Berlin im Plural
Affektive Topographien bei Emine Sevgi Özdamar, Aras Ören und Tomer Gardi
AbstractThis article traces different literary ways of engaging with Berlin’s historical topographies in works by Emine Sevgi Özdamar, Aras Ören and Tomer Gardi. It regards their texts as being an integral part of the city in an on-going dialogic process. This process is deeply interwoven with the poetics of each of the authors. The concept of affective topographies proposes to think of this relation as a dynamic of affecting and being-affected. In this view, affective topographies are explicitly including historical layers, temporalities as well as ›memory gaps‹. Reading Özdamar, Ören and Gardi alongside each other, the article lines out how the texts are linked and overlap, especially with regard to Berlin time-spaces. This dialogical reading is underscoring that Berlin’s topographies as well as Berlin’s literature are social phenomena constitutively shaped and formed by processes of (post-)migration. It sets out to provide a first sketch of what could be a literary history of Berlin within the horizon of postmigrant society.
TitleBerlin in Plural. Affective Topographies in Emine Sevgi Özdamar, Aras Ören and Tomer Gardi
Keywordsaffective topography; Berlin-Literature; Emine Sevgi Özdamar (* 1946); Aras Ören (* 1939); Tomer Gardi (* 1974)
Ein Knäuel von Trauer und Schmerz ist diese Stadt
seit eh und je
mit einer Leidenschaft für utopischen Enthusiasmus
Ören 1995: 127
In Ein von Schatten begrenzter Raum, ihrem 2021 erschienenen opus magnum, setzt sich Emine Sevgi Özdamar rückblickend mit ihrem Werdegang als Künstlerin und Schriftstellerin auseinander. Ihre Annäherung erfolgt topographisch, denn die Autorin verbindet ihr Schreiben immer wieder mit der Geschichte und Gegenwart Berlins. So reflektiert sie mehrfach historische Zusammenhänge, die die geteilte Stadt, aber auch andere wichtige Stationen wie Paris oder Istanbul charakterisieren und miteinander in Beziehung setzen. Bei ihrer ersten Begegnung im Jahr 1966 wirkt Berlin »müde« auf sie, »ein zahnloser Mund«, es hatte »Gedächtnislücken« (Özdamar 2021: 53); in den stummen Straßen nimmt die Ich-Erzählerin vor allem die Spuren der Kriegszerstörungen deutlich wahr. Sie folgt dem Hinweis »Sie verlassen den amerikanischen Sektor« (ebd.), und auf ihrem Weg Richtung Friedrichstraße rücken Checkpoint Charlie, der geschlossene jüdische Friedhof und ein Bahnhof, an dem die Westberliner U-Bahn nicht hält, unmittelbar zusammen.
Die von Schuld getränkten Straßen drängen und verdichten sich zu affektiven Raumgebilden, zu Topographien, die in Özdamars literarischer Darstellung zwischen Realität und Fiktion changieren und sich wechselseitig spiegeln. Ihr Vorgehen kann als Affizierung oder Intensivierung der vielfältigen Beziehungen zwischen Orten und Zeiten beschrieben werden; mit Bachtin lässt es sich auch als Verdichtung und literarische Sichtbarmachung der Zeit im Raum verstehen.1 Dieses Verfahren der Verdichtung ermöglicht einen ersten Zugang zu der Frage, wie affektive Topographien im Schreiben mit der Stadt entstehen und wie Berlin literarisches Schreiben bedingt.
In Ein von Schatten begrenzter Raum tritt Özdamar in einen intensiven und vielfältigen Dialog mit Menschen, Häusern, Städten, Sprachen, Friedhöfen, Literatur-, Film- und Theatertraditionen und sogar mit sprechenden Krähen. In der Form von Erinnerungen und Rückblicken, stets aber bezogen auf die Berliner Gegenwart der Autorin, entsteht ein vielschichtiger Text, in dem sich immer wieder verschiedene Orte und Zeitebenen überlagern. In dialogischem Austausch entwirft der Text, der auch als Fahrtenbuch charakterisiert werden könnte, affektive Topographien von Freundschaften, Arbeits- und Liebesbeziehungen, welche die Erinnerung an die Toten einschließen. Schon der Titel hebt die affektive Dimension des Raumes hervor, der stets abhängig von verschiedenen Blickwinkeln und Perspektiven ist und auf vielfache Weise als begrenzt wahrgenommen wird. Gleichzeitig überschreitet Ein von Schatten begrenzter Raum diese Grenzen durch die eigene künstlerische Arbeit und insbesondere die teils phantastischen Züge des eigenen Schreibens, die zwischen Realität und Fiktion sprachlich vermitteln.
Özdamars autobiographischer Text steht hier aus verschiedenen Gründen am Anfang: Er umfasst von den 1960er-Jahren bis in die aktuelle Gegenwart hinein den historischen Zeitraum unseres Schwerpunktheftes und perspektiviert Berliner Topographien immer wieder in Wechselwirkung mit anderen Städten. Kehrt die Autorin in ihre Wohnung in Kreuzberg zurück, schaut sie beinah wie E.T.A. Hoffmanns Vetter durchs Fenster auf einen Platz, auf dem die Zelte von Geflüchteten stehen, die sie wie Jenny Erpenbeck in Gehen, ging, gegangen als Teil des städtischen Geschehens begreift.2 Özdamar nimmt die Berliner Straßen als öffentliche Orte gesellschaftlicher Auseinandersetzungen wahr und knüpft damit an die Positionen von Aras Ören und dessen Ansätzen einer engagierten Berliner Literaturgeschichte an.3 Vor allem aber setzt sich Özdamar mit der deutschen Vergangenheit im Horizont der transnationalen Geschichte von Krieg, Gewalt und Flucht im 20. Jahrhundert und beginnenden 21. Jahrhundert auseinander. Ein von Schatten begrenzter Raum kann damit nicht nur als Summe des Lebens einer Autorin gelesen werden, die mit ihrer Istanbul-Berlin-Trilogie seit den 1990er-Jahren selbst zur Reflexion dieser zeiträumlichen Verflechtungen in der deutschsprachigen Literatur beigetragen hat,4 sondern auch als vielschichtiges und vielstimmiges Werk der Gegenwartsliteratur, das postmigrantische Perspektiven bündelt und transnationale Berliner Möglichkeitsräume eröffnet.
Vor dem Hintergrund von Özdamars jüngstem, weit ausholendem Werk möchte ich im Anschluss an Moritz Schramm (vgl. 2018) zunächst kurz das literaturwissenschaftliche Konzept der postmigrantischen Perspektive vorstellen und mit der literarischen Darstellung von Berliner Topographien im Plural verknüpfen. Anhand der Romane Berlin Savignyplatz (1995) von Aras Ören und broken german (2016) von Tomer Gardi skizziere ich dann im Folgenden, wie seit den 1990er-Jahren topographische Schreibverfahren postmigrantische Perspektiven auf das Berlin der Gegenwartsliteratur hervorgebracht haben, die die Annäherung an die Stadt und ihre Geschichten zeiträumlich verbinden, sodass affektive Topographien diskontinuierlicher Aneignung sichtbar werden. Diese Topographien sind durch vielfach geteilte Gefühle charakterisiert, die den von Özdamar bemerkten ›Gedächtnislücken‹ korrespondieren: Sie sind zwischen realen Orten und Zeiten sowie der literarischen Berlin-Wahrnehmung aufgespannt und versuchen, postmigrantischen Perspektiven eine Geschichte zu geben. Topographisch verfahren die Texte der beiden Autoren – Özdamar vergleichbar – im Wortsinn, weil sie die Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart Berlins mit der Reflexion des eigenen Schreibens verbinden.
So unterschiedlich die Texte sind, weisen sie doch interessante Gemeinsamkeiten auf: Beide schauen wie Özdamar in vielen ihrer Texte retrospektiv auf Berlin und wahren dadurch einen zeitlichen Abstand, der der Reflexion historischer Entwicklungen zugutekommt. So ist ihr teilweise verworrenes Geschehen auch nicht linear erzählt, sondern episodisch und formal vielfach gebrochen. Durch ihre Vielstimmigkeit setzen sie sich nicht nur mit Geschichte, sondern auch mit der literarischen Tradition der kulturellen Moderne auseinander. Beide Romane nehmen beispielsweise auf Döblins Roman Berlin Alexanderplatz Bezug, der vom Leben auf den Straßen rund um den Alexanderplatz affiziert und selbst Teil der Berlin-Wahrnehmung geworden ist; beide beziehen mediale Bilder aus Werbung oder Film ein, die Berliner Topographien affizieren5 und ihrerseits schon Döblins modernistisches Schreibverfahren auszeichnen. Solche wechselseitigen Verdichtungen zwischen Geschichte, Literatur und Film bringen affektive Topographien hervor, die verschiedene Berlin-Wahrnehmungen überblenden, spiegeln und darin zugleich die eigene literarische Arbeit reflektieren. Dabei thematisieren sie explizit den Status des eigenen Schreibens, das auf gesellschaftliche Teilhabe zielt und traditionelle Deutungshoheiten in Frage stellt.
Berliner Topographien der Gegenwart
Postmigrantische Perspektiven
Nicht nur bei Özdamar lässt sich seit den 1990er-Jahren eine Intensivierung der literarischen Stadtdarstellung festhalten, die aus der Vielstimmigkeit formaler, historischer und sprachlicher Zugangsweisen resultiert. Viele Berlin-Texte der Gegenwart erkunden Raum und Geschichte der Stadt und beziehen dabei auch ihre literarischen Vorgängerinnen ein. Sie entwerfen affektive Topographien der Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, die Geschichte und Wandel der brüchigen und widersprüchlichen Teilhabe vieler Menschen an der Stadtgesellschaft reflektieren, und setzen sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit der Gefühlsstruktur der geteilten Stadt auseinander.
Diese Verdichtung gilt nicht nur verschiedenen Räumen, sondern auch verschiedenen Zeitlichkeiten innerhalb der Stadt. So markiert das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts den Beginn einer breiteren Auseinandersetzung mit der Erinnerung an die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs und der Shoah, die auch in türkisch-deutschen Zusammenhängen auf große Resonanz trifft (vgl. Konuk 2017) und für die Özdamar ein Beispiel ist. Viele Texte entwickeln topographische Schreibverfahren, die als Aneignungen des Stadtraums charakterisiert werden können und zentral aus affektiven Beziehungen erwachsen. Durch verschiedene Formen des Rückblicks, der Erinnerung und der Diskontinuität heben sie die Verbindungen zwischen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Geschichte verschiedener Migrationsbewegungen hervor (vgl. Adelson 2000), die Berliner Orte affizieren und Aushandlungsprozesse voranbringen, die die gesamte Gesellschaft betreffen.
Die Betonung dieser Aushandlungsprozesse, in denen der Literatur eine wichtige Vermittlungsposition zukommt, möchte ich in Anlehnung an Moritz Schramm als »postmigrantische Perspektive« (Schramm 2018: 89) bezeichnen, um nach den langen Diskussionen über Migration und Literatur nicht erneut Texte gemäß der Herkunft ihrer Autorinnen und Autoren zu klassifizieren, wie es auch im Zeichen des Postmigrantischen leicht geschieht. Das Konzept der postmigrantischen Perspektive zielt zunächst auf einen literaturwissenschaftlichen Perspektivwechsel, der die Aushandlung verschiedener Zugehörigkeiten und Nichtzugehörigkeiten als Normalfall der Einwanderungsgesellschaft begreift (vgl. ebd.). Es lässt sich aber auf die Berlin-Literatur der Gegenwart übertragen, die die Selbstverständlichkeit der skizzierten zeiträumlichen Verflechtungen akzentuiert: Auf dieser Grundlage beansprucht sie Teilhabe an einer pluralen, städtischen Gesellschaft, deren Geschichte(n) sie teilt.
Nach dem Mauerfall schließt die topographische Annäherung an das geteilte Berlin eine Historisierung der verschiedenen Perspektiven auf die Stadt ein. Die Diskussionen um das ›neue‹ Berlin in den 1990er-Jahren führen zur Frage nach der Berliner Vergangenheit, die teils entsorgt, teils museal hergerichtet und kommerzialisiert wird. Seitdem wird nicht nur immer wieder die Frage gestellt, wem die Stadt gehört, sondern auch, wer überhaupt dazugehört, wer das Berlin-Gefühl verkörpert oder schlicht, wer Berlin ist.6
Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass dem Versuch des Stadtmarketings, gerade das Leid und die Schrecken der Vergangenheit, der nationalsozialistischen Verbrechen und der Teilung vergessen zu machen, eine verstärkte öffentliche Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte – auch durch die Wahl Berlins als Hauptstadt – gegenübersteht. Dass Özdamars rückblickende Befragung Berlins ihren Ausgang an der Sektorengrenze am Checkpoint Charlie nimmt, ist vor diesem Hintergrund doppelt hervorzuheben, steht dieser Ort doch wie kaum ein anderer für die historische Aufteilung der Stadt am Ende des Zweiten Weltkriegs und für den Wandel von der ›Frontstadt‹ zum Tourismusmagneten seit dem Mauerfall (vgl. Huyssen 1997: 60).7
Die Auseinandersetzung mit Berlin in der Gegenwartsliteratur bringt immer wieder neue Entwürfe von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit an unterschiedlichen Orten und Schauplätzen hervor, die auch dazu auffordern, an gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen teilzuhaben. Der Begriff der Topographie reflektiert diese vielfachen Beziehungen zwischen konkretem Ort und Schreiben; er stiftet ein relationales Verhältnis, das räumliche und affektive Dimensionen verbindet, die dem Schreiben ebenso inhärent sind wie dem dialogischen Verständnis der Großstadt. Denn nicht nur die Sprachen der Stadt, auch der Stadtraum wird durch soziale Beziehungen hervorgebracht, die es ohne Affekte schlicht nicht gibt; Affekte und Stadtraum bedingen und beeinflussen einander, sie bringen sich wechselseitig hervor und lassen sich nur schwer voneinander trennen.
Dies gilt umso mehr für die literarische Darstellung konkreter Orte in ihren zeiträumlichen Konfigurationen. Durch ihre Verankerung im städtischen Geschehen kann die Wahrnehmung der Stadt in der Literatur miteinander geteilt werden, gleichzeitig trägt aber literarische Vermittlung auch zur Stadtwahrnehmung bei. Diesen Mitteilungen ist eine zeitliche Dimension eigen, die zwischen Wahrnehmung und Darstellung des Stadtraums trennt und damit auch dem Wandel der Stadt begegnet. Diesem Dialog zwischen Literatur und Stadt entspricht die Offenheit kommunikativer und räumlicher Prozesse, die Topographien im Plural denkt und auch die Pluralität verschiedener Zeitebenen einschließt. In diesem Sinne erscheint Berlin als affektive Zeit-Raum-Konfiguration, die durch Wechselwirkungen zwischen Stadt und Literatur, realen und fiktiven Topographien, die städtische Erfahrung verdichtet. So erhält die Rede vom ›geteilten‹ Berlin in postmigrantischer Perspektive einen doppelten Sinn: Denn erst durch die Sichtbarmachung verschiedener Perspektiven auf die Stadt erscheint das dergestalt vielfach geteilte Berlin als offener Plural.
Aras Ören: Berlin Savignyplatz (1995)
In seinem (Nach-)Wenderoman Berlin Savignyplatz setzt sich Aras Ören in nächtlichen, geradezu traumwandlerischen Begegnungen, Bildern und Episoden mit den Veränderungen der Stadt durch den Mauerfall auseinander und nimmt dabei vor allem das intellektuelle Westberlin der 68er-Generation ins Visier, das über Nacht alt geworden zu sein scheint. Rückblickend bezieht der Erzähler A. Ö. auch seine eigenen Arbeiten ein, die ihn seit den 1970er-Jahren zum wahrscheinlich wichtigsten Chronisten der türkischen Arbeitsmigration in Kreuzberg gemacht haben und Teil des intellektuellen Westberlins sind, von dem er sich gleichwohl zu distanzieren scheint. Diese rückblickende Sicht markiert den Beginn einer postmigrantischen Perspektive in Örens Werk, die die Verabschiedung der Figur des türkischen Gastarbeiters (vgl. Mani 2002; Gramling 2020) ebenso einschließt wie die Historisierung der migrantischen Lebenswelten.8 Dieser Wechsel der Perspektive schlägt sich in einer veränderten Topographie nieder, denn Schauplatz des Geschehens ist der titelgebende Savignyplatz samt seiner verschiedenen Bars und Buchläden, insbesondere der legendären Paris Bar in der Kantstraße,9 die immer noch als eines der bekanntesten Künstlerlokale der Stadt gelten kann.
Die nächtlichen Begegnungen sind im Jahr 1989 angesiedelt, beziehen aber immer wieder Erinnerungen des Erzählers an die späten 1960er und 70er-Jahre ein. Sie schaffen geheimnisvolle, affektive Topographien des Berliner Nachtlebens, in denen sich Vergangenheit und Gegenwart überlagern. Hinzu kommt, dass der Text mit Örens erster Prosaarbeit Bitte nix Polizei (1981) verwoben ist, deren Hauptfigur Ali Itır für das Geschehen in Berlin Savignyplatz zentral ist und aus der auch wiederholt zitiert wird, sodass die Westberliner Topographien rund um den Savignyplatz in mehrfacher Hinsicht zwischen Realität und Fiktion changieren, da sie reale Orte und literarische Darstellung überblenden. Dies gilt auch für einige der Figuren, die teils real identifizierbar, teils fiktiv sind. Der Text gliedert sich in zwei Teile, nämlich »Die Legende von Ali Itır« und den sehr viel kürzeren Teil »Nacht«, der die Nacht des 9. November 1989 umfasst.
In der Erzählung Bitte nix Polizei hat Ören ähnlich wie in seiner Berlin-Trilogie die Geschichte des türkischen Protagonisten mit dessen proletarischer Nachbarschaft verknüpft: Dabei geht es zum einen um die Probleme rund um seine fehlende Aufenthaltserlaubnis, während er bei Freunden Unterschlupf gefunden hat, zum anderen um das Leben der Hauswartsfamilie Gramke, Erinnerungen an den Bombenkrieg und die Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Besonderes Augenmerk gilt den weiblichen Lebensverhältnissen, namentlich Greta Gramke und ihre Tochter Brigitte,10 die Friseurin lernt und nebenbei versucht, durch Prostitution Geld zu verdienen.
Bitte nix Polizei zeigt einen langen, kalten und dunklen Dezembertag im Leben verschiedener Hausbewohner in der Kreuzberger Pücklerstraße, in der sich ihre Geschichten, Hoffnungen und Enttäuschungen auf vielfache Weise überschneiden. Der Text thematisiert Ausländerfeindlichkeit und Rassismus ebenso deutlich wie sexuelle Gewalt gegen Frauen. Am Ende dieser ›Kriminalerzählung‹ wird die Leiche von Ali Itır aus dem Landwehrkanal gezogen – offen bleibt, ob er einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist oder Suizid begangen hat. Während die Polizei nach Hinweisen auf die Zusammenhänge sucht, steht sie vor einer »Mauer« aus Schweigen seitens der türkischen Nachbarschaft (Ören 1981: 116), ein Schweigen, das Ören mit seinen türkischsprachigen Texten vernehmbar gemacht hat und auf das auch Berlin Savignyplatz rekurriert.
Der Roman schließt an das offene Ende von Bitte nix Polizei an, denn die Leiche aus dem Landwehrkanal scheint plötzlich leibhaftig in der Charlottenburger Paris Bar aufzutauchen. Der Untote oder Doppelgänger erhält sogar das erste Wort: »›Ich bin nicht er‹, wiederholte er, ›alle sehen in mir nur ihn, aber ich versichere dir, ich bin ganz bestimmt nicht er.‹« (Ören 1995: 11) Durch diesen Kunstgriff wird ein Spiel mit verschiedenen Identitätszuschreibungen eröffnet, die darum kreisen, wer Ali Itır ist, der sich selbst als »Person aus Gerüchten« (ebd.: 13) bezeichnet. Als eine mögliche Erklärung stellt sich heraus, dass das Geschehen am Landwehrkanal ein Filmdreh gewesen sein könnte und der Unbekannte in der Bar der Schauspieler des Toten ist; da aber mehrere Ali-Itır-Figuren vorkommen, bleibt die Frage offen, ob einer von ihnen der Tote ist, zumal der Erzähler selbst beginnt, sich mit Ali Itır zu identifizieren (vgl. Ackermann 1997: 16; İlkılıc̦ 2018: 61).
Mit immer neuen Phantasien über den Film am Landwehrkanal wird einerseits die »neue kulturelle Situation« Berlins (Ledanff 2009: 591) nach dem Mauerfall reflektiert, die zahllose künstlerische Initiativen, Projekte und Institutionen hervorbringt, andererseits aber auch hervorgehoben, dass die soziale Realität der Stadt ebenso wie die Geschichte der Arbeitsmigration in den laufenden gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen zunehmend ausgeblendet werden. Ohne Illusionen stellt Ali Itır fest, dass sein Name in Büchern »verewigt« (Ören 1995: 13) sei,11 an die sich aber nach siebzehn vergangenen Jahren schon niemand mehr erinnere (vgl. ebd.: 12).12 Demgegenüber verweist der Filmdreh nicht nur auf die grundlegend veränderten Produktionsbedingungen, sondern auch auf die Rolle filmischer Bilder für die Wahrnehmung und Darstellung Berlins seit den 1990er-Jahren.13
Die Bewegung von Kreuzberg nach Charlottenburg führt zu Fragen nach der Bedeutung der Westberliner Intellektuellen und Bohemiens, die auf der »kleinen Insel Savignyplatz« (ebd.: 154) von den politischen Dynamiken der Wendezeit isoliert leben, wodurch neue ›Gedächtnislücken‹ entstehen. Ören ruft noch einmal den Mythos der Westberliner Insel auf (vgl. Ledanff 2009: 591), weist ihn aber der Vergangenheit zu, während sein Roman schon von der neuen Zeit kündet (vgl. Ören 1995: 154). Dass dabei auch Grenzen und Möglichkeiten der Literatur in der Nachwendezeit verhandelt werden, zeigt sich an Örens Titel, für den Döblins Roman Berlin Alexanderplatz implizit den Fluchtpunkt bildet. Mit dem Untertitel »Auf der Suche nach der Gegenwart V« nimmt Ören darüber hinaus auf den modernen Roman à la Proust Bezug, um die ›verlorene Zeit‹ zu erinnern und zu reflektieren. Auch diese intertextuellen Bezüge sind ›Kunstgriffe‹, die eine Veränderung des theoretischen und politischen Diskurses über Migration und Literatur anzeigen. Der Savignyplatz wird dabei zu einer affektiven Topographie widersprüchlicher Teilhabe, denn während der Erzähler A. Ö. offenkundig ebenso teil an den dortigen künstlerischen Zirkeln hat wie der mutmaßlich türkische Schauspieler, wird die Figur des türkischen Arbeiters zu einem Gerücht, einer Legende oder einem Gespenst, welches das wiedervereinte Berlin umzutreiben beginnt.
B. Venkat Mani hat in diesem Zusammenhang betont, das Verdienst von Berlin Savignyplatz sei, die Figur des Gastarbeiters und der Gastarbeiterliteratur in die literarischen Debatten der 1990er-Jahre überführt (vgl. Mani 2002: 125) und damit den grundlegenden historischen Veränderungen seit dem Mauerfall Rechnung getragen zu haben: »Gastarbeiterliteratur can exist no more« (ebd.: 126). Auch wenn ich dieser Schlussfolgerung zustimme, bleibt die nächtliche Szenerie des Textes aus meiner Sicht ambivalent: So hat die Betonung von Fragen der Identität sicher zur Diskussion um gesellschaftliche Vielfalt und Pluralität beigetragen, sie wird aber von Ören auch als Teil der Versprechen der Konsumkultur perspektiviert, wie das Spiel mit der Zigarettenwerbung am Ende deutlich macht, die ein unbeschwertes Paar in »neckischer Pose« zeigt: »Auf dem Plakat waren nebeneinander ein dunkler, südländischer Mann und eine blonde Frau abgebildet. […] Unter dem Bild war zu lesen: ›Come together‹« (Ören 1995: 146). Dagegen wird der Arbeiter zu einer Figur aus Gerüchten, die sich gegen Stereotype und falsche Zuschreibungen wehrt, während der strukturelle Wandel der Arbeitsverhältnisse schon in vollem Gange ist, ein Wandel, für den die linken Künstler, Schriftsteller und Intellektuellen im Florian, im Zwiebelfisch oder in der Paris Bar aber nach dem Mauerfall zu müde sind.
Tomer Gardi: broken german (2016)
Die Auseinandersetzung mit dem Berliner Stadtraum im Horizont gesellschaftlicher Pluralität und globaler Migrationsbewegungen wird in Tomer Gardis Roman broken german (2016) aus jüdisch-israelischer Perspektive geführt. Seine Protagonistinnen und Protagonisten sind junge Erwachsene, die aus verschiedenen Ländern kommen und verschiedene Sprachen sprechen.14 Mehrsprachigkeit und Vielstimmigkeit realisiert der Autor durch eine Vielzahl unterschiedlicher Episoden und Formen bis hinein in die affektiven Raumkonstruktionen des Textes, die wechselseitig aufeinander bezogen sind. So stehen fiktiven Orten wie dem Call Shop, in dem sich die Figuren treffen, um miteinander und mit ihren weltweit verstreuten Freunden und Angehörigen zu kommunizieren, reale Orte wie das Jüdische Museum gegenüber (vgl. Vlasta 2019). Das Geschehen ist weitgehend in der unmittelbaren Gegenwart angesiedelt, wird aber nicht linear entwickelt, sondern setzt rückblickend Ende der 1990er-Jahre ein, als einige der Figuren noch Kinder in Berlin waren. Gardi knüpft damit – und zwar ebenfalls im Rückblick – an den Beginn der Entwicklung postmigrantischer Perspektiven an, für die sowohl Ören als auch Özdamar als Vorreiter gelten.
So nimmt der Text explizit auf die Berliner Geschichte der Arbeitsmigration Bezug, wenn der Ich-Erzähler und Autor sich als »Gastarbeiter« und »Arbeitsmigrant in der deutsche Sprache« (Gardi 2016: 101) bezeichnet. Er deutet dadurch nicht nur ironisch an, dass er als jüdischer, mehrsprachiger Autor im deutschen Literaturbetrieb keineswegs gleichberechtigt, sondern allenfalls zu Gast ist. Er reflektiert auch den ökonomischen Strukturwandel der globalisierten Stadt und dessen Auswirkungen auf die Arbeitsverhältnisse, wenn er davon erzählt, dass einer der Protagonisten im Borsig-Center in Tegel gerade seine Arbeit in einem Laden für »Orientalische Spezialitäten« (Gardi 2016: 30) verloren hat. Kann das Shopping-Center als Hinweis auf das ›neue‹ Berlin gelesen werden, so ist von den Borsig-Werken, in denen der alte Herr Kutzer aus der Naunynstraße geschuftet hat, nur noch der Turm stehen geblieben. Durch den Wandel dieser konkreten Orte werden rückblickend die Veränderungen in der Stadt seit den 1990er-Jahren erhellt, an deren Ende der Umzug von Regierung und Parlament 1999 sowie die Eröffnung des Jüdischen Museums 2001 stehen.
Wie der Titel deutlich macht, sind die zentralen Themen des Textes Mehrsprachigkeit und Vielstimmigkeit der Berliner Gegenwart auf der einen Seite sowie die Auseinandersetzung mit dem Bruch der Zivilisation – und ihrer Vielstimmigkeit – durch die Shoah und der Erinnerung daran auf der anderen Seite. Eines der wichtigsten Anliegen des Textes besteht darin, durch die topographische Auseinandersetzung mit der Stadt Deutungshoheiten in Frage zu stellen und auch auf der Ebene der Erinnerung ›Berlin im Plural‹15 einzufordern. Dabei rückt bereits die Architektur des Jüdischen Museums, dem wichtigsten Schauplatz des Textes, Brüche und Kontinuitäten der deutschen Geschichte ins Zentrum, in ein leeres Zentrum zumal, das nachdrücklich die Frage nach dem deutschen Selbstverständnis und der Gegenwärtigkeit jüdischen Lebens im heutigen Berlin aufwirft. Der Entwurf von Daniel Libeskind Between the lines macht die Konflikte um das Konzept des Jüdischen Museums sichtbar und stellt sie offensiv in den Stadtraum hinein.16 Gleichzeitig problematisiert die architektonische Form des Museums in ihrer räumlichen Verdichtung, wie und was erinnert werden kann, welche Beziehungen Erinnerung konstituieren und wer darüber bestimmt (vgl. Huyssen 1997: 75).
Diese Frage wirft schon die erste Episode des Romans auf, die davon handelt, dass einige der Protagonisten als Kinder an einer U-Bahn-Station von betrunkenen Skins bedroht werden. Während der Text damit an die Gewalt von Rechtsradikalen in der Nachwendezeit erinnert, heißt es nur wenig später, dass dies die »glückliche, freie, schönne Tagen von Pre-Nine-Eleven und Bush War on Terror« (Gardi 2016: 7) waren; Tage, die so schön vielleicht doch nicht waren oder aber schön im Vergleich zu dem, was noch kam, eine Frage also der Erinnerung und der Perspektive.17
Diese Kindheitserinnerung wird in einer späteren Episode aufgenommen, als Radili, eine der Figuren, in einer linken Künstlerwohngemeinschaft zu Gast ist und von dieser Situation erzählt – wobei er als guter Erzähler das Ende leicht verändert und angibt, seitdem ein Messer besessen zu haben, das er später in einem Park in der Nähe »begrabte« (ebd.: 9). Ironischerweise nimmt einer der Anwesenden gerade dieses Ende zum Anlass, ein antirassistisches Filmprojekt zu starten, das gar nicht danach fragt, wessen Geschichte hier buchstäblich ausgegraben werden soll. Die im Text mehrfach aufgenommene Filmidee der Ausgrabung wirft ein recht sarkastisches Licht auf die Vorstellung einer abgesunkenen Geschichte, die aus Gründen der »Nachbesserung. Fehlerbehebung. Wiedergutmachung« (ebd.) an den Tag gebracht werden muss, als gelte es, einen Schatz zu bergen. Sie weist damit aber auch auf die vielen Facetten im Umgang mit Erinnerung hin, der sich nicht zuletzt im Stadtraum manifestiert.18
Dies gilt schließlich zentral für die Stolpersteine, die in broken german die Shoah und mit ihr die Zerstörung multipler Zugehörigkeiten im Stadtraum adressieren und auf diese Weise als affektive Topographien en miniature – Topographien des Anstoßes, der Erinnerung und der Trauer – gelesen und wahrgenommen werden können. Dass der Erzähler den Stolpersteinen in Neukölln begegnet, einem Stadtteil, der heute wie vielleicht kein anderer mit Migration verbunden wird, unterstreicht das Anliegen, jüdische, deutsche und migrantische Geschichte(n) miteinander in Beziehung zu setzen und ihnen zwischen Sonnenallee, Weser- und Weichselstraße einen konkreten Ort zu geben (vgl. Gardi 2016: 31).
So reflektiert der Erzähler in ironischer Auseinandersetzung mit der Form des Libeskind-Baus, welchen Platz Migrantinnen und Migranten und damit auch heute in Berlin lebende Jüdinnen und Juden im Museum einnehmen; er überlegt, wie es wäre, sich als Jude im Museum zu verstecken und gewissermaßen Teil der Ausstellung zu werden: »Die Leere scheinte der Architekt hier sehr zu beschäftigen. Als Metaphor, also. Und seine passende architektonische Form. Und als Thema. Unter die Treppe ist eine gute Stelle. Am Garten des Exils kann man sich auch verstecken. Auf eigene Gefahr, steht da am Eingang. Auf eigene Gefahr ist es ins Exilgarten rein zu tretten. Klar.« (Ebd.: 70)
Die Architektur des Jüdischen Museums wendet sich entschieden gegen das Ausblenden der deutschen Geschichte, wie sie teilweise die Diskussionen um das ›neue‹ Berlin bestimmt haben, und setzt ein Zeichen für die Komplexität der Erinnerungsarbeit, die verschiedenen Perspektiven Rechnung trägt.19 Sowohl Libeskind als auch Gardi wenden sich dabei gegen eine Musealisierung des Stadtraums, die sich gegen Veränderungen – und sei es eben den Wandel der Erinnerung – verschließt. Der vielstimmige Text plädiert vielmehr für affektive Topographien multipler Zugehörigkeiten, die sich ähnlich wie bei Özdamar auch in den wechselseitigen Spiegelungen der verschiedenen Episoden und Formen niederschlagen.
Zu dieser Formenvielfalt gehört nicht zuletzt das Genre der Kriminalerzählung, die als Bezug auf Aras Ören gelesen werden kann, seine frühe Auseinandersetzung mit dem Stereotyp ›krimineller Ausländer‹ aber zugleich parodistisch steigert, indem eine Leiche im Keller des Jüdischen Museums gefunden wird. Schließlich stiftet das Filmthema einen weiteren Bezug zu Örens und Özdamars Werken, da broken german die Bedeutung des Films für die Westberliner Szene der 1970er und 80er-Jahre in die Gegenwart mehr oder weniger improvisierter Kunstprojekte überführt (vgl. Buchmann 2021), eine Bewegung, die schon in Berlin Savignyplatz einsetzt. Gleichzeitig fällt auf, dass Gardi die selbstgerechte, aktivistische Arbeit an einem antirassistischen Filmprojekt zur ›Wiedergutmachung‹ deutlich kritisiert, das Opfer von Gewalt vor der Kamera agieren lässt, um deutsche Schuld zu bewältigen. Demgegenüber öffnet die postmigrantische Perspektive von broken german den Blick für vielfach geteilte Geschichten und multiple Zugehörigkeiten im Horizont der Einwanderungsgesellschaft.
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Die Auseinandersetzung mit affektiven Topographien zeiträumlicher Verflechtungen in der Berlin-Literatur seit den 1990er-Jahren steht noch am Anfang. Festgehalten werden kann, dass sich hier nationale, deutsch-deutsche und transnationale Geschichten vielfach verbinden und dadurch überkommene Deutungshoheiten in Frage gestellt werden. Wie die Texte so unterschiedlicher Autoren wie Ören und Gardi zeigen, zielt diese Auseinandersetzung zum einen auf die Reflexion künstlerischer Arbeit unter neuen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen sowie den Status des eigenen Schreibens, ein Anliegen, das zentral auch Özdamars Epos Ein von Schatten begrenzter Raum bestimmt. Zum anderen geht es darum, die Vielstimmigkeit Berliner Geschichte und Gegenwart sprachlich wie formal zur Geltung zu bringen, um gesellschaftliche Pluralität und postmigrantische Perspektiven im Schreiben mit Berlin zu vermitteln.
Anmerkungen
1 Michail Bachtin hat in seinen Studien zum Chronotopos verschiedene Zeit-Raum-Konfigurationen in der Literatur untersucht. Bestimmt wird der Chronotopos ihm zufolge dadurch, dass er Zeit und Gefühle verdichtet und dadurch dem Raum Intensität verleiht (vgl. Bachtin 2008: 7). Zur Bedeutung Bachtins für die literaturwissenschaftliche Affekttheorie vgl. den Überblick von Acker/Fleig/Lüthjohann 2019: 13, sowie eingehend Acker 2022. Dieser Aufsatz ist im Rahmen des Forschungsprojekts »Geteilte Gefühle« entstanden, das durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Sonderforschungsbereiches 1171 Affective Societies gefördert wird.
2 Zum Oranienplatz und Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen vgl. den Beitrag von Sara Maatz in diesem Heft.
3 Zu den frühen Texten von Aras Ören und dem Westberliner Kontext vgl. die Beiträge von Ela Gezen und Jule Thiemann in diesem Heft.
4 Zur Auseinandersetzung mit der Geschichte des Anhalter Bahnhofs und der Erinnerung an die Shoah im Roman Die Brücke vom Goldenen Horn vgl. den Beitrag von Hansjörg Bay in diesem Heft.
5 Vgl. dazu am Beispiel des Potsdamer Platzes auch Huyssen 1997: 66; zur Bedeutung des Films für die Entwicklung postmigrantischer Berlin-Perspektiven vgl. auch den Beitrag von Andrew Webber in diesem Heft.
6 Vgl. zum Wandel des Stadtmarketings seit den 1990er-Jahren insbesondere Colomb 2012; vgl. auch Bauer/Hosek 2017; zum Stadtmarketing mit Blick auf die Eigenlogik der Städte vgl. Löw 2010: 188-213, zum »Berlinsein« vgl. Fleig 2023.
7 Zum Checkpoint Charlie als Ort amerikanischer Geschäftshäuser vgl. Huyssen 1997: 60. Zumindest am Rande sei erwähnt, dass globale Mobilität im Kontext von Stadtmarketing vor allem als New Economy oder Tourismus verhandelt wird, kaum aber als Migration.
8 Diese Arbeit kann mit Deniz Utlu auch als ›Archiv der Migration‹ verstanden werden; vgl. dazu den Beitrag von Ela Gezen in diesem Heft.
9 Die Paris Bar existiert seit 1979 unter der Leitung von Michael Würthle in der Kantstraße; von 1972 bis 1978 hatte der Österreicher das ebenfalls prominent besuchte Restaurant Exil am Landwehrkanal (Paul-Lincke-Ufer) geführt. Dass die Leiche in Bitte nix Polizei im Landwehrkanal gefunden wird, gibt der Ermordung von Rosa Luxemburg und der Erinnerung an die Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung eine besondere Pointe. Auch in Özdamars Ein von Schatten begrenzter Raum werden Luxemburg und der Landwehrkanal schon in der ersten Berlin-Sequenz genannt, »ein Grabmal aus dunklem Wasser« (Özdamar 2021: 53).
10 Die Namen in Bitte nix Polizei sind in mehrfacher Hinsicht sprechend: Kann Ali als prototypischer, türkischer Männername arabischer Herkunft gelten, so Brigitte als deutscher Frauenname insbesondere der 1960er-Jahre; er verbreitete sich durch die bekannte, 1954 gegründete Frauenzeitschrift. Zu denken ist aber auch an die Protagonistin Brigitte in Elfriede Jelineks Liebhaberinnen (1975), einem Roman, der die Aufstiegsträume der proletarisch-kleinbürgerlichen Frauenfiguren ebenfalls mit dem Thema Prostitution verknüpft. Interessanterweise heißt auch eine der beiden deutschen WG-Bewohnerinnen in Gardis broken german Brigitte.
11 Der Protagonist bezieht sich hier auf sein Erscheinen in Bitte nix Polizei.
12 Das ist ein Schicksal, das er mit Peter Schneiders Lenz zu teilen scheint, der »mit der 68er Generation verschwunden« (Ören 1995: 109) ist und die Welt nicht zuletzt mittels Literatur verändern wollte.
13 In diesen Filmen kommt dann nicht selten auch ein Berliner Türke vor, den der Regisseur nach seinen Vorstellungen von einem Türken agieren lässt – so jedenfalls das parodistisch zugespitzte Setting in Yadé Karas Wenderoman Selam Berlin (2003); vgl. dazu auch Hille 2008. Zur Bedeutung filmischer Stadtbilder seit 1980 vgl. auch Jung/Stiglegger 2021.
14 Zur Mehrsprachigkeit und Vielstimmigkeit in broken german vgl. Fleig 2019, zur Sprache vgl. auch Kandwal 2018.
15 Zum Konzept von Berliner Topographien im Plural vgl. die Einleitung zu diesem Heft.
16 Es gibt zahlreiche Publikationen zur Architektur und zur Geschichte des Jüdischen Museums. Für einen ersten Überblick sei an dieser Stelle auf die Darstellung des Museums selbst verwiesen: Jüdisches Museum Berlin 2022.
17 Mit Blick auf das Jüdische Museum ist erwähnenswert, dass seine Eröffnung just für den 11. September 2001 geplant war, dann aber aufgrund der Anschläge in New York um zwei Tage verschoben wurde.
18 Eine weitere Episode thematisiert am Beispiel einer Öllampe archäologische Ausgrabungen in Israel, deren Deutung ebenfalls auf geradezu groteske Weise in Frage gestellt wird (vgl. Gardi 2016: 88; dazu Schirrmeister 2021: 124).
19 Wie Andreas Huyssen überzeugend herausgearbeitet hat, zielt die architektonische Form des Museums auch darauf, die Vorstellung vom »Holocaust as the inevitable telos of german history« zurückzuweisen (Huyssen 1997: 80).
Literatur
Acker, Marion (2022): Schreiben im Widerspruch. Nicht-/Zugehörigkeit bei Herta Müller und Ilma Rakusa. Tübingen.
Dies./Fleig, Anne/Lüthjohann, Matthias (2019): Affektivität und Mehrsprachigkeit – Umrisse einer neuen Theorie- und Forschungsperspektive. In: Dies. (Hg.): Affektivität und Mehrsprachigkeit. Dynamiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen, S. 7-31.
Ackermann, Irmgard (1997): Alı Itirs Wandlungen: Aras Örens Romanheld zwischen Wirklichkeit und Phantasie. In: Mary Howard (Hg.): Interkulturelle Konfigurationen. Zur deutschsprachigen Erzählliteratur von Autoren nichtdeutscher Herkunft. München, S. 17-30.
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Jung, Stefan/Stiglegger, Marcus (Hg.; 2021): Berlin Visionen. Filmische Stadtbilder seit 1980. Berlin.
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Konuk, Kader (2017): Genozid als transnationales historisches Erbe? Literatur im Kontext türkischer und deutscher Geschichte. In: Corinna Caduff/Ulrike Vedder (Hg.): Gegenwart schreiben. Zur deutschsprachigen Literatur 2000-2015. Paderborn, S. 165-175.
Ledanff, Susanne (2009): Hauptstadtphantasien. Berliner Stadtlektüren in der Gegenwartsliteratur 1989-2008. Bielefeld.
Löw, Martina (2010): Soziologie der Städte. Frankfurt a.M.
Mani, B. Venkat (2002): Phantom of the ›Gastarbeiterliteratur‹: Aras Ören’s Berlin Savignyplatz. In: Aglaia Bloumi (Hg.): Migration und Interkulturalität in neueren literarischen Texten. München, S. 112-129.
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Schirrmeister, Sebastian (2021): Re-Claiming German Literature. Literarische Praktiken der Aneignung bei Deborah Feldman und Tomer Gardi. In: Jara Schmidt/Jule Thiemann (Hg.): Reclaim! Postmigrantische und widerständige Praxen der Aneignung. Berlin, S. 111-130.
Schramm, Moritz (2018): Jenseits der binären Logik. Postmigrantische Perspektiven für die Literatur- und Kulturwissenschaft. In: Naika Foroutan/Juliane Karakayalı/Riem Spielhaus (Hg.): Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik. Frankfurt a.M., S. 83-96.
Vlasta, Sandra (2019): »Was ist ihre Arbeit hier, in Prosa der deutschsprachige Sprach?« Mehrsprachige Räume der Begegnung und Empathie in Tomer Gardis Roman broken german. In: Marion Acker/Anne Fleig/Matthias Lüthjohann (Hg.): Affektivität und Mehrsprachigkeit. Dynamiken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen, S. 143-157.