›Herkünfte‹ erzählen
Darstellungsverfahren und Verflechtungsästhetiken von Interkulturalität und Intersektionalität in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur (Workshop an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, in Kooperation mit dem Literaturhaus Freiburg, 2. und 3. Dezember 2022)
Der von Dominik Zink (Freiburg) und Reto Rössler (Flensburg) organisierte Workshop »›Herkünfte‹ erzählen. Darstellungsverfahren und Verflechtungsästhetiken von Interkulturalität und Intersektionalität in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur« fand vom 2. bis 3. Dezember 2022 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg in hybridem Format statt. Gerahmt wurde die Veranstaltung durch eine in Kooperation mit dem Literaturhaus Freiburg organisierte öffentliche Lesung von Daniela Dröscher (Lügen über meine Mutter, 2022) und Martin Kordić (Jahre mit Martha, 2022) am 1. Dezember. Eine zweite Lesung von Christian Baron (Schön ist die Nacht, 2022) musste krankheitsbedingt leider entfallen.
Reto Rössler skizzierte zu Beginn das zentrale Anliegen des Workshops, ›Herkünfte‹ als ein polyvalentes, vielstimmiges Phänomen zu untersuchen, das immer schon von intersektionalen Überlagerungen (race, class, gender) gekennzeichnet sei, wobei der Herkunftsbegriff in seiner singulären Prägung häufig auf theoretische Verkürzungen oder gar problematische Festschreibungen hinauslaufe. Demgegenüber richte sich das Erkenntnisinteresse des Workshops auf ein in der jüngsten Gegenwartsliteratur zu beobachtendes Erzählen von Herkünften im Plural. Dieses werde immer dort poetisch notwendig und bilde entsprechende Verflechtungsästhetiken aus, wo sich interkulturelle Situationen als konstitutiv unscharf, hybrid und mehrdeutig erwiesen und komplexer Antworten bzw. Darstellungsweisen bedürften. Gattungspoetologisch anschließen konnte der Workshop dazu an Eva Blomes Genrebestimmung der ›Autosoziobiographie‹, deren gegenwärtige Konjunktur sie mit Blick auf die Thematisierung von Klassenzugehörigkeit als eine Rückkehr der Gegenwartsliteratur zur Herkunft beschrieben hat (vgl. Blome 2020). Ob dieser Befund in gleichem Maße auch in intersektionaler Hinsicht gelte und die Rückkehr zur Herkunft mit einer Rückkehr zum Erzählen einhergehe, in dem sich beides, Herkunftskonzept wie interkulturelle Poetiken, in pluralisierten Weisen zeigen, waren Leitfragen, von denen der Workshop seinen Ausgang nahm.
Eröffnet wurde dieser von Franziska Bergmann (Aarhus), die in ihrem Vortrag Suleikas Herkunft. Raoul Schrotts kritische Umschrift von Goethes »West-östlichem Divan« zunächst die kanonisierte Rezeption Goethes West-östlichen Divans (1819) darlegte, der zufolge der Text als Paradebeispiel für Interkulturalität und Weltliteratur gelten kann, und anschließend rezenten Auseinandersetzungen mit Goethes Text gegenüberstellte. Diese knüpften an Kritikpunkte der, so die Voraussetzung, verkürzten und Ambivalenzen ausblendenden Perspektive auf Goethes Divan an, was am Beispiel von Raoul Schrotts Gedicht Suleika spricht (2019) illustriert wurde. Schrotts Gedicht eröffne im Kontext der postmigrantischen deutschen Gesellschaft einen ernüchternden Blick auf die deutsche Sprache und Kultur. Dies werde sowohl auf inhaltlicher, formaler als auch intertextueller Ebene des Textes deutlich. So werde eine deutsch-iranische Sprecherinnenperspektive erzeugt, die jedoch Goethes Dialog zwischen Hatem und Suleika zu einem Monolog verkürze. An der gelungenen Auseinandersetzung mit Goethe könne ausblickend jedoch auch Schrotts Aneignung einer weiblichen Sprecherinnenposition problematisiert werden, wie resümierend festgehalten wurde.
Mit dem Verhältnis von literarischem Schreiben und soziologischem Forschen befasste sich Carolin Amlinger (Basel; Aufenthalte kurzer Dauer. Zum Paradox distanzierter Nähe [Bourdieu, Eribon, Ohde]), wobei sie sich auf Bourdieu berief und exemplarische Analysen von Eribons Rückkehr nach Reims (dt: 2016; frz. 2009) und Ohdes Streulicht (2021) vornahm. Die im Spannungsverhältnis von Fakt und Fiktion angesiedelte Erzählerfigur in Autosoziobiographien zeichne sich durch einen Wandel der Person durch Bildung und Lektüre aus, was zu sozialer Mobilität führe. Diese Transgression werde als literarische Form brauchbar gemacht und subjektiver Sinn schlussendlich im objektiven Raum eingenommen, wenn in Autosoziobiographien, von einem Individuum ausgehend, von sozialer und gesellschaftlicher Wirklichkeit erzählt werde. Mit der Mobilität der Erzählerfigur gehe jedoch auch eine doppelte Nichtzugehörigkeit einher, die die Figur eine zweifache Wirklichkeit von Gesellschaft erleben ließe und die Texte zu Schwellenerzählungen mache. Insofern werde das Changieren zwischen Erzählen und Beschreiben konstitutiv für Autosoziobiographien, wobei die Retrospektion als reflexive Methode zum Einsatz komme. Gleichzeitig dominieren dabei Affekte distanzierter Näheverhältnisse der Figuren, die sich in Scham, die zum Herrschaftsraum werde – was etwa am beschnittenen Coverfoto bei Eribon sichtbar werde –, oder im dargestellten Körpergefühl der Figuren in Ohdes Streulicht sichtbar werde: »Über mich selbst lachen, damit die anderen es nicht taten« (Ohde 2021: 143).
Daran anschließend las Paul Gruber (Flensburg; »Selbstbewusstsein vs. Fremdbestimmung« – Saša Stanišić’ »Herkunft« [2019] als (selbst-)bewusster Gegenentwurf zu nationalistischen Identitätserzählungen) Saša Stanišić’ Roman Herkunft (2019) entlang der Dichotomie von Selbstbewusstsein und Fremdbestimmung. Der Text sei als Metaautobiographie zu begreifen, da mit Schreibformen der Autobiographie gespielt werde (etwa an intertextuellen Verweisen auf Goethes Dichtung und Wahrheit sichtbar), um damit Grundannahmen und Normen autobiographischer Erzählungen (z.B. den autobiographischen Pakt) zu hinterschreiten. Dies geschehe unter anderem, indem Zufälle als konstitutiv für das Leben dargestellt und gleichzeitig Handlungsmöglichkeiten im literarischen Text eröffnet werden, die im echten Leben unmöglich wären. So würde die Fiktionalisierung der Modus des Textes und des Lebens zugleich und Identität im Akt des Erzählens erst geschaffen. Dem (persönlichen, gesellschaftlichen, politischen) Kontext stelle sich die Erzählung selbstbewusst gegenüber, um Identität als unabschließbares Projekt vorzuführen und fremdbestimmte Wahrheitssetzungen infrage zu stellen. Das schaffe der Roman vor allem auch, indem das Grundproblem monologischen Erzählens im Make-your-own-adventure-Teil »Drachenhort« in einem vielstimmigen Text aufgelöst werde, da die Leserin/der Leser aus ihrer/seiner passiven Rolle herausgeholt und zur aktiven Gestalterin/zum aktiven Gestalter der Handlung werde.
Lena Wetenkamp (Trier) bezog sich in ihrem Vortrag Herkunft adressieren: Gender, Postmemory und epistolare Verfahren in Werken deutschsprachiger Gegenwartsautorinnen auf die Romane Lieber Mischa (2011) von Lena Gorelik, Olga Grjasnowas Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012) und Mirna Funks Winternähe (2015). Die Texte verbinde einerseits die Alterisierungs- und Ausgrenzungserfahrungen der Protagonistinnen, wobei sie Einzelschicksale in den Vordergrund stellten und an einer dezidiert weiblichen Geschichtsschreibung arbeiteten. Andererseits beziehen sich die Romane auf Religion als Distinktionsmerkmal und die Shoah als transgenerationelles Problem, Subtext und Erinnerungsort. Durch das Aufrufen dieser Motive seien sie im Kontext der Postmemory-Forschung zu lesen, zugleich könnten jedoch Aktualisierungen der typischen Plotkonstruktionen beobachtet werden. So werde das klassische Schubladen- bzw. Kästchenmotiv in Grjasnowas Text konterkariert, wenn die Protagonistin in einer Schachtel nicht Informationen zur Herkunft von Familienmitgliedern entdeckt, sondern ihr Freund darin Informationen über sie selbst gesammelt hat. Sowohl in Funks als auch in Goreliks Text werde außerdem mit dem Aufgreifen des Mediums Brief an weibliche Schreibtraditionen angeknüpft. Mit fiktiven, nie abgeschickten Briefen erschreibe sich Goreliks Protagonistin ihre Familiengeschichte selbst.
Die Umkodierung und -funktionalisierung eines traditionellen literarischen Motivs spielte auch in Dariya Manovas (Wien) Vortrag Heimkehr und Fremdkehr in Deniz Ohdes »Streulicht« und Fatma Aydemirs »Dschinns« eine Rolle, in dem sie die Heimkehrbewegungen in besagten Texten analysierte. Die Positionierung der Rückkehr in das elterliche Zuhause der Protagonistin am Anfang von Streulicht und der eigentliche Aufbruch am Textende seien als Gegenerzählung zur Stringenz des Bildungsaufstiegs zu lesen, mit der auf intersektionale Marginalisierungen hingewiesen werde. Joseph Campbells (vgl. 2011) Modell der Abenteuerfahrt, in dem die Rückkehr des Helden obligatorischer Bestandteil sei, werde insofern eingelöst, als die Heimkehr hier keine Störung der Identität bedeute, sondern im dadurch angestoßenen Reflexionsprozess vielmehr Bedingung derselben werde. Dschinns (2022) greife dies im Sehnen nach einem Ursprungsraum in der Vergangenheit auf, was durch die ›Rückkehr‹ nach Istanbul erfüllt werde. Die Stadt sei im Roman jedoch kein echter Ort, sondern ein mit Erinnerungen und Zuschreibungen überzeichneter Sehnsuchtsraum – so werde Heimkehr im Roman zur Heimsuchung der eigenen Phantasie. Die Heimreise sei in beiden Romanen kein Endpunkt, so das Fazit des Vortrags, sondern der eigentliche Ausgangspunkt für das Verlassen der Heimat und könne so die Polyvalenz des Identitäts- und Heimatbegriffs fassen.
Auch Herta Müllers Werk werde durch das Thema Herkunft geprägt und stelle gar den gemeinsamen Nenner ihrer meist autobiographisch gefärbten Texte dar. Die Stimme der Ich-Erzählerin setze oft im Kindesalter ein und berichte von Versehrungen, die dann ausschlaggebend für das poetische Verfahren werden. Dies diskutierte Iulia-Karin Patrut (Flensburg; Ästhetische Verdichtungen der Verflechtung von Herkunft und Interkulturalität in Herta Müllers »Der Beamte sagte« [2021]) anhand sechs thematischer Ebenen (Armut, Kinderarbeit, Arbeit und Gender; Gewalt in der Familie, Empathieunterbrechung, Einsamkeit; stereotype Selbstethnisierung, verweigerte Interkulturalität; urbane Diktaturerfahrung; Lagererfahrungen der Eltern; Systemwechsel und Migration) in Müllers Collagentext Der Beamte sagte (2021). Dabei führe die poetologische Technik der Collage die Intersektionalität verschiedener Arten von transgenerationaler Gewalterfahrung und deren Offenlegung vor: Kindliche Prügelstrafe, Lagererfahrungen der Eltern bis hin zu Konfrontationen mit dem Beamten im deutschen Migrationsamt (»Der Beamte fragte: geboren? Ich sagte es scheint so seine Augen (warteten) wie nasse Kieselsteine bis er schrie wir wissen trotzdem wann und wo«, Müller 2021: 56) werden, teils durch entlarvende Reime und ironisch-humoristisch, thematisiert. Die eigenlogisch verflechtende Erinnerung werde so zu einer gesellschaftlichen Diagnose, indem die Wörter der Collagen Anschlüsse evozieren, die sich auch in der medienspezifischen pluralen Zeitlichkeit zwischen diachronen und synchronen Verhältnissen der Collagen abbildet, so das Fazit Patruts.
Hannah Speicher (Hannover; Klassenaufstiege und Herkunftsdramen in den Freien Darstellenden Künsten) stellte Ergebnisse des empirisch-sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekts »Systemcheck« (2021-2023) vor, das zum Ziel habe, eine Datenlücke zur Erwerbssituation und sozialen Sicherung von in den freien darstellenden Künsten tätigen Menschen zu schließen. Innerhalb der Studie wurde einerseits die prekäre soziale Lage der Befragten deutlich (geringes Einkommen und Renten, individuell zu tragende Risiken im Fall ausbleibender Aufträge), andererseits wurden drei Typen beschrieben, wie Betroffene die eigene soziale Sicherung bewerten. Der ›sorgenfreie Typus‹ sei mit Vermögen und Besitz abgesichert, der ›sorgenlose‹ an Armut gewöhnt, er tendiere dazu, Armut als kunstermöglichende Ressource zu idealisieren, der ›besorgte Typus‹ hingegen arbeite nicht freiwillig prekär, bekäme aber aus z.B. rassistischen Gründen keinen Job im Stadt- oder Staatstheater. Als Bewältigungsstrategien ließen sich die Verdrängung von Absicherungsfragen, berufliche Diversifikation, Abbruch der Theaterkarriere oder aber Engagement in Interessensvertretungen ausmachen. Im sowohl qualitativ (Interviews) als auch quantitativ (Befragungen und Datenerhebung) arbeitenden Forschungsprojekt wurde deutlich, dass der Grad der Prekarisierung mit der Anzahl der Diskriminierungsmerkmale steige. Dem sozialen Aufstieg durch Bildung – so eine Schlussfolgerung – entspreche kein ökonomischer Aufstieg.
Nikola Keller (Freiburg; »Erzählt mir, wie ein jeder unter euch um Freyheit und Vaterland betrogen wurde«. Zum Funktionswandel von Herkunftserzählungen in der Abolotionsdramatik des 18. und des 21. Jahrhunderts) befasste sich mit dem Abolotionsdrama des 18. Jahrhunderts und literarischen Verhandlungen von (moderner) Sklaverei im gegenwärtigen deutschsprachigen Theater. Dabei falle im historischen Kontext des Genres ›Abolotionsdrama‹ auf, dass Versklavte darin erstmals als zu agency fähige Figuren erscheinen und die Texte so ein Näheverhältnis zwischen Rezipierenden und den Figuren des Dramas erzeugen. Insofern sei, trotz des vorhandenen otherings in den Texten, wie Keller betonte, eine kritische Perspektive auf Sklaverei möglich. Im gegenwärtigen deutschsprachigen Drama sei in dieser Hinsicht Konstantin Küsperts komplex gebauter Text sklaven leben (2019) zu beachten, der mit einem losen Figurengefüge und drei zirkulär verschränkten Zeitebenen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vorführe, dass ein teleologisches Zeitverständnis den notwendigen Blick auf die Verflechtung als konstitutives Aushandlungsparadigma versperre. Herkunft zu erzählen bedeute im Stück vielmehr zu zeigen, wie Herkunft zugeschrieben wird und wurde. Mit ebendiesem diachronen Verständnis von Herkunft gelte es sich auseinanderzusetzen, wie das Drama am Beispiel des Unternehmens Schimmelmann und Sohn, das wesentlich durch Sklaverei profitierte, vorführe und so kritische Auseinandersetzungen mit der eigenen (deutschen) Geschichte forciere.
Zum Abschluss des ersten Tages arbeitete Eva Blome (Hamburg; Zuhören und Zugehörigkeit. Deniz Ohdes »Streulicht« und Dilek Güngörs »Vater und ich«) die auditive Dimension von Herkunft in den Romanen Vater und ich (2021) von Dilek Güngör und Deniz Ohdes Streulicht heraus. Es gehe um die Frage, inwiefern soziale Zugehörigkeit über narrative Strategien des Hörens und Zuhörens dargestellt werden könne. Insofern wurde die These diskutiert, die Romane als leise, heterogene und Stimmen verflechtende Texte zu lesen, wobei drei Strategien der Artikulation in den Texten ablesbar seien. Erstens gebe Güngörs Erzählerin ihrem Vater eine Stimme und sorge damit für eine Artikulation, die zuvor nicht hörbar war, indem sie für die Leser_innen lesbar gemacht werde. Zweitens würden in Ohdes Text polyphone Stimmen durch den Modus der alternierenden internen Fokalisierung nebeneinandergestellt, und drittens gebe es eine narrative Evokation von Geräuschen (z.B. »Hundegebell«, Ohde 2021: 15), welche die Protagonistin dorthin versetzen, wo ihre Sozialisierung in Lautlosigkeit begonnen habe. Die Texte könnten durch die dargestellten Verfahren, mit Laut- und Sprachlosigkeit umzugehen, als Plädoyer dafür verstanden werden, dem Leisen Raum zu geben und diesen zu erzählen.
Im ersten Beitrag des zweiten Workshoptages beleuchtete Isabelle Chaplot (Flensburg; Wild, Wild West in Bulgarien. Zu Vagheit und Negation von »Herkunft« in Valeska Grisebachs »Western« [2017]) das Thema Herkunft aus filmwissenschaftlicher Perspektive und diskutierte, inwiefern dieses im Westerngenre eine Rolle spielt und in Valeska Grisebachs Film Western aktualisierend aufgegriffen wird. Herkunft könne im klassischen Western in der Bewegung von Osten nach Westen und in den dadurch hervorgerufenen schicksalhaften Spuren als eine Geschichte des Verhängnisses der Herkunft gefasst werden. In Grisebachs Western würde nun mit klassischen Motiven des Western durch die Darstellung der scheinbar unberührten Landschaft Bulgariens, dem Auftreten einer Pocahontas-Figur, die zwischen den Antagonisten stehe, und der Distinktion zwischen ›edlen‹ und ›wilden Wilden‹ gespielt. Diese Motive würden jedoch überschrieben, wenn Grisebach die klassische Opazität der Figuren, Leere und Weite des Raums, panoramaartige Einstellungen, Ruhe und Länge der Sequenzen in der Filmsprache der Berliner Schule umsetze. Die Figuren seien keine Charaktermasken, die grenzenlose Freiheit entpuppe sich als Verlorenheit und die Leere und Ruhe resultiere aus einer entscheidungslosen Offenheit – das Herkunftsverständnis des Western und Diskriminierungsmechanismen würden so in der Gegenwart des europäischen Spätkapitalismus durchgespielt.
Ausgehend von der Annahme, dass Herkunftsgeschichten nicht erst als Phänomen der Gegenwart verstanden werden können, sondern damit verbundene spezifische Problematiken bereits seit dem Mittelalter in der deutschsprachigen Literatur auffindbar seien (bspw. im Parzival, Meier Helmbrecht und ironisch gebrochen in Grimmelshausens Simplicissimus, 1669), diskutierte Matthias Bauer (Flensburg) in seinem Vortrag Herkunft und Stigma-Management. Überlegungen zu einem biografischen Handicap die Frage nach dem Verhältnis von Erzählen und Erklären in Herkunftserzählungen. Es zeigten sich darin verschiedene offensive bzw. defensive Strategien, mit Stigmasymbolen umzugehen. Gemein sei den Texten jedoch die Gefahr, auf Kosten von Figuren, die keine ›Klassenaufsteiger‹ seien, zur Ausstellung des Herkunftsmilieus zu werden, wie dies bspw. in Daniela Dröschers Lügen über meine Mutter zu beobachten sei. Insofern könne die interne Problematik autosoziobiographischer Texte durch ihr spannungsreiches Verhältnis von Reflexion und Poesie, Schlussfolgerung, Problematisierung und Verrat am eigenen Milieu durch Aufstieg beschrieben werden. Die Distinktion von soziopsychologischem Diskurs und poetischem Text, Erzählmotivation und ‑situation sowie der Dialektik von Zeigen und Verschweigen in autosoziobiographischen Texten müsse, so das ausblickende Resümee, diskutiert werden.
Den Workshop beschloss Nadjib Sadikou (Flensburg; Herkunft und Klasse am Beispiel von Abbas Khiders Romanen »Der falsche Inder« [2008] und »Der Erinnerungsfälscher« [2022]) mit einer intersektionalen Lektüre von Abbas Khiders Romanen. Texte über Flucht, Migration und Exil verhandeln Wissen über die Vervielfältigung von Herkünften und verdeutlichen so das Potenzial der Interkulturalität, das in der Deessentialisierung der Herkunft liege, so die These. Mit Rekurs auf theoretische Konzepte der Diaspora (Safran, Clifford, Gilroy), Interkulturalität (Said, Bhabha, Bhatti) und insbesondere Stuart Halls Verständnis des postmodernen ›entvereinheitlichten‹ Subjekts lasse sich eine breitere Perspektive auf die Herkunftsthematik gewinnen. Auf diese sei in Khiders Roman Der falsche Inder (2008) bereits im Titel verwiesen, und sie werde darin vor allem durch kommunikative Verhandlungsprozesse dargestellt. Wenn der Protagonist Angebote seines Gegenübers bezüglich der eigenen Identität aufgreife, vollziehe der Text die Hybridisierung des Subjekts. Insofern sei der Roman als Plädoyer für die Abkehr von Essentialisierung zu verstehen, dem die Betonung von Pluralisierung vorzuziehen sei.
Die zu beachtende Differenz zwischen (post-)migrantisch geprägten Texten und soziologischen Klasse- bzw. Milieutexten und die damit einhergehenden spezifischen interkulturellen und intersektionalen Fragen wurden in der abschließenden Diskussion des Workshops hervorgehoben. Die Einschlägigkeit des Themas Herkunft in und für die Gegenwartsliteratur konnte im Workshop belegt werden. Es erscheint daher ein Tagungsband wünschenswert, der eine weiterreichende Beschäftigung bspw. mit Poetiken der Herkunft, einer Vertiefung diachroner Fragen oder grundlegenden Begriffsklärungen anstoßen könnte.
Literatur
Blome, Eva (2020): Rückkehr zur Herkunft. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 94, H. 4, S. 541-571.
Campbell, Joseph (2011): Der Heros in tausend Gestalten. Aus dem Amerik. v. Karl Koehne. Frankfurt a.M.
Müller, Herta (2021): Der Beamte sagte. Erzählung. München.
Ohde, Deniz (2021): Streulicht. Roman. Berlin.