger, Martin (2012): Der Ursprung des Kunstwerks. Mit der »Einführung« von Hans-Georg Gadamer und der ersten Fassung des Textes (1935). Hg. v. Friedrich-Wilhelm v. Herrmann. Frankfurt a.M.
Höllerer, Walter (1965): Thesen zum Langen Gedicht. In: Akzente 2 (1965), S. 128-130.
Kotthoff, Helga (2003): Aesthetic Dimensions of Georgian Grief Rituals: On the Artful Display of Emotions in Lamentations. In: Dies./Hubert Knoblauch (Hg.): Verbal Art across Cultures. The Aesthetics and Proto-Aesthetics of Communication. Tübingen, S. 167-195.
Lévinas, Emmanuel (1984): Die Zeit und der Andere. Übers. u. mit einem Nachwort vers. v. Ludwig Wenzler. Hamburg.
Liessmann, Konrad Paul (2021): Alle Lust will Ewigkeit. Mitternächtliche Versuchungen. Wien.
Lotman, Jurij M. (1993): Die Struktur des künstlerischen Textes. Aus dem Russ. v. Rainer Grübel. Frankfurt a.M.
Macho, Thomas (2000): Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich. In: Jan Assmann (Hg.): Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten im Alten Ägypten. Frankfurt a.M., S. 89-120.
Markowitsch, Hans (2000): Das autobiografische Gedächtnis. Stuttgart.
Nietzsche, Friedrich (1883): Also sprach Zarathustra, Von den Dichtern. Chemnitz, S. 382-385.
Platon (1993a): Sämtliche Dialoge. Hg. u. übers. v. Otto Apelt. Bd. 3. Ion. Hamburg.
Ders. (1993b): Sämtliche Dialoge. Hg. u. übers. v. Otto Apelt. Bd. 5. Der Staat. Hamburg.
Schacter, Daniel (1998): Searching für Memory. The Brain, the Mind And the Past. New York.
Shakespeare, William (1962): Hamlet. Übers. v. August Wilhelm Schlegel. In: Ders.: Gesammelte Werke in drei Bänden. Bd. 1. Gütersloh, S. 581-688.
Simmel, Georg (1995): Der Bilderrahmen. Ein ästhetischer Versuch? In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 1: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Hg. v. Otthein Rammstedt. Frankfurt a.M., S. 101-108.
Spillner, Bernd (2002): Tabubrüche in deutschen Todesanzeigen: Ein interkultureller Einfluß? In: Matthias Rothe/Hartmut Schröder (Hg.): Ritualisierte Tabuverletzung, Lachkultur und das Karnevaleske. Frankfurt a.M., S. 457-468.
Waldenfels, Bernhard (2009): Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Frankfurt a.M.
Wolting, Stephan (2020): Undine Gruenter. Deutsche Schriftstellerin mit Ziel Paris. Göttingen.
Ders. (2014): »Unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte.« (Heinrich Heine) – Zum Zusammenhang von Tod, Trauer, Kommemorationsmedien und Kultur – Überlegungen zu »kultureller Trauerarbeit« als Perspektive kulturwissenschaftlicher Thanatologie. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache/German Studies 40, S. 73-103.
Ders. (2015): Fiktion und Fremde in Hans-Josef Ortheils Romanen »Die Erfindung des Lebens« und »Die Moselreise«. In: Carsten Gansel u.a. (Hg.): Zwischen Fremdheit und Erinnerung. Entwicklungen in der deutschen und polnischen Literatur nach 1989. Göttingen, S. 43-55.
Ders. (2021): Die Notbeatmung des Subjekts im Angesicht eines postfaktischen Zeitalters. Der Philosoph Markus Gabriel erklärt in seinem Werk, warum wir Menschen und unsere Geschichten nur »Fiktionen« sind und gerade deshalb der Anspruch auf Wirklichkeit bestehen bleibt. In: literaturkritik.de v. 12. Juli 2021, zuletzt geändert am 9. September 2021; online unter: https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=28062 [Stand: 1.4.2022].