Fahrt mit der S-Bahn
Bewegung und Raum im geteilten Berlin
AbstractIn the divided Berlin of the 1960s to 1980s, the S-Bahn held a specific position: it was object of controversial political debates, setting for numerous migration attempts, and often addressed as a metonymic representation of the (divided) urban architecture that was specific to Berlin. Thus it served as an important medium of reflection for a number of authors, especially from the eastern part of the city: this article primarily examines poetry, essay writing, and prose texts by the former GDR authors Uwe Johnson, Günter Kunert, Fritz Rudolf Fries, Elke Erb, Johannes Jansen, and Annett Gröschner. Special attention needs to be payed to the S-Bahn as a poetic instrument for identifying an own position within the multi-layered Berlin topography: between East and West, affiliation and rejection, collective urban identity and self-assertion, performed and hindered border crossings.
TitleRide on the S-Bahn. Space and motion in divided Berlin
Keywordsurban networks; public transport; border crossings; inner german border; GDR poetry
Die Berliner S-Bahn gehörte zu den Besonderheiten der geteilten Stadt: lebenspraktisch bedeutsam, affektiv hochgradig aufgeladen und literarisch virulent. Die S-Bahn kreuzte die Grenze – und war daher seit Kriegsende ein eminentes Politikum. Vor dem Mauerbau bildete sie das verbindende Verkehrsmittel der in Sektoren geteilten Stadt, insofern aber auch die Schleuse in den Westen: Zuletzt nutzten etwa tausend Menschen täglich die S-Bahn zum Verlassen der DDR, sie war der Schauplatz einer sehr spezifischen Migrationsdynamik. Nach dem Mauerbau wurde sie zum sinnfälligen Zeichen einer in feindliche Blöcke geteilten Welt: Niemand konnte sie benutzen, ohne gewahr zu werden, dass in Berlin »zwei gegensätzlich staatliche Organisationen, zwei wirtschaftliche Arrangements, zwei Kulturen so eng nebeneinander [leben], daß sie einander nicht aus dem Blick verlieren können und einander berühren müssen.« (Johnson 1975a: 18) In dieser Situation wurde die S-Bahn – so die These des vorliegenden Beitrags – zum zentralen Medium der Kartierung von Berliner Topographien. Die großstädtische Alltagspraxis des Bahnfahrens traf auf eine politische Spaltungslogik, die die gebahnte Mobilität drastisch einschränkte und paradox regulierte; sie erzeugte imaginative und utopische Raumordnungen, die Berlin in den 1960er bis 1980er-Jahren prägten. Mithilfe der S-Bahn wurde die eigene Position innerhalb der vielschichtigen Berliner Topographie literarisch entworfen und reflektiert: zwischen Ost und West, Zugehörigkeit und Ablehnung, kollektiver städtischer Identität und Selbstbehauptung, vollzogenen und verhinderten Grenzübertritten.1
Mit dem Mauerbau wurden im Berliner Nahverkehrssystem die Verbindungen in die westlichen Sektoren unterbrochen und die Bahnhöfe, bis auf den Grenzübergang am Bahnhof Friedrichstraße, zugemauert. Beide S-Bahn-Systeme, auch das abgeschnittene im Westteil der Stadt, wurden von der zur DDR gehörenden Deutschen Reichsbahn betrieben. Unmittelbar nach dem Mauerbau, noch im August 1961, riefen daher der Deutsche Gewerkschaftsbund und der Regierende Bürgermeister Willy Brandt die Westberliner zum Boykott der S-Bahn auf; Posten stellten sich mit Plakaten vor den Bahnhöfen auf: »Keinen Pfennig für Ulbricht!«, »Wer S-Bahn fährt, ist Kommunist!«, »Jeder West-Berliner S-Bahn-Fahrer bezahlt den Stacheldraht am Brandenburger Tor.« (Johnson 1975b: 28; o.A. 1981: 273)
In der Folge sanken die Fahrgastzahlen drastisch, die Deutsche Reichsbahn fuhr auf den Weststrecken hohe Verluste ein. Neue Buslinien, später dann auch neue U-Bahn-Linien sollten die S-Bahn überflüssig machen. »Im Westteil der Stadt«, so konnte man 1981 im Spiegel lesen, »klapperte die Stadtbahn während der letzten zwei Jahrzehnte ins Elend. […] Wer genauer hinsieht, kann häufig Züge ausmachen, in denen kein einziger Reisender sitzt.« (Ebd.: 273) Während sie vor dem Krieg noch über fünfhundert Millionen Fahrgäste jährlich befördert hatte, waren es in Westberlin zuletzt nur noch unter fünf Millionen (vgl. Gottwaldt/Kuom/Risch 1984: 14, 33). Im Osten blieb die S-Bahn weiterhin das bevorzugte Transportmittel, im Westen hingegen verrotteten die Gleise, Sabotage und Vandalismus herrschten, die Bahnhöfe wurden geschlossen und zu toten Zonen in städtischen Brachen.
Zu Beginn der 1980er-Jahre erreichte der politische Konflikt um die Westberliner S-Bahn eine neue Eskalationsstufe: Nachdem die Westberliner Fahrer, unter DDR-Konditionen (niedrigeres Gehalt, geringere Arbeitnehmerrechte) bei der Deutschen Reichsbahn angestellt, in einen umfassenden Streik gezogen waren, kam es zu Massenentlassungen und zur drastischen Ausdünnung des ohnehin schon reduzierten S-Bahn-Netzes. Somit fuhren nur noch »ein paar Geisterzüge zwischen Frohnau und Lichtenrade und – im Grenzverkehr – von der Ost-Berliner Friedrichstraße zum West-Berliner Bahnhof Zoo« (o.A. 1981: 271); vorübergehend drohte die totale Stilllegung der S-Bahn in Westberlin. Nach langjährigen Verhandlungen übernahm die BVG im Januar 1984 den S-Bahn-Betrieb im Westteil der Stadt – damit war nun auch bei der Stadtbahn die Teilung in Ost und West vollständig vollzogen (vgl. Nawrocki 1984; Bley 1989).
Innerberlinische Migrationserfahrungen
Uwe Johnsons Berliner Sachen
1959 verließ Uwe Johnson die DDR mit der S-Bahn und übersiedelte nach Westberlin. Kurz vor dem Mauerbau schrieb er einen Text über die Schwierigkeit, den einfachen Vorgang des Aussteigens (eines Bürgers der DDR) an einer (West-)Berliner S-Bahn-Station angemessen zu beschreiben.2 Was sich einerseits als innerstädtische Bewegung auf gebahnten Wegen, wie sie seit Jahrzehnten vorgesehen und möglich war, darstellte, bedeutete andererseits eine alle Kategorien sprengende politische und kulturelle Grenzüberschreitung:
Eine Grenze an dieser Stelle wirkt wie eine literarische Kategorie. Sie verlangt die epische Technik und die Sprache zu verändern, bis sie der unerhörten Situation gerecht werden. Der konventionelle Ausdruck für den Fahrgast, der auf einem (sozusagen) ausländischen Bahnhof für eine längere Zeit aussteigt, beansprucht den ›Flüchtling‹ als einen propagandistischen Wert; indem er so genannt wird, soll er Vorzüge für die eine und Nachteile für die andere Seite beweisen. (Johnson 1975a: 10)
Dem S-Bahn-Fahrgast wird aus ideologischen Gründen, zum Beweis der Überlegenheit des Westens, Titel und Rolle des ›Flüchtlings‹ zugesprochen. Obwohl es sich dabei um eine einseitige und manipulative Sprachregelung handelt – wie überhaupt das in diesem Aufsatz exponierte Problem darin besteht, dass es eine nichtkorrumpierte, sich keiner Seite verpflichtende Beschreibung dieses Aktes nicht gibt –, so insistiert Johnson doch nachdrücklich darauf, dass zu dem Umzug über die deutsch-deutsche Grenze tatsächlich eine substantielle Migrationserfahrung gehört (vgl. Tate 2004: 83). Die Fahrt mit der S-Bahn von Ost nach West beschreibt er als Weltenwechsel, der dem »Ankömmling« (ebd.: 18) Sprache und Benennungsmöglichkeiten ebenso wie Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten raubt: »Echtes Ausland ist selten so fremd.« (Ebd.: 20) Der Umzug von einem Teil der Stadt in den anderen geht mit einem grundlegenden Orientierungsverlust einher: »Es wird ihn Mühe kosten, das Zeichensystem des fremden Landes zu erlernen, dies mit dem mitgebrachten zu vergleichen und endlich ein eigenes nach seinen persönlichen Erfahrungen anzustimmen.« (Ebd.)
Die nach dem Mauerbau verfassten S-Bahn-Texte aus Johnsons Berliner Sachen – Boykott der Berliner Stadtbahn (1964), Das soll Berlin sein. Antwort auf Zuschriften (1964), Nachtrag zur S-Bahn (1970) – thematisieren das Skandalon der Verwandlung zusammengehöriger, nahtlos miteinander verbundener Wegstrecken der einen Großstadt in zwei distinkte politische, soziale und kulturelle Räume. Denn es ist in Johnsons Darstellung die S-Bahn, die den Berliner Stadtraum überhaupt erzeugt:
Schon für den Ortsfremden lag die Hauptstadt in der Stadtbahn. Sie zog ihn aus den Fernbahnhöfen in die Provinzen der Stadt, mit ausstrahlenden Radialen und einem riesigen Ring brachte sie ihm einen räumlichen Begriff der Gegend bei, bevor sie ihn entließ in eins der Zentren oder der Stadtdörfer (Johnson 1975b: 22).
Die S-Bahn wird hier nicht als funktionaler Teil, sondern als definierende Größe Berlins beschrieben. In gewisser Weise verkehrt Johnson die Relation von Teil und Ganzem, wenn er Berlin als in der S-Bahn liegend beschreibt; S-Bahn und Stadt stehen metonymisch füreinander ein, sie kommen zur Deckung.
Um das Gewaltsame und Schmerzhafte dieses Schnitts, der »Unterbrechung der Stadtbahn« (ebd.: 33), zu verdeutlichen, verwendet Johnson mehrfach organische Bilder, etwa indem er das S-Bahn-System mit dem Adernetz des Blutkreislaufs vergleicht.3 Auf den einseitigen Akt des Mauerbaus und die Kappung der Linien, die das vitale Gebilde der Stadt verwundet und die Kommunikation unterbindet, folgt die Gegenreaktion, der Boykott der vom Osten betriebenen S-Bahn. Johnson verurteilt ihn scharf als »leere Gebärde des Schädigens« (Johnson 1975c: 40), deren einziger Effekt darin bestehe, das innerberlinische Verhältnis zu belasten. Obendrein werde dieser S-Bahn-Krieg auf dem Rücken derer ausgetragen, die auf die S-Bahn als billiges Transportmittel zur Arbeit angewiesen seien: »Die Verwaltung Westberlins bestellt sich eine politische Demonstration und lässt sie von den Schwächsten bezahlen.« (Johnson 1975b: 32)
Die S-Bahn ist aber nicht nur Objekt und Medium politischer Auseinandersetzungen, ihr eignet eine historische, Geschichtlichkeit transportierende Qualität. Sie ist aus Johnsons Perspektive ein Gedächtnis der Stadt, ein Element, das die historische Tiefendimension Berlins wahrnehmbar macht und dadurch bewahrt. Die Bahn selbst und vor allem die Bahnhöfe erscheinen dabei nicht als gesichtslose Transiträume, sondern im Gegenteil als Orte des Erinnerns, die historische Identität verbürgen.4 Sie bilden einen emotional besetzten Bestandteil des städtischen Lebensraums mit hohem Identifikationspotential. An der Reichweite der S-Bahn, so Johnson, bemisst sich die Zugehörigkeit zu Berlin, an der S-Bahn erkennen die Berliner ihre Stadt.5 Ihre Wahrnehmung ist eingesenkt in die Leiblichkeit, sie spricht verschiedene Sinne an:
Wir erkennen das Geräusch ohne Nachdenken, die klirrende Durchfahrt, nachts das atmende Bremsen und Anfahren, singende Beschleunigung. Die grünen Transparente an den Brücken und Bahnhöfen, das weiße S: Stadtbahn: es gehört uns, wir wissen wo wir sind. Die weiten Bahnsteige gehören zur Landschaft der Stadt, und da wird auf uns gewartet. […] Die Stadtbahn, ihre gußeisernen Pfosten, ihre Gewächshausaufgänge, ihr verjährtes Emaille, es hält uns die Vergangenheit der Stadt im Gedächtnis. Und wir sehen sie immer, und aus ihren Fenstern sehen wir die Stadt: hier ist ein Fensterplatz noch was wert. (Johnson 1975d: 43)
Die S-Bahn macht die Stadt in ihrer historischen Gewordenheit sichtbar. Der schleichende Niedergang der Westberliner Bahn kommt für Johnson daher einem radikalen Verlust von Geschichte und Identität gleich.
»Zwischen zwei Bahnhöfen dann. Eines Abends.«
Günter Kunerts Metaphysik der S-Bahn
Der Blick aus dem Fenster – und in ein Fenster hinein – ist auch das Momentum in Günter Kunerts Fahrt mit der S-Bahn. Der Text erschien 1965 in der Anthologie Atlas, in der 43 teils namhafte, teils aufstrebende Autor:innen aus Ost und West über ihren Ort schrieben.6
Die Anthologie bildete das ambitionierte Projekt, mit dem Klaus Wagenbach seinen neugegründeten Westberliner Verlag startete. Unter den DDR-Beiträger:innen – Arnold Zweig, Stephan Hermlin, Anna Seghers, Johannes Bobrowski, Peter Huchel – war Kunert, neben Wolf Biermann mit einem Gedicht über den Hugenottenfriedhof, der Einzige, der über die DDR, genauer über Berlin, schrieb.
Kunerts Fahrt mit der S-Bahn verläuft ins Phantastische, »in unbekannte Abgründe dieser Stadt« (Kunert 2004: 111). Das kurze Prosastück ist in elf nummerierte Abschnitte geteilt. Die ersten Passagen beschreiben das Alltägliche der wiederkehrenden S-Bahn-Fahrt: Gleichförmigkeit der Bahnhöfe, das Aussehen der heruntergekommenen Züge, die akustischen Begleiterscheinungen – Öffnen der Türen, Poltern des Wagens –, das Miteinander von Fremden im Abteil, der Effekt der Entindividualisierung, das Distanzverhalten. Das erzählende Ich erinnert an die Geschichtsträchtigkeit der vorbeiziehenden Orte – der von der Abendsonne beschienene Kanal, der rot ist von Rosa Luxemburgs Blut –, aber doch nur, um zu erwähnen, dass der Fahrende das gerade nicht sieht: »Wir betrachten hingegeben unsere Stiefelspitzen. Wir zählen die Tropfen an der Scheibe. Wir fahren und fahren« (ebd.: 110f.). Die S-Bahn erscheint, anders als bei Johnson, zunächst als Inbegriff eines Nicht-Ortes: anonym, ohne Identität, geschichtslos.
Durchgerüttelt, schaukelnd dahindämmernd, erwacht der Ich-Erzähler – »Vielleicht« (ebd.: 110) – oder vielleicht beginnt er doch zu träumen; jedenfalls eröffnet sich ihm plötzlich –»Zwischen zwei Bahnhöfen dann. Eines Abends« (ebd.: 111) – mitten auf der vertrauten Strecke der Blick in eine andere Realität: Der Fensterdurchbruch einer Brandmauer gewährt Einblick in ein erleuchtetes Zimmer, darin: er selbst, lachend einen Apfel essend, umgeben von Freunden, allerdings »viele von ihnen seit je verschollen oder verbrannt oder erschlagen oder weggewandert oder zu Greisen geworden« (ebd.: 113). Immer wieder fährt der Ich-Erzähler an der faszinierenden Erscheinung vorbei (bei der zweiten Passage bemerkt er, dass er den Apfel aufgegessen hat – in der anderen Welt des Zimmers verstreicht doch auch Zeit), er sucht das Haus, aber alle Bemühungen sind vergeblich: Zwischen S-Bahn und Brandmauer klafft ein unüberwindlicher Abgrund, er traut sich nicht, die Bahn anzuhalten, es gelingt ihm nicht, das Haus ausfindig zu machen, in die andere Wirklichkeit des Zimmers einzutreten, die beiden Realitäten zusammenzubringen.
Die S-Bahn erscheint nun einerseits als der Ort, der diese andere Erfahrung ermöglicht, der den Einblick in eine zweite Wirklichkeit erschließt, der zugleich ein Ausblick durch eine Folge geöffneter Türen im erleuchteten Zimmer ist. Der Transitraum der S-Bahn vermittelt dem durch die Stadt fahrenden Ich die flüchtige Wahrnehmung eines heiteren, mit sich selbst identischen Lebens:
So kann ich nichts tun, als, so oft es mir möglich ist, mit der S-Bahn zu fahren. Einmal jede Woche bin ich unterwegs auf der Strecke, hin und her und hin, und jedesmal beim Vorbeihuschen nehme ich auf, was das Zimmer mir bietet, wo wir alle heiter und wahrhaft bei uns und beisammen sind, Lebende und Tote, und wo wir uns über lauter lautere Nichtigkeiten unterhalten. (Ebd.: 114)
Hier öffnet sich die Utopie eines unentfremdeten Daseins, im Zustand des Wissens (nach dem Genuss des Apfels), in heiterer Gemeinschaft mit den Toten. Dabei sind es gerade die räumlichen Ablagerungen der Geschichte, die gebauten Strukturen Berlins, die Spuren der Vergänglichkeit, die sich im Blick aus der S-Bahn imaginativ mit der eigenen, individuellen Geschichte kurzschließen und das Unerwartete auslösen.7 Die S-Bahn ist aber nicht nur Ort dieser exzeptionellen Erfahrung, sondern andererseits auch das Transportmittel, das immer wieder davon wegführt.
Wieder und wieder weiß ich, trägt mich der Zug vom Fenster fort: Könnte ich ein einziges Mal dort eintreten und mich vereinigen mit mir, der ich das apfelvolle Porzellankörbchen nie leer essen kann, so wäre alles ungeschehen, was die Wagenladungen von Worten niemals zudecken werden. / Einmal im richtigen Moment eintreten, und ich wäre erlöst. Und die Stadt dazu. (Ebd.)8
Es gelingt dem Reisenden nicht, den eigenen Wahrnehmungsraum zu verlassen, sich mit sich zusammenzuschließen, die gewaltvolle Geschichte und die gezwungene Gegenwart der Stadt aufzuheben.9 Die S-Bahn erscheint als ein höchst ambivalenter Schwellenort: Sie changiert zwischen Vertrautheit und Fremdheit, Wahrnehmungsentgrenzung und Perspektivgebundenheit, Bewegung und Stillstellung, Geschichte und Zeitenthobenheit, Wiederholung und Plötzlichkeit – oder, wie Kunert in einem Gedicht aus den 1980er-Jahren befindet: »Keiner ahnt / bei der Fahrt mit der S-Bahn / das metaphysische Ausmaß / der Reise.« (Kunert 1987: 39)
»Wo sind wir?«
Zentrum und Peripherie bei Fritz Rudolf Fries
Während bei Kunert die S-Bahn-Fahrt der Auslöser für die existentielle Identitätsfrage – Wer bin ich? – wird, stellt sich für Fritz Rudolf Fries in der S-Bahn vielmehr die Frage: »Wo sind wir?« (Fries 1980: 48), verstanden als Frage nach den sozialräumlichen Dimensionen und der topographischen Ordnung des Großraums Berlin. Die 1969 verfassten »Marginalien längs der S-Bahn« beginnen mit einer elementaren leiblichen Verortung des in der ersten Person Plural sprechenden Subjekts: »Wir stehen am Alex und schauen nach links und nach rechts, nach oben und unten.« In die eine Richtung geht es »bis zur Friedrichstraße und nicht weiter«, in die andere Richtung geht es »aufs Land« – und diesen Weg wählt der Erzähler. Die Fahrt führt ihn in die Randzone, in die allabendlich die arbeitende Bevölkerung zurückkehrt, in der Kartoffel- und Rübenfelder mit loser Bebauung wechseln, in der am Eigenheim gebastelt und das Gärtchen gepflegt wird. Dabei erscheint die S-Bahn – der »unangezweifelte Daueraufenthalt für Vorortbewohner« (ebd.: 50) – eher als Lebensform denn als Transportmittel: »Wer hier« – auf halber Strecke Richtung Straußberg – »nicht aussteigt, wird lange fahren« (ebd.: 49), heißt es im Rilke-Ton, der die S-Bahn gewissermaßen zur heimatlichen Behausung der Vorortbewohner erklärt. Die S-Bahn ist kein anonymer Ort, vielmehr sind ihre Nutzer eingebunden in eine Gemeinschaft, man redet miteinander: »Jeder kennt jeden in Berlin, vor allem kennen sich die, die weiter als Lichtenberg fahren« (ebd.), so die leicht ironische Auskunft. Ohne dass die Berliner Peripherie idealisiert oder idyllisiert würde – die Ortschaften erscheinen austauschbar, die Technik hat längst Einzug gehalten –, mündet der Text doch in eine bescheidene Apotheose, in der die Abendstimmung der sich ins Offene hinziehenden märkischen Landschaft beschworen wird:
Der Verklärung zum Feierabend steht nichts im Wege, kein Hochhaus, das Schatten wirft, Stille überall, und die S-Bahn, die durch die beginnende Nacht fährt, gibt die Windrichtung an. Die Dächer halten ihre Fernsehantennen hoch, und das Land reproduziert sich noch einmal in die Weite der himmlischen Felder. (Ebd.: 52)
Fries entwirft auf diese Weise eine andere Berliner Topographie. Die S-Bahn verbindet das Zentrum mit der Peripherie; und es sind die solcherart integrierten Randzonen, die Berlin, das halbierte Berlin mit den S-Bahn-Sackgassen, zur realen Stadt machen: In Berlin-Mitte startet »ein Fernzug, aber ein städtischer, alle zwanzig Minuten aufs Land fahrender. Ein Zug, ohne den Berlin eine Mystifikation wäre«. Bei Fries ist die S-Bahn nicht Motor und Symbol gesteigerter Urbanität, vielmehr ist es gerade die Wahrnehmung der Außenbezirke in ihrer sozialräumlichen Situiertheit, die hier als bestimmendes Element für das städtische Großgebilde Berlin angesetzt wird.
Bewegung und Stillstand
Elke Erbs Fahrt mit der S-Bahn
»Wo sind wir?«, hatte das Fries’sche Erzählsubjekt auf halber Strecke gefragt und geantwortet: »Doch noch in Berlin, obschon, wer hier aussteigt, in Kaulsdorf, Biesdorf, Mahlsdorf, Hoppegarten wohnt.« (Fries 1980: 50) Dass man derselben Strecke – der heutigen S 5 Richtung Strausberg – gut zehn Jahre später auch andere Eindrücke abgewinnen konnte als den einer Reise in kleinbürgerliche Vorortbeschaulichkeit, macht Elke Erb deutlich mit einem Gedicht, das sich wie eine doppelte Antwort auf Kunert und Fries liest. Dabei variiert sie unter anderem das Motiv des wechselseitigen Fensterblicks und koppelt daran Reflexionen über das durchgeplante, isolierte Verkehrssystem der Ostberliner S-Bahn. Das Gedicht wurde 1983 in ihrem Lyrikband mit dem passenden Titel Vexierbild veröffentlicht (Erb 1983: 23):
Bewegung und Stillstand
Kommt man mit der S-Bahn von Mahlsdorf über Kaulsdorf und
Biesdorf nach Friedrichsfelde-Ost, sieht man zwischen Bies-
dorf und Friedrichsfelde-Ost links immer diese Neubauten,
aus deren hunderten Fenstern man die S-Bahn zwischen
Biesdorf und Friedrichsfelde-Ost immer vor sich sieht.
1980
Wie viele Gedichte Erbs aus den 1980er-Jahren zeichnet auch dieser Text sich durch eine sehr konkrete, präzise Verortung aus – es findet sich nicht nur eine genaue Beschreibung der im Laufe des Gedichts zurückgelegten geographischen Distanz; auch eine zeitliche Situierung wird vorgenommen: Das Gensinger Viertel, ein östlich vom S-Bahnhof Friedrichsfelde-Ost errichtetes Plattenbau-Ensemble, war so erst Ende der 1970er-Jahre eröffnet worden. Neubaugebiet und eine eigens dafür eingerichtete S-Bahn-Strecke waren mit planerischer Akribie aufeinander abgestimmt.10
Obgleich Erbs Text nicht die neu erbaute S-Bahn-Strecke Richtung Marzahn, sondern die bereits existierende – und schon von Fries erwähnte – Strecke aus Richtung Mahlsdorf in den Blick nimmt, inszeniert der Text im Blickwechsel doch eine hermetisch abgeriegelte Kohärenz zwischen S-Bahn und Neubaugebiet: Trotz des skizzierten Positionswechsels verharrt das Gedicht durch seine parallele Struktur im Ensemble von Plattenbau und S-Bahn. Erkennbar ist dies auch an der dreigliedrigen, chiastisch aufgebauten Ein-Satz-Syntax; so lässt es hinter dem wiederholten »immer« (V. 3, 5) jede zeitliche Singularität, hinter dem unpersönlichen »man« (V. 1, 2, 4) das individuelle Textsubjekt verschwinden. Denn anders als in Kunerts Fahrt mit der S-Bahn ist es nicht das einzelne Fenster, das hier den Blick auf sich lenkt, sondern die schiere Masse des Immer-Gleichen – im Spiegel der »hunderten Fenster« (V. 4) erkennt das »man« bei Erb keine persönlichen Erinnerungen mehr, keine versammelte Familie oder das eigene, kindliche Ich, sondern nur die blinde Reflexion, den radikalen Zurückfall auf die Beobachterposition. Während Kunerts Ich die Fahrt zur eigenen Subjektwerdung durch Gedächtnisarbeit immer wieder antritt, Fries immerhin noch ein kollektives Wir zu erkennen vermag, ist bei Erb das ewig wiederholte Fahren mit der S-Bahn ein entpersonalisierter Vorgang, eine von außen instruierte Zwangshandlung.
In dieser Weise lässt sich auch der Titel des Gedichts besser verstehen: Die vermeintliche Bewegung vollzieht sich in festen Strukturen und verweist somit auf einen systemischen Stillstand. Die städtebaulichen Großprojekte Berlins, in den 1970er-Jahren als Zeichen des Fortschritts und Aushängeschilder der neuen sozialistischen Gesellschaft geplant und realisiert, werden hier in den Stillstand einer gleichförmigen, geometrischen Ordnung überführt; im seelenlosen Visavis der Fenster verfangen sich die Blicke, die man als Ausdruck von Sehnsucht, Elementarform sozialer Interaktion, Metonymie gesellschaftspolitischer Visionen lesen kann, in einer Scheinbewegung. Es gehört – wie Cornelia Jentzsch, Literaturtheoretikerin der ehemaligen Lyrikszene vom Prenzlauer Berg, im Blick auf Erbs Gedicht feststellt – »allerhand poetische Chuzpe dazu, mit fünf knappen Zeilen die allgegenwärtige Sehnsucht in die Ferne […] fahrplanmäßig im Minutentakt unter dem Kreuz dieser gegenläufigen Bewegungen zu begraben.« (Jentzsch 2017: 19)
Jentzschs Beobachtung, dass es sich beim S-Bahn-Gedicht Bewegung und Stillstand nicht lediglich um einen »plattenbaukritischen Text«, sondern um ein Partikel von »Erbs poetische[r] Weltsicht« (ebd.) handelt, stützt die Tatsache, dass das Bild des Zuges in der Lyrik Elke Erbs immer wieder Anhaltspunkte poetologischer Überlegungen liefert – zu denken wäre hier etwa an das umfangreiche Gedicht Überlegung im D-Zug aus Kastanienallee (Erb 1988: 36-40) oder die für Erbs vierten Gedichtband titelgebenden Winkelzüge.11 In beiden Fällen geht es darum, ein geschlossenes System, einen oft beschrittenen Pfad eben auch zu verlassen; beim Reflektieren und gedanklichen Zurückgehen eine neue Abzweigung zu entdecken. Im »Stillstand« der sich fortbewegenden S-Bahn, im Blick auf den vermeintlichen Fortschritt in der DDR, können diese Winkelzüge nicht ausfindig gemacht werden.
»Durchgangszimmer« Prenzlauer Berg
Der Ausbruch aus festgefahrenen Strukturen ist ein Anliegen etlicher Lyriker:innen, die sich in den 1980er-Jahren im Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg inoffiziell organisierten: In Anlehnung an die ansässige Hausbesetzer- und Punkszene entstand dort insbesondere nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 eine durch Hinterhoflesungen, Grafik-Lyrik-Mappen und Künstlerzeitschriften geprägte Literaturgemeinschaft. Mitglieder dieser schreibenden und zugleich eifrig lesenden Community waren meist Autor:innen der jüngsten DDR-Generation, die am Aufbau des sozialistischen Staates, in dem sie aufwuchsen, nicht aktiv beteiligt waren – und sich der sozialistischen Idee dementsprechend nicht mehr verpflichtet fühlten. In die DDR-Geschichte eingegangen ist diese Generation unter dem Etikett der »Hineingeboren[en]« (Kolbe 1980), wie es der 1957 in Ostberlin geborene Lyriker Uwe Kolbe bereits Ende der 1970er-Jahre prägte. Diesem Zustand des Hineingeboren-Seins versuchten die Autor:innen des Prenzlauer Bergs nun verschiedentlich zu begegnen, indem sie zum einen gerade das Hinauswachsen über feste Strukturen zum Ziel des eigenen Schreibens erklärten: Nicht selten fungierte dabei die S-Bahn als wichtiger Referenzpunkt – etwa in Uwe Kolbes Gedicht Nachts in der S-Bahn (1985), in dem ein Ich die pendelnden Arbeiter der Stadt mit großer Skepsis beäugt und sich selbst als Kunstschaffenden im dunklen Abseits des Arbeiter- und Bauernstaates verortet.
Zum anderen war der Prenzlauer Berg in den 1980er-Jahren eingeflochten in zahlreiche personelle bzw. räumliche Migrationsbewegungen: Der Künstler:innenszene schlossen sich so etwa Autor:innen an, die sich über Gastprogramme in der DDR aufhielten oder anderweitig eine Migrationsgeschichte aufwiesen – namentlich seien hier beispielsweise Jan Faktor, Phạm Thị Hoài, Asteris Koutoulas, Raja Lubinetzki oder Giwi Margwelaschwili erwähnt.
Die entstehende Künstler:innenszene war nicht auf ein dauerhaftes Bestehen hin ausgerichtet: Etliche Autor:innen stellten Anträge zur Ausreise in den Westen, die vor allem in der zweiten Hälfte der 1980er größtenteils genehmigt wurden. Damit war der Ostberliner Stadtteil auch zentraler Schauplatz ersehnter, versuchter und in vielen Fällen geglückter Migrationsbewegungen aus der DDR in den Westteil der Stadt, nach Frankreich, Großbritannien oder Nordamerika. In die DDR-Literaturgeschichte eingegangen ist der Prenzlauer Berg daher vor allem als strategisches »Durchgangszimmer« – ein Begriff, den der Autor Peter Wawerzinek zunächst prägte, bevor ihm ein gleichlautender Reportageband, unter anderem herausgegeben von Annett Gröschner, in den 1990er-Jahren zur Prominenz verhalf (vgl. Felsmann/Gröschner 2012: 19). Auch diverse S-Bahn-Texte der Prenzlauer-Berg-Szene thematisieren diese Ein- und Auswanderungsbewegungen; etwa Frank Weißes Gedicht S-Bahn-Abschied (Weiße 1985) oder die Texte Elisabeth Wesuls’, deren Ich die unter dem Ostteil der Stadt fahrenden Westzüge der S-Bahn als ein »unter der Erdhaut gekochtes Verlangen« nach »unzugänglichen / Stelln« (Wesuls 1985: 31; vgl. Leeder 1996: 64f) wahrnimmt. Explizit mit Migrationsbewegungen befasst sich Bert Papenfuß’ experimentelles Gedicht aufruhr zur liebe im mit- / telpunkt der erde 13.4.85, in dem das Textsubjekt für eine »formale grenzenlosigkeit / der wunsch ›uferloses meer‹«, jenseits der »StGB-determiniert[en]« Ordnung plädiert, die in das Bild der Durchreise mit der S-Bahn gefasst wird: »alles läuft an der schnur / s-bahnen rauschen herein / einherier drängen heraus / & wissen was sie wollen / umsteigen, weiterkommen«. (Papenfuß 2008: 103)
Im von poetisch vollzogener Transgression und echten, physischen Migrations- und Fluchtbewegungen geprägten »Durchgangszimmer« Prenzlauer Berg erhält die S-Bahn demnach eine spezifische Bildlichkeit, die sich in Teilen mit den Ansichten älterer Autor:innengenerationen (etwa Kunerts oder Johnsons) deckt, in einigen Punkten jedoch auch entschieden davon abweicht – wie ein abschließender Blick auf zwei Texte Johannes Jansens und Annett Gröschners zeigen wird.
Abschreiten des Grenzraums
Leerstellen der S-Bahn in Johannes Jansens Gangarten-Zyklus
Die ersehnte, letztlich vergebliche Grenzüberschreitung nimmt auch der Dichter Johannes Jansen in den Blick. Jansen gehörte zu den jüngsten Akteuren der Szene: Nicht selten erkundet er in seinen Texten die städtische Topographie Ostberlins auf neue Weise; die zerrüttete, nichts mehr mit einer organischen Natur gemein habende ›Landschaft‹ ist hierfür ein prominent wiederkehrendes Thema (vgl. Böttcher 2000: 104; Böthig 1997: 122). Auch die S-Bahn kommt darin immer wieder vor, so etwa in Jansens drei Gangart-Texten, die zunächst 1985 in der Untergrundzeitschrift Schaden, dann 1986 in der Grafik-Lyrik-Anthologie Flugschutt und später, 2007, im Band im keinland ist schönerland stumm bei kookbooks als Teil eines größeren Gangarten-Zyklus erschienen.
Sie haben analog zum Erb-Gedicht den Wechsel von Bewegung und Stillstand zum Thema, wobei Straßenbahnen, S-Bahnen und Transitzüge ebenso eine Rolle spielen wie die individuelle Fortbewegung zu Fuß. Das Gedicht gangart 1 ist so etwa an der Tram-»endstelle« und stillgelegten S-Bahn-Station Bornholmer Straße situiert:
gangart 1
fort sind die schritte die bilder die ein bahnhof waren von fuß
zu fuß den fortschritt einverleibt gehe ich durch einen darm
als ginge ich durch einen darm und es geht gut fuß vor fuß
und es geht ein scharfer wind in den offenen rachen des red-
ners der auf mich zutritt heraus aus dem schatten der pulte
und bühnen der zeigefinger wankt und fällt zwischen mich
und die straßenbahnschienen endstelle bornholmer straße
und
es ist ein flüstern da eine brücke voller lichter die stadt ein
sandhaufen voller augen die ich zu kennen glaube und wieder
die tür hinter mir schließe ohne den käfig zu verlassen
von fuß zu fuß
durch den
darm
nördlich
gehe ich
neben der straße
(bornholmer straße)
(Jansen 2007: 49)
Das Gedicht ist in zwei ungleich große Textblöcke gegliedert, die nur durch ein schmales »und« (V. 8) überbrückt, miteinander verbunden werden. Während der erste Block die Situation des Ichs auf der Ostseite beschreibt, die Fahrt mit der Straßenbahn an die »endstelle« (V. 7) Bornholmer Straße, besteht der zweite Block aus einem vorsichtigen Blick über Brücke und Grenze, franst zum Ende des Textes allerdings stufenförmig aus.
Die beschriebene S-Bahn- und Tramstation Bornholmer Straße war im geteilten Berlin nicht nur ein wichtiger Grenzübergang – die Trassen Wollankstraße-Gesundbrunnen bzw. Pankow-Schönhauser Allee, auf deren halber Strecke sich der S-Bahnhof Bornholmer Straße befindet, waren quasi der einzige Abschnitt in Berlin, an dem Ost- und West-S-Bahnen nahezu parallel zueinander fuhren. Dieser Umstand führte dazu, dass Mauer und Grenzzäune errichtet wurden, und der S-Bahnhof als historischer Knotenpunkt zwischen den Trassen nicht bedient werden konnte. Als die direkt über dem Geisterbahnhof errichtete Bösebrücke, die als streng regulierter Grenzübergang fungierte, lässt sich das flaschenhalsartige »und« in Jansens Text identifizieren. Sowohl Gedicht als auch Grenzübergang sind dergestalt nicht, wie bei Fries, in der Peripherie situiert, sondern gerade im leeren Zentrum. Im Kontrast zu Johnsons Nachtrag zur S-Bahn steht der Bahnhof hier auch nicht für einen Erinnerungsraum, sondern für einen Ort des politisch gewollten Verdrängens: Die ehemalige Geschäftigkeit lässt sich für das nach dem Mauerbau geborene Ich nur noch über »bilder« (V. 1), die von ihm wie Negativfolien über die Ruine gelegt werden, dunkel erahnen. In diesem Sinne ist dem Ich sowie dem Bahnhof der »fortschritt einverleibt« (V. 2), die teleologisch ausgerichtete Staatsideologie des Sozialismus hat an Ort wie Person ein nachhaltiges Zerstörungswerk verrichtet. Für das Ich ist der Weg zum Grenzort kein einfacher Spaziergang, sondern mit großen Anstrengungen verbunden: Mühsam quält es sich »durch einen darm« (V. 2), der in diesem Fall die in der Nähe haltende Straßenbahn bedeuten könnte. Die »aus dem schatten der pulte / und bühnen« (V. 5f.) heraustretende Person könnte einen Straßenbahnfahrer darstellen, dessen autoritärer Gestus im zweiten Teil des Gedichts allerdings durch »ein flüstern« kontrastiert wird, das offenbar von der anderen Hälfte der Stadt, vom anderen Ende der Bösebrücke, »eine[r] brücke voller lichter«, hinüberhallt (V. 9). Doch es bleibt bei der bloßen Ahnung: Die Wächter des Grenzübergangs, ins Bild gefasst als »sandhaufen voller augen« (V. 10), rufen im Ich wieder die Erkenntnis wach, dass es die Grenze nicht überschreiten kann – es findet sich nicht am Geisterbahnhof unter der Bösebrücke wieder, sondern erneut in der Straßenbahn. Im Gang »von fuß zu fuß« (V. 12) versucht sich das Ich zwar der geradlinigen Strecke gen Norden zu widersetzen, schweift zum Ende hin aus, bleibt jedoch im »darm« gefangen, schafft es nicht, dem leeren Zentrum eine eigene Seinsweise abzutrotzen.
Während das nächste Gedicht schrittfolgen (Jansen 2007: 50) einige Motive variiert und neu kombiniert, etwa noch einmal expliziter von der »in grenzen« (V. 3) geschnittenen »frontstadt« (V. 1, 21) schreibt, von einem »diktierten bekenntnis« (V. 24) der allumfänglichen Gleichheit, das von einer Schar kopfloser »wächter« (V. 25, 27) gegen jede »eigen[e] gangart« (V. 16) durchgesetzt wird, ist das Ich im Text gangart 2 wieder entlang der Schienen unterwegs:
gangart 2
mögliche richtungen zwischen schiene und strang gehst du
vom ausgangspunkt zum ausgangspunkt mit der entfernung
nimmt deine größe zu und ein wort gibt das andere das gang-
bare auf der landkarte die sternenhimmel heißt hast du weiter
nichts weiter oben faltest du die zeitung siehst du unter dem
graugrün die wurzeln unter dem gelb das fleisch unter den
pflastersteinen den strand unter den wörtern die hast im
schritt den abgehaunen fuß wir reden davon machen mit der
sofortbildcamera ein loch in die landschaft es ist weiß es ist
möglich der tag ist weiß und einfach wie die vergangenheit
perfekt war im buch unter dem schrank der staub die stadt in
der mitte richtung schönhauser allee mit der s-bahn zur rech-
ten ein stück verrostete brücke
(pankow)
(Jansen 2007: 51)
Auch dieses zweite Gedicht hat, mit der Bahnstrecke zwischen Pankow und Schönhauser Allee, den (hier ungenannten) Geisterbahnhof Bornholmer Straße zum Mittelpunkt – doch diesmal bewegt sich ein Gegenüber, ein Du, in verschiedene »mögliche richtungen«, auch wenn es sich dadurch in gefährliche Fahrwasser »zwischen schiene und strang« zu begeben scheint (V. 1). Ziel ist das Ausloten des Möglichen, »das gang- / bare auf der landkarte die sternenhimmel heißt« (V. 3f.), wobei es sich offenbar um eine sprachliche Karte handelt, die durch Worte als Ausgangspunkte organisiert ist, zwischen denen das Du sich hin- und herbewegt: »unter den wörtern die hast« (V. 7). Vor allem jedoch liegt hier ein nahezu wortgetreues Zitat aus Georg Lukács’ Theorie des Romans vor. Während Lukács selbst als beliebter theoretischer Angelpunkt in der Etablierung des sozialistischen Realismus fungierte, wurde ausgerechnet die Theorie des Romans weitgehend unter Verschluss gehalten und kam in der DDR explizit nicht zur Veröffentlichung. Das hinderte allerdings einige Autor:innen des Prenzlauer Bergs nicht daran, sich intensiv mit Lukács’ Theorie auseinanderzusetzen; Zeugnis dafür legt unter anderem ein umfangreicher Vortrag von Asteris Koutoulas aus dem Jahr 1983 ab (vgl. Koutoulas 1983). Der berühmt gewordene erste Satz des Traktates, auf den Jansen hier anspielt, ist auch für Koutoulas von großer Bedeutung: »Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt.« (Lukács 1963: 22)
Koutoulas interpretiert den Satz als Zurücksehnen in das »Weltzeitalter des Epos«, mit dessen Beschreibung Lukács’ Theorie einsetzt: einen Zustand der vollständigen Übereinkunft von Ich und Welt, die im Zeitalter des Romans durch einen radikalen Individualismus verloren gegangen sei. Koutoulas zufolge sehnt sich Lukács zurück nach einer idealisierten »Gesellschaft, in die das Individuum integriert ist«, und die eine »größere, objektivere Substantialität« besitzen muss (Koutoulas 1983). Auch Jansens Du versucht Kollektivität herzustellen, allerdings über die individuelle »gangart« (Jansen 2007: 51), das souveräne Bewegen auf der »landkarte die sternenhimmel heißt«, und damit außerhalb des vorgegebenen S-Bahn-Verkehrs: Gerade im Reden über die ideologisch gesetzten Grenzen, die sprachliche Zensur und Beschneidung der eigenen Bewegungsfreiheit (»im / schritt den abgehaunen fuß«, V. 7f.) findet das Gedicht ein »wir« (V. 8), eine neue Gemeinschaft: Schon die bloße Dokumentation dieser Grenzziehungen (hier ins sprachliche Bild durch eine »sofortbildcamera« gefasst) kann bereits ein »loch in die landschaft« stanzen (V. 9). Die Textsubjekte in Jansens Gedicht nehmen diese Entwertung nun durch einen Blick in die »vergangenheit« vor, in das im Staub liegende »buch unter dem schrank« (V. 10f.) – das Abschreiten der stillgelegten S-Bahn-Gleise gleicht dem Lesen und Schreiben fernab der offiziellen Staatslinie. Dass dieses Ausloten von Möglichem und Sagbarem eben nur schrittweise, »vom ausgangspunkt zum ausgangspunkt« (V. 2), geschehen kann, führt das Gedicht mit einer Aufzählung ohne Kommata im Zentrum des Textes selbst vor, in dem eine Assoziation zur nächsten führt, und dadurch jenes »loch in der landschaft«, ein neuer ästhetischer Freiraum, abgesteckt wird. Der Blick fällt schließlich wieder auf das »stück verrostete brücke« (V. 13), die grenzüberschreitende Bösebrücke entlang der Ostberliner S-Bahn-Strecke.
Im folgenden Gedicht gangart 3 (Jansen 2007: 52f.) wird diese forcierte Andersheit, das Abweichler- und Aussteigertum, noch einmal ausbuchstabiert: Es geht hier nicht mehr nur um das Was, sondern um das Wie der eigenen Gangart. In Anlehnung an das Cartesianische Cogito-ergo-sum ist die Sentenz: »wie ich denk bin ich«, zu lesen (V. 2); wieder werden Photographien und »verworfene staturen« geborgen (V. 5), werden Spuren gelesen als »zeichen / die ich messen konnte / vor meiner ankunft / die feststanden / wenn ich schwieg« (V. 17-21), die also erst durch das Sprechen und Schreiben eine eigene Dynamik entwickeln. Fast spiegelbildlich zu Johnsons Versuch, über die S-Bahn »das Zeichensystem des fremden Landes zu erlernen« (Johnson 1975a: 20), geht es Jansen darum, das ihm auferlegte Zeichensystem im Umgang mit den Randzonen der S-Bahn zu überwinden. Jansens Gedicht zeichnet der Versuch aus, »hinter schatten und land« (Jansen 2007: 51, V. 26) zu treten, »nach dem ausruf der fahrzeit / richtung bahnhof« (V. 10f.) einen eigenen Weg einzuschlagen. Die S-Bahn ist dabei, wie schon bei Erb, ein Symbol für das in feste Bahnen geleitete Denksystem des Sozialismus – kann aber im Blick auf Nachtseiten, Geisterbahnhöfe, blinde oder stillgelegte Stellen auch Anhaltspunkte für individuelle Abzweigungen liefern, für das Einschlagen einer »gangart« jenseits offizieller Vorgaben.
Nach Westen im Traum
Annett Gröschners S-Bahn-Miniaturen
Eine ähnliche Ambivalenz findet sich auch in Annett Gröschners Erzählung Nach Westen im Traum. Das 2014 in der Anthologie Welche Mauer eigentlich? veröffentlichte Prosastück präsentiert sich als Tagebuch verschiedener Träume aus den Jahren 1981 bis 1989.12 Den Träumen, deren Beschreibungen unterschiedlich detailliert und realitätsnah ausfallen, ist gemein, dass sie Migrationsbewegungen in den Westen (Westberlin, Frankfurt am Main, Los Angeles) imaginieren – wobei der S-Bahn in mehreren der erträumten Grenzübertritte eine signifikante Rolle zukommt. So kann das sich in einen Traum von 1981 zurückversetzende Ich etwa kaum zwischen Ost- und West-S-Bahn unterscheiden: »Mit der S-Bahn fuhren wir über die Grenze, wir merkten es gar nicht, es ging ganz schnell. Die Stühle im Inneren des Wagens waren rot gepolstert und hatten braune Griffe. Erst dachte ich, die Bahn wäre moderner, aber dann fiel mir ein, dass die S-Bahn ja von der DDR verwaltet wird.« (Gröschner 2014: 129)
Der geschilderte Traum ist somit nicht nur unterfüttert mit einem sehr gegenständlichen Wissen über die politische Situation der Westberliner S-Bahn – die S-Bahn markiert hier auch einen gemeinsamen Nenner zwischen Ost und West, unterläuft die Idee von der innerdeutschen Grenze als ›Mauer aus Zeit‹ und dient als Transportmittel für einen nahezu unmerklichen Grenzübertritt. In einem Traum aus dem Sommer 1984 steigt das Ich auf der Ostseite, an der Invalidenstraße, versehentlich in den falschen Zug und gelangt unbemerkt bis zum Gesundbrunnen, wo es – ganz im Sinne der mythischen Konnotation des Stationsnamens – ein opulenter Festsaal mit einer Art Gralsprozedur erwartet. Die Westberliner Seite erweist sich somit ebenfalls als durch strenge Konventionen und Verbote geregelt – »Es ist nirgends anders« (ebd.: 131), verkündet eine Schulfreundin, die das Ich auf der Westseite der Mauer wiedertrifft. Der Traum endet nicht mit einem Gefühl des Ankommens, sondern mit der Sorge darüber, wie nach Ostberlin wieder zurückzugelangen sei. Im Schlussbild des Abschnitts findet sich das Ich auf einer »rot-weißen Stange« wieder, einem »Schlagbaum« (ebd.): Der scheinbar reibungslos vollzogene Grenzübertritt mit der Berliner S-Bahn wird dem Ich erst auf westlichem Territorium jäh bewusst.
Auch der letzte, in aller Kürze geschilderte Traum – datiert auf den 10. Oktober 1989, den Tag nach der großen Montagsdemonstration in Leipzig, einen Monat nach Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze und einen Monat vor dem Mauerfall – hat einen Grenzübertritt mit der S-Bahn zum Thema. Die Devianz liegt hier allerdings nicht mehr im Individuum begründet, sondern erfolgt durch das Entgleisen eines kompletten Zuges, der »plötzlich vom Weg abkam und eine Kurve nahm, immer an der Mauer entlang, bis [er] an das andere Ende der Karl-Marx-Allee gelangte, von dem ich wusste, dass es schon auf dem Territorium von Westberlin lag.« (Ebd.: 134) Es ist die Bahn als Ganzes, die nunmehr ihr Ziel verfehlt; sie erscheint als Symbol für das sozialistische System, das den vorgesehenen Kurs verlässt und in den Westen driftet. Die Erzählerin betont wiederum die große Ähnlichkeit der an sich verschiedenen Welten in Ost und West und die scheinbare Selbstverständlichkeit des Grenzübertritts, der hier als fast beiläufig inszeniert wird. Sie weist damit voraus auf die Normalität des Bahnfahrens im wiedervereinten Berlin und aktualisiert doch zugleich im Rückblick auf den datierten Traum die vergangene Zukünftigkeit, das utopische Moment einer solchen, anderen Berliner Topographie.
Verborgene Zwischenräume
Berliner S-Bahn-Texte zwischen Ost und West
Auf beiden Seiten der Mauer stand die S-Bahn für das Verbindende und für das Trennende im geteilten Berlin. Die Stadterfahrung, welche die S-Bahn ermöglichte (und ermöglicht), unterscheidet sich, was Wahrnehmungsweise, Temporalität und Affektivität betrifft, entschieden vom gemächlichen und distanzierteren Modus des Flanierens oder dem psychogeographischen Verfahren des Umherschweifens (vgl. Lubkowitz 2020): Die S-Bahn schlägt Schneisen durch die Stadt, sie gewährt einen flüchtigen, aber privilegierten Einblick auf ihre verborgene Rückseite, auf die »Hinterhofvisage Berlins« (Armanski 1981: 8): »Die S-Bahn gehört zu unseren Intimitäten« (Johnson 1975d: 43), wie Johnson betont. Dabei bieten sich »[u]nerwartete Einsichten« (Kunert 2004: 110) im Modus der Plötzlichkeit: »Unvorsichtig nähert sich die Brandmauer dem aufgebockten Gleiskörper, daß der Fahrgast fürchten muß, sogleich schaffe es ihn in Wohnungen, Räume, Säle, durch Badestuben, Aborte, Kammern und lade ihn unversehens in einem Hinterzimmer aus, von wo kein Zug ihn je wieder abholen würde.« (Ebd.: 111)
Doch gab es hinsichtlich der Alltagsnutzung sowie der affektiven und raumsemantischen Besetzungen in Ost und West frappante Unterschiede. Durch Westberlin fuhren »Züge aus der Vergangenheit«, die kaum mehr als funktionales Nahverkehrsmittel, sondern eher als »Allegorie deutscher Geschichte« (Armanski 1981: 10) wahrgenommen wurden: »gleichsam freischwebende Gebilde, erratisch inmitten neudeutscher funktionaler Glitzerwelt, in so vielen Details und Gebrauchswertaspekten das uneingelöste Versprechen des Zweckfreien, Müßigen und Schönen«, die »im Verfall noch den Vorgriff« (ebd.: 7) enthielten. In Ostberlin hingegen florierte die S-Bahn, sie verkörperte metonymisch den Staat, seine rigide Ordnung, die verordnete Fortschrittsbegeisterung, sie brachte das Eingeschlossensein in Grenzen zu Bewusstsein und löste zugleich transgressive Dynamiken aus: imaginäre Migrationen von Ost nach West, Grenzüberschreitungen aus Realität und Routine ins Phantastische. Sei es im erträumten (Gröschner), verwehrten (Jansen) oder geglückten (Johnson) Grenzübertritt mit oder entlang der S-Bahn, sei es in der Suche nach einer individuellen (Kunert) oder kollektiven (Fries) Stadtidentität oder in einer radikalen Resignation zwischen »Bewegung und Stillstand«, wie sie Elke Erb vor Augen führt: Die durch die S-Bahn gezeichnete, strukturierte Stadt verweist auch auf verborgene Zwischenräume und fordert die Bewegung des schreibenden Ich durch die Topographie des geteilten Berlin vielfältig heraus.
Anmerkungen
1 Der vorliegende Aufsatz entstammt den Arbeitszusammenhängen des Forschungsprojekts »Writing Berlin«, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder innerhalb des Exzellenzclusters Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective – EXC 2020 – Projekt-ID 390608380.
2 Johnsons Aufsatz entstand kurz vor dem Mauerbau und wurde 1961 im Merkur unter dem Titel Berliner Stadtbahn veröffentlicht; bei seiner Wiederveröffentlichung in den Berliner Sachen (1975) ergänzte Johnson den Titel zu: Berliner Stadtbahn (veraltet). Zur Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte des Textes vgl. Elben 2002; zur Zusammenstellung der Aufsätze in den Berliner Sachen vgl. Gillett 2000.
3 »Die Zusammenarbeit dieser Netze, der von Adern leicht vergleichbar, sagt gut für Gesundheit der Stadt. Ihr Blut bewegt sich darin, durchläuft die Glieder, hält sie belebt.« (Johnson 1975b: 22) Der Mauerbau hat die Ringbahn, »eine fast natürliche Bahn im Organismus des Verkehrs: zerbrochen. Die Vorortlinien […]: abgewürgt, zerschnitten, tot.« (Ebd.: 25) Zu Johnsons Berlin-Metaphoriken vgl. Greite 2019: 79-82.
4 Die S-Bahn, wie sie Johnson beschreibt, unterscheidet sich signifikant von dem, was Marc Augé »Nicht-Orte« genannt hat: funktionsbestimmte, durch Einsamkeit und Identitätslosigkeit charakterisierte Transitorte – wie Flughäfen, Bahnlinien, Autobahnen u.Ä. –, die für die Gegenwart der »Übermoderne« (Augé 2014: 97) bezeichnend sind. In seiner Studie Ein Ethnologe in der Metro (1986) hat Augé die urbane Mobilität gezielt ins Auge gefasst und die anonymen sozialen Beziehungen in diesem »überkodierten Raum-Zeit-Gefüge« (Augé 1988: 52), das von der historischen Urbanität des Stadtraums abgetrennt ist, dargestellt.
5 »Die Berliner S-Bahn habe ich gelernt an den Linien, die sie den Reisenden vor die Stadt entgegenschickte. Immer wieder, wenn die bulligen Wagen an den Fernzügen entlangrasselten, bei Hohen Neuendorf oder am Grünauer Kreuz, sah man den Berlinern im Abteil das Ende des Heimwehs an. Für sie war die S-Bahn die erste Begrüßung mit ihrer Stadt, jetzt waren sie wieder zu Hause, nun ging es los mit Berlin.« (Johnson 1975b: 22)
6 Der Text gehört zu den bekanntesten Erzählungen Kunerts und wurde vielfach wiederabgedruckt (vgl. die Internationale Günter-Kunert-Bibliographie, Riedel 2012: 1007 [Nr. 9703 und 9704]). Auch die Atlas- Anthologie wurde wiederaufgelegt.
7 Auf den Bezug des Fenstermotivs in Kunerts Erzählung zum Abschnitt »Abreise und Rückkehr« aus Walter Benjamins Berliner Kindheit verweist Egyptien 1991: 14; Anm. 5.
8 Vgl. das Fazit, das Bernhard Greiner zieht: »›Fahrt mit der S-Bahn‹ steht für den Ansatz, das Verhältnis zwischen lebendigem Ich und Ich im Bild als ein Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Ideal zu begreifen, die ein Abgrund trennt, den Dichtung mit ihren ›Wagenladungen von Worten‹ nicht auffüllen, sondern nur manifest machen kann.« (Greiner 1985: 32)
9 Kunerts Fahrt mit der S-Bahn (und die Fahrt mit der S-Bahn) wurde offenbar als so emblematisch für die paradoxe Zusammenkunft von Nähe, Verflechtung und Unerreichbarkeit zwischen DDR und BRD und den unerlösten Zustand des Menschen in dieser Situation und angesichts der deutschen Vergangenheit genommen, dass sie als Titel für eine ganze Anthologie mit »Erzählern der DDR«, veröffentlicht 1971, ausgewählt wurde.
10 Der Bau der neuen S-Bahn-Linie geschah mitunter etwas früher als die Errichtung der geplanten Neubaugebiete, damit Bauarbeiter zur Anfahrt bereits die neue Infrastruktur nutzen konnten. Mehr Informationen zur Entstehung und Bauweise des Gensinger Viertels in Schubert 2011.
11 Erb 1991; vgl. Eigler 1993: 156. Die »Züge« übersetzt Erb im Kontext der Winkelzüge wortwörtlich mit dem englischen Wort trains, vgl. Lartillot 2017: 521-523.
12 Wir danken Cornelia Ortlieb für den Hinweis auf diesen Text.
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