Punchlines platzieren oder Zirkel ziehen
Zur konträren Verhandlung von Identität in Bernadine Evaristos Girl, Woman, Other und Jackie Thomaes Brüder
AbstractJackie Thomae and Bernadine Evaristo have both struck at the heart of the current identity-political debate with their novels Brüder and Girl, Woman, Other. However, in this article I argue that the two authors use very different ammunition. Both texts deal with identity, origin, and skin colour in formally innovative novels. Brüder (2019) follows the disparate development of Mick and Gabriel, the eponymous brothers whose bond is only revealed to the reader retrospectively. In Girl, Woman, Other (2019), on the other hand, twelve female and often decidedly queer voices are presented in self-sufficient chapters. Evaristo’s supra-familial panorama is juxtaposed with Thomae’s triptych structure in which the centre panel portraying the brothers’ father is only a 20-page »intermezzo« within the 400-page novel. The two brothers thus revolve around an unknown centre, as do the readers. These different narrative structures correspond with two diametrically opposed ways of negotiating identity. In Brüder, racism, classism and the search for identity are discussed discreetly and casually, whereas Girl, Woman, Other plays with the form of the verse novel, delivering merciless punchlines rather than sweet rhymes. I contend that despite these formal differences, both authors succeed in showing how great the potential of narrative literature is for our current identity politics debate by demonstrating how well identity issues can be played out and understood by using two completely different techniques within the same genre.
TitlePlacing punchlines or drawing circles. On the contrasting negotiation of identity in Bernadine Evaristo’s Girl, Woman, Other and Jackie Thomae’s Brüder
KeywordsIdentity politics; cultural identity; wokeness; racism; novel
Evaristo, Thomae und die identitätspolitische Debatte im deutschen Literatur- und Kulturbetrieb
»Der einzige Grund, warum Mädchen, Frau etc. auch von Männern gelesen wird, ist, dass es einen wichtigen Preis gewonnen hat. Sie kaufen es nicht, weil es sie vom Thema her interessiert. Geht ja nur um Frauen.« (Evaristo, zit. n. Adorján 2022) Dieser harsche Befund der Booker-Preisträgerin Bernadine Evaristo über die Kaufgründe ihrer männlichen Leserschaft mag überspitzt klingen, aber er verweist auf einen zentralen Aspekt der aktuellen identitätspolitischen Gemengelage. Auch wenn es im deutschen Literatur- und Kulturbetrieb um die Frage nach dem Umgang mit Identitätspolitik geht, scheint dieses verhängnisvolle ›Nur‹ aufzutauchen. Da gehe es ›nur‹ um Befindlichkeiten, um Meinungen und Gefühle weniger Marginalisierter, ›nur‹ um individuelle Anspruchshaltungen, um nichts, was allgemeine Relevanz hätte. Indem Evaristo einen scheinbar geschlechterbasierten Bewertungsunterschied von Literatur ironisch hervorhebt, wird einmal mehr deutlich, dass es in ihrem erfolgreichen Roman insbesondere auch darum geht, stereotypisierte Geschlechterrollen zu dekonstruieren. Dass Männer sich ein Buch nur kaufen würden, nachdem es einen prestigeträchtigen Preis gewonnen hat, um sich dann mit der Lektüre und dem gekauften Exemplar entsprechend brüsten zu können, wohingegen Frauen einen Roman läsen, um sich mit dessen Inhalt zu befassen – dieses Geschlechterklischee schwingt in Evaristos Aussage unweigerlich mit. Es wird zwar klar als ironischer Kommentar zum eigenen Bucherfolg markiert, vermittelt aber zugleich auch eine gewisse Enttäuschung über die realen Rezeptionsverhältnisse und die damit einhergehende identitätspolitische Grundfrage: Wer liest den Roman einer schwarzen Autorin, in dem ausschließlich Schicksale von People of Color verhandelt werden? Wie kann es gelingen, Personen für Lebensverhältnisse und Erfahrungen zu interessieren, die völlig jenseits der eigenen liegen? Diese spezifische Mischung aus lebensnotwendiger Ironie und einer untrennbar mit dieser verbundenen Enttäuschung macht wesentlich auch den Ton in Evaristos international gefeiertem Roman Girl, Woman, Other aus. Hier treten ausschließlich women of Color auf, deren Beziehung zueinander sich mit zunehmender Lektüre immer weiter erschließt und deren singuläre Porträts – jedes Kapitel ist einer Frau gewidmet – sich schlussendlich zu einem ambitionierten gesamtgesellschaftlichen Panorama zusammenfügen. Evaristos Text, der keine lineare Handlung verfolgt, sondern versucht, durch diachron angelegte Vielstimmigkeit jene Schicksale sichtbar zu machen, die in der britischen Literatur bislang marginalisiert wurden, lässt sich deshalb als engagierter und sehr ernster Kommentar auf die langjährige, facettenreiche und anhaltende Diskriminierung schwarzer Frauen in England lesen, der jedoch in Form und Stil durchaus auch ironische Interpretationsspielräume eröffnen will. Meiner hier vorgeschlagenen These nach gelingt es allerdings Jackie Thomae, einer deutschsprachigen, ebenfalls schwarzen Autorin, die im selben Jahr wie Evaristo ihren Roman Brüder veröffentlicht hat, ebendiesem Anspruch mit gänzlich anderen Mitteln letztlich eher zu entsprechen. Auch Thomae erzählt von Rassismus und blickt genau auf die unterschiedlichen Schikanen, mit denen schwarze Bürger*innen in der DDR und der BRD zu kämpfen hatten und haben, aber sie porträtiert dazu ›nur‹ zwei Brüder und verzichtet auf polyperspektivische Vexierspiele. Vor dem Hintergrund der identitätspolitischen Debatten funktioniert Thomaes literarischer Entwurf meiner Einschätzung nach langfristiger, wenn es darum geht zu vermitteln, dass gerade epische, erzählende Literatur geeignet ist wie kaum ein anderes Medium, um singuläre Schicksale möglichst wirkungsvoll zu schildern. Evaristos Text hingegen funktioniert meiner Ansicht nach wie ein abrupter wake-up call, der den Leser*innen zentrale Probleme der Marginalisierung, der Stereotypisierung und der (Un)Erzählbarkeit schwarzer Schicksale vor Augen führt, sich aber bisweilen in seiner Punchline-Prosa verliert und letztlich, jedenfalls im direkten Vergleich mit Brüder, weniger lang nachhallt.
Um diese Einschätzung zu den beiden Texten zu untermauern, möchte ich im Folgenden zunächst kurz skizzieren, vor welchem literaturpolitischen Hintergrund beide Romane stehen, die Erzählstruktur beider Texte gegenüberstellen und auf das Identitätskonzept des französischen Philosophen Jullien verweisen. Sein rezenter Vorschlag dazu, wie wir Identität denken und konzeptualisieren können, ist zum einen ein geeignetes theoretisches Korrelat, um die unterschiedliche Narrativierung von Identität in den beiden hier verglichenen Romanen herauszustellen, und kann zum anderen möglicherweise auch dienlich sein, um die identitätspolitische Debatte insgesamt möglichst konstruktiv weiterzuführen. Im Anschluss daran erläutere ich im Detail, was Brüder und Girl, Woman, Other stilistisch unterscheidet und inwiefern ich zu meiner Einschätzung komme, dass Thomae mit Brüder ein letztlich wirkungsvolleres Werk über Identitätsfragen vorgelegt hat.
Dass die identitätspolitische Debatte in Deutschland entlang anderer Termini und Leitfragen verläuft als in Großbritannien, lässt sich direkt an der Übersetzung des Titels von Girl, Woman, Other ablesen: Mädchen, Frau etc. heißt Evaristos Roman auf Deutsch, womit der Übersetzerin ein »kleiner Coup« gelungen sei, wie Dieckmann in seiner Rezension betont:
Die behutsame Abwandlung verleiht der deutschen Ausgabe nicht nur eine hübsche Metrik, sie deponiert auch eine ironische Poesie in den Nischen dieser m/w/d-Welt, deren Sprache sich noch sträubt. Sie ist ein betont beiläufiger Kategorienwurf für eine Gesellschaft, die vielen nur widerwillig offenbart, wer sie sind oder sein dürfen. (Dieckmann 2021)
Dieckmann weist zurecht darauf hin, dass das »etc.« im deutschen Titel ironisch markiert, dass viele Leser*innen den Titel vermutlich sofort in den Bereich des vermeintlich belanglosen Lamentierens über ›Minoritätsbefindlichkeiten‹ einordnen könnten, wodurch der Titel autoironisch lesbar wird. Ebenso wie Evaristo im oben genannten Interview festhielt, es ginge in ihrem Roman ja ›nur‹ um Frauen, suggeriert der deutsche Titel, hier ginge es um ›Mädchen, Frauen, und was eben sonst noch so alles dazugehört in dieser politisch fragwürdigen Ecke‹. Doch auch wenn die Ironie von »etc.« im Deutschen aufgeht, verliert sich das subversive Potential des englischen »Other«. Denn es geht in Evaristos Roman ja explizit darum, binäre Zuordnungen und primitives othering zu überwinden; es sollen endlich all jene Daseinsformen denkbar, lesbar und lebbar werden, die jenseits unserer beschränkten Kategorien von ›Mädchen‹ und ›Frau‹ liegen. Und nicht zuletzt kann ein Text wie Girl, Woman, Other dabei helfen, eine Sprache für dieses Neue, ›andere‹, zu entwickeln. Schlussendlich geht es also um nicht weniger als um eine Identitätsrevolution, und diese soll natürlich gerade nicht in einem gelangweilten ›Etc. pp.‹ untergehen, wie es der deutsche Titel ironisch vermittelt. Folgert man aus diesen Beobachtungen, ein deutschsprachiges Publikum könnte hypothetisch zu der Aussage gelangen, dass es in Evaristos Roman wirklich ›nur‹ um ›Mädchen, Frauen etc.‹ gehe und der Text deshalb wohl nicht von großer gesellschaftlicher Relevanz sein könne, so zeigt sich: Ein solcher Satz klingt keineswegs besonders abwegig, woraus sich wiederum ablesen lässt, wie oft Identitätspolitik in Deutschland gleichgesetzt wird mit typischen Anti-Wokeness-Positionen. Was der Begriff eigentlich bezeichnet, ist indes weniger strittig als die Forderungen, die Vertreter*innen aus unterschiedlichen politischen Lagern damit jeweils durchzusetzen versuchen. Denn »›Identitätspolitik‹ steht zunächst für die Ausrichtung politischen Handelns an Interessen von Menschen, die anhand von Kategorien wie Klasse, Geschlecht, Herkunft oder sexuelle Orientierung zu einer Gruppe zusammengefasst werden« (Abu Ayyash 2019). Das Problem ist aber, dass »derartige Kategorien […] immer auch eine bewusste Grenzziehung [bedeuten], die den Ausschluss des ›Anderen‹ impliziert.« (Ebd.) Angesichts dieser gegenwärtigen Diskussionen stellt sich die Frage, ob Literatur, die identitätspolitische Fragen verhandelt, eigentlich überhaupt rezipiert werden kann, ohne dass sich sofort stereotype Zuordnungen ergeben, nach dem Credo: ›Evaristo erzählt ja nur von Problemen schwarzer Frauen, weil sie selbst eine ist.‹; ›Thomae verhandelt die Erfahrung von Afrodeutschen ja nur, weil sie selbst zu dieser Gruppe gehört‹. Welche rezeptive Haltung und welches Verständnis von Identität und Identitätspolitik wäre nötig, damit eine weniger voreingenommene und produktivere Auseinandersetzung mit dieser Literatur möglich ist?
Zunächst ist festzustellen, dass die Verhandlung identitätspolitsicher Fragen üblicherweise nicht in der Gattung erfolgt, die Evaristo und Thomae gewählt haben. Die romanhafte Entfaltung dieses Problems ist bislang eher unüblich, einschlägige Diskussionen werden typischerweise in autobiographisch engagierter Literatur oder im populärwissenschaftlichen Sachbuch geführt. Im deutschsprachigen Raum sind hier zuletzt vor allem Alice Hasters und Margarete Stokowski prominent in Erscheinung getreten. Hasters hat in Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten (2021) ihre eigenen Erfahrungen mit Alltagsrassismus und Mikroagressionen geschildert und dabei unter anderem die falsche Unschuld der allgegenwärtigen Frage »Woher kommst Du?« als schlicht und einfach rassistisch dekodiert. In ihrem zweiten, 2023 erschienenen Buch Identitätskrise reflektiert sie die inkonsistenten Selbsterzählungen junger Menschen in Europa. Die Kolumnistin Margarete Stokowski hat ebenfalls persönliche Erfahrungen mit der Kritik an der patriarchalen Gesellschaftsordnung verbunden und insbesondere die vielfachen Facetten von Sexismus sarkastisch angeprangert (vgl. Stokowski 2018; 2019). Im englischsprachigen Raum ist es hingegen die Gattung des Essays, in der renommierte Autor*innen wie Rebecca Solnit und Mary Beard Mansplaining oder das Verhältnis von Frauen und Macht öffentlichkeitswirksam sezieren (vgl. Solnit 2015; Beard 2018). Wenn im deutschsprachigen Literatur- und Kulturbetrieb über identitätspolitische Literatur gesprochen wird, geht es häufig weniger darum, wie sich Identitäten in einer globalisierten und multikulturell geprägten Gesellschaft im 21. Jahrhundert eigentlich konstituieren und welche Probleme dabei entstehen können, sondern es werden literaturpolitische Lager konfrontiert, die sich polemisch wie folgt zusammenfassen lassen: Die einen bemühen sich um die Abbildung einer möglichst großen Vielfalt von Stimmen und um eine kritische Auseinandersetzung mit der Tradierung rassistischer oder sexistischer Begriffe in der Literatur, die anderen fordern, das Winnetou Winnetou bleiben müsse (vgl. Schwermer 2022) und der N*-König in Lindgrens Pipi Langstrumpf keinesfalls in »Südseekönig« umbenannt werden dürfe (vgl. Hübert 2011). Das terminologische Terrain ist vermint wie kaum ein anderes, gilt es doch, via Sprache Probleme zu behandeln, die insbesondere durch Sprache evoziert, tradiert und transportiert werden. Die meisten Verlage müssen sich immer wieder neu positionieren (vgl. Platthaus 2022), um nicht in den Verdacht der zu laxen oder zu scharfen Redaktion problematischer Texte zu geraten. Dem Publikum werden Onlinediskussionsforen mit entsprechender Überschrift angeboten – »Welche Rolle sollte Identitätspolitik in Literaturverlagen spielen?« –, um sich aktiv in die Debatte einzubringen (vgl. Süddeutsche Zeitung 2021), und es gibt bereits eine rezente Metastudie, Identitätspolitik, in der Bernd Stegemann (vgl. 2023) eigentlich Ruhe und Klarheit in die aufgeheizte Diskussion darüber bringen will, wer über was in wessen Namen sprechen darf und wer ein- und ausgeschlossen ist, wenn es um die berüchtigte Cancel-Culture geht. Allerdings wird er seinerseits dafür kritisiert, von »sich inflationär vermehrenden Identitäten« zu sprechen, ohne konkrete Beispiele zu liefern; er schlüge vielmehr selbst jenen »abstrakt-alarmistischen Sound an«, den man aus vielen Artikeln zum Thema kenne (Meierfrankenfeld 2023). Kurzum: Identitätspolitik ist ein derart umstrittener Begriff, dass die Frage, wie es eigentlich mit der literarischen Reflexion eben dieser Kämpfe steht, oft in den Hintergrund rückt. Daher sollen die beiden formal innovativen und unterschiedlich operierenden Romane von Evaristo und Thomae hier in den Fokus gerückt und mit Blick auf ihr Verhandlungspotential für den identitätspolitischen Diskurs untersucht werden.
Brüder und Girl, Woman, Other: Erzählstruktur, Handlung und Identitätskonzept
Die strukturelle Gliederung von Jackie Thomaes Roman Brüder ist übersichtlich: Hier stehen sich, in einem schlichten Triptychon, drei ›Männertafeln‹ gegenüber, und die Biographien der beiden eponymischen Brüder, Mick und Gabriel, sind um ein klares Zentrum herum angeordnet: Teil I ist Mick gewidmet, der als »Mitreisender« (Thomae 2019: 9) betitelt wird. Eine nichtdiegetische Erzählinstanz berichtet ausgreifend, detailgenau und in zahlreichen Anekdoten von dessen Leben als schwarzer junger Erwachsener im Berlin der 1990er Jahre. Die Figur wird dabei vor allem in ihrem schwirrenden Lifestyle porträtiert: Mick macht Party, immer und überall, er ist orientierungslos und dabei rundum zufrieden, hat ein reges Sozialleben und eine Freundin, bleibt dabei aber stets egoistisch (beispielsweise verheimlicht er seiner Partnerin über Jahre, dass er eine Vasektomie bei sich vornehmen ließ, obwohl er um deren intensiven Kinderwunsch weiß), ist ebenso herzlich wie unverbindlich. Er legt zwar viel Wert auf Freundschaft und ist hilfsbereit, scheint dabei aber niemals ernsthafter mit irgendetwas oder irgendjemandem wirklich verbunden. Der erste Teil des Romans lebt von sich repetierenden anekdotischen Zirkeln, die um den jungen opportunistischen Mick herumgezogen werden, jenem Bruder, der sich von allem mitreißen lässt, ohne je ein eigenes Reiseziel zu formulieren. Auf diese erste Tafel folgt ein nur 20-seitiges »Intermezzo« (ebd.: 194), in welchem der den beiden Brüdern unbekannte gemeinsame Vater namens Idris eingeführt wird. Bezeichnenderweise kreisen die beiden Brüder damit um ein Zentrum, das – im Gegensatz zu den ihnen gewidmeten Tafeln des Triptychons – zwar benannt ist, das aber dennoch bis zum Schluss des Textes unbekannt bleibt: Der Mitreisende und der Fremde wissen nichts von ihrer gegenseitigen Existenz und dem buchstäblich ›geteilten‹ – denn als Mitteltafel teilt er den Roman in zwei Hälften – Vater. Der letzte Teil des Triptychons gehört Micks Bruder Gabriel, der als diegetischer Erzähler seines eigenen Lebens auftritt und dennoch »Der Fremde« genannt wird. Von der ersten Zeile an wird deutlich, dass Gabriel als souveräner Gegenspieler zum Berliner Slacker fungiert: Er ist Architekt, verheiratet, lebt in London und definiert sich über all das, was Mick fehlt: berufliche Ambitionen, Elitismus und Intellektualität.
Der Aufbau des Romans läuft unweigerlich auf eine familiäre Zusammenkunft hinaus, die dann auch konsequent am Schluss des Textes erzählt wird. Allerdings nicht ganz im erwarteten Sinne: Der Vater, der sich nach etlichen Jahren der Funkstille via E-Mail bei seinen Söhnen gemeldet hat, trifft zwar am Schluss des Textes auf seinen Sohn Mick, Gabriel aber bleibt dieser Wiedervereinigung fern. Statt ihm ist sein Sohn Albert mit von der Partie, der seinen Großvater Idris und seinen Onkel Mick das erste Mal trifft. Während im ersten Teil des Romans noch unklar ist, wohin sich Mick eigentlich entwickeln wird, und der Eindruck entsteht, die Figur fungiere als personifizierte Identitätskrise, wird spätestens mit dieser Schlussszene deutlich, dass der vagabundierende Mick weniger Probleme damit hat, seinem Selbstentwurf neue, bis dahin unbekannte Facetten hinzuzufügen als sein versierter Bruder Gabriel. Was Mick bis zu diesem Punkt der Erzählung an konkreten Situationsbewertungen und Entscheidungskompetenzen fehlte, kompensierte die Bruderfigur Gabriel dafür doppelt, und erst am Schluss des Romans erschließt sich, wie sehr Micks vermeintlich hinderliche Prokrastination letztlich durch Gabriels vermeintlich hilfreichere Entscheidungsfreudigkeit konterkariert wird. Die Erzählstruktur von Brüder erschließt sich also auf einen Blick und auch die Handlung ist rasch nacherzählt. Denn letztlich geht es darum, wie Mick und Gabriel in ihren jeweiligen sozialen Beziehungen und Milieus – der Berliner Partyszene und der upper middle class in London – zurechtkommen, sich in Skandale – Drogenschmuggel im Fall von Mick, Machtmissbrauch an der Universität im Fall von Gabriel – verwickeln, wieder freizukommen versuchen und dabei immer wieder mit der eigenen Vergangenheit und Herkunft ringen. »Wie wir zu den Menschen werden, die wir in der Mitte unseres Lebens sind«, wird die Handlung im Klappentext zusammengefasst, und das trifft zu, werden die Brüder doch kaum in ihren Entwicklungen als vielmehr in ihrer stagnierenden Lebensmitte fokussiert. Letztlich aber läuft die Erzählung auf einen klar erkennbaren Schlusspunkt zu: die familiäre Wiedervereinigung. Brüder lässt sich deshalb als literarisches Triptychon mit einem dramatischen Wendepunkt im Zentrum und einem halbwegs versöhnlichen Schlussmoment fassen, wobei stilistisch insbesondere die zirkulären Beschreibungen von Mick im ersten Teil bestechen, da sie von einem besonders subtilen Witz getragen werden.
Während es bei Thomae also um zwei antagonistisch angelegte männliche Figuren geht, die um eine ihnen gemeinsame unbekannte dritte Männerfigur herum arrangiert sind, erläutert Evaristo die Grundidee zu ihrem Roman wie folgt: »to put as many black british women as possible into a single novel« (Dussmann das KulturKaufhaus 2021: 10:22). Immerhin zwölf solcher Frauenfiguren haben es in den Roman geschafft, der sich aus fünf Kapiteln zusammensetzt. Die Kapitel eins bis vier porträtieren jeweils drei weibliche Figuren, wobei die Namen der Figuren die Kapitelüberschriften bilden. Für jedes dieser Trios werden die ersten beiden Personen matrilinear verschränkt: Amma ist die Mutter von Yazz, Bummi die Mutter von Carole, Winsome die Mutter von Shirley, Hattie die Großmutter von Megan/Morgen und die Mutter von Penelope (vgl. Verklammerungen in Abb.2). Die zwölf Figuren sind darüber hinaus teilweise auch durch Freundschafts-, Liebes- und Arbeitsbeziehungen miteinander verbunden.
Der Blick auf das Inhaltsverzeichnis enthüllt sofort den dramentypischen Aufbau: Es gibt fünf ›Akte‹, die Dramatis Personae sind alle genannt und am dramatischen Wendepunkt, in Kapitel drei, wird die erste weiße Figur eingeführt: Penelope, die als Jugendliche erfährt, dass sie adoptiert wurde, und deren Herkunftsrätsel erst im Epilog aufgelöst wird. Die Anagnorisis zwischen Penelope und Hattie funktioniert zugleich als Einbettung dieser Ausnahmefigur, da auch Penelope am Schluss Teil des schwarzen femininen Reigens wird. Evaristos Text ist erkennbar streng komponiert: Bis auf die Ausnahmefigur Megan/Morgan, die sich als »gender-free« (Evaristo 2019: 328) identifiziert und deshalb innerhalb ihres Kapitels von »Megan« zu »Morgan« wird (ebd.), fangen die Kapitel immer mit dem Namen der Figur an, wodurch die verschiedenen Episoden anhand des jeweils selben Auftakts formal verbunden werden. Zudem imitiert der Text als Ganzer strukturell einen Tanzreigen, was als transversales Formelement bestens in Evaristos poetologisches Programm, die sogenannte fusion fiction (vgl. Sethi 2019), passt, die sie, auf die Frage, wodurch sich ihr Roman stilistisch auszeichne, pointiert beschreibt:
I have a term I came up with called fusion fiction – that’s what it felt like, with the absence of full stops, the long sentences. The form is very free-flowing and it allowed me to be inside the characters’ heads and go all over the place – the past, the present. For me, there’s always a level of experimentation – I’m not happy writing what we might call traditional novels. There’s a part of me that is always oppositional to convention – not only counter-cultural and disruptive of people’s expectations of me, but also of form. That goes back to my theatre days, when we would write very experimentally, as we did not want to, as we saw it, imprison our creativity in traditional forms. (Evaristo, zit. n. ebd.)
Evaristo versteht unter fusion fiction also eine Prosa, die weitestgehend auf Interpunktion verzichtet und zahlreiche freie, teilweise auch gereimte Verse enthält. Das gesamte Konstrukt ähnelt damit dem Versroman, konterkariert diesen aber zugleich, denn es geht in den vielen punchlines keineswegs um höfische minne oder männliche aventiure, sondern um weibliche und dezidiert queere Lebenserfahrungen. Das Anfangs- und Schlusskapitel sind bei Evaristo zudem über eine Rahmenhandlung verbunden, wie beim Kreisreigen im Tanz, und das dramatische Element des Textes wird am Schluss auch auf der Ebene der Erzählung repetiert. Denn während das erste Kapitel die Dramatikerin Amma kurz vor einer wichtigen Theaterpremiere begleitet, wohnen die meisten Figuren des Romans im letzten Kapitel eben dieser Premiere bei, sodass Exposition und Schluss die Theatralik des Romanaufbaus auch inhaltlich aufgreifen. In Bezug auf die Romanhandlung lässt sich Mädchen, Frau etc., im Gegensatz zu Brüder, kaum zusammenfassen, da es keine Handlung im eigentlichen Sinne gibt. Es geht vielmehr darum, eine möglichst große Vielfalt schwarzer weiblicher Stimmen in einem suprafamiliären Porträt so zu entfalten, dass spürbar wird, wie sehr gerade weibliche Black, Indigenous and People of Color (BIPoC) die britische Gesellschaft schon seit Jahrhunderten prägen und wie wenig sie bislang literarisch gehört und gewürdigt wurden.
Meine hier proklamierte Annahme lautet, dass es beiden Autorinnen gelingt zu zeigen, wie groß gerade das Potential der erzählenden Literatur – im Gegensatz zum eingangs erwähnten Sachbuch oder Essay – für die gegenwärtige identitätspolitische Debatte ist, indem sie betont singuläre Erfahrungen mit Rassismus und Diskriminierung in ein nicht näher spezifiziertes ›Universelles‹ transponieren (vgl. Jullien 2019: 23). Man mag einwenden, dass die Repräsentation von Singulärem im Universellen grundsätzlich genau das ist, was Literatur zu leisten vermag, bemerkenswert ist es in diesem Fall aber dennoch; erstens, weil die beiden schwarzen Autorinnen damit genau das praktizieren, was in der europäischen Kulturgeschichte bis heute in der Regel von weißen Männern als theoretischer Anspruch beschrieben wurde und bis heute wird, und zweitens, weil sie dafür die Gattung des Romans gewählt haben und diese somit für den identitätspolitischen Diskurs fruchtbar machen. François Jullien konstatierte zum Verhältnis von einzelner Erfahrung und universellen Bedingungen kürzlich in seinem Essay Es gibt keine kulturelle Identität (2019), dass uns in Europa das Erbe des griechisch konzeptionellen Denkens bis heute regelrecht »traumatisiere«, weil wir durch das abstrahierende Denken, das auf universelle Erkenntnisse hin ausgerichtet ist, das, was unsere individuelle Erfahrung ausmache, stets zurückgelassen und vernachlässigt hätten:
Wenn die Wissenschaft über die Universalien spricht, de universalibus […], so besteht die ›Existenz‹ doch aus Singularitäten, existentia est singularium. Sie lässt sich nur in dieser Einzigkeit des Singulären erfassen. Daraus resultiert eine Trennung, und vielleicht ein Trauma für die europäische Kultur, der diese Anweisung, entsprechend dem Universellen denken zu müssen, vererbt wurde. (Jullien 2019: 23)
Diese auf ein universelles Erkenntnisinteresse hin orientierte Denkkultur habe uns gewissermaßen der Möglichkeit beraubt zu erkennen, dass wir von dem, worauf es eigentlich ankommt, nämlich auf die singuläre Erfahrung von Welt, nicht mehr wirklich zugreifen können, weil wir diese traditionsgemäß für irrelevant halten und wir das Credo scientia non est de singularibus verinnerlicht haben. Und aus dieser Unfähigkeit »resultiert gleichsam als Kompensation, die ›Berufung‹ der Literatur« (ebd.). Denn während »die Wissenschaft und die Philosophie dieser Forderung zu entsprechen suchen, holt die Literatur das Individuelle, vom Universellen Vernachlässigte wieder ins Bild, indem sie eine Gefühlsregung evoziert, indem sie ›ein Leben‹ erzählt; zugleich bringt sie die dem Leben inhärente Mehrdeutigkeit zurück« (ebd.; Hervorh. i.O.).
Die Literatur rettet innerhalb der europäischen Kulturgeschichte also das Singuläre, die existentielle Erfahrung innerhalb der Kategorie des Universellen, weil sie es schafft, Singularität als wesentlich zu begreifen, und weil sie Mehrdeutigkeiten Gültigkeit verschafft. Um aus der aktuellen Krise identitärer (Selbst)Bestimmungen ausbrechen zu können, müssten wir uns nach Jullien darauf besinnen, dass es nicht darum geht, Differenzen zu bestimmen – wie es eben die griechische Philosophie tut –, sondern darum, uns allen Identitätsfragen über die Figur des ›Abstands‹ zu nähern. Jullien zielt mit diesem Abstandskonzept darauf ab, dass es nicht länger darum gehen dürfe zu klassifizieren, sondern unser Fokus auf das Explorieren verschoben werden müsse. Um zwei zu bestimmende Terme zu identifizieren, dürften wir sie nicht über ihre Unterschiede voneinander differenzieren, sondern müssten sie mit Abstand betrachten und dabei die Spannung im »Dazwischen« (ebd.: 40) beider Terme dauerhaft erhalten. Zu bestimmende Identitäten müssten sich entsprechend in einer grundsätzlichen, »unaufhörlichen Gegenüberstellung« begreifen (ebd.), und genau das ist es, was die Romane von Thomae und Evaristo poetologisch verbindet: Beide Texte führen vor, dass das spannungserhaltende Explorieren, also das Erkunden von Identitäten, am besten in der erzählenden Literatur funktioniert, und zwar dann, wenn singuläre Erfahrungen maximal intensiv ausgeleuchtet werden. Ihre völlig gegensätzlichen Techniken der Ausleuchtung werden im Folgenden analytisch gegenübergestellt und einordnend zusammengeführt.
Wie Evaristo ihre punchlines platziert
Eine punchline wird üblicherweise als eine ›Faustschlagzeile‹ im Rap verstanden, und analog lassen sich Evaristos freie Verse verstehen, denn auch hier werden die Leser*innen oft regelrecht ›zu Boden gestreckt‹ von unerwarteten Wendungen und plötzlicher erzählter Gewalterfahrung. Diese wirken besonders intensiv, weil die Wahrnehmung der kapitelbestimmenden Figuren nahezu ausschließlich über interne Fokalisierung präsentiert wird. Das Tempus und die Erzählperspektive variieren zwar stark, es dominiert aber insgesamt eine nichtdiegetische Erzählweise, die mit interner Fokalisierung korreliert wird. Einige besonders wirkungsvolle punchlines finden sich im zweiten Kapitel zu »Carole«, die zunächst als erfolgreich agierende Finanzexpertin in den Chefetagen Londons vorgestellt wird:
Carole steps on the silver steps of the escalators with the rest of the commuting populace in their sombre office palettes as it elevates them skywards from below ground to the street level of Bishopsgate
She heads for an early morning meeting with a new client based in Hong Kong, whose net worth is multiple times the GDP of the world’s poorest countries
she’s thinking he’d better not do a double-take when she enters the executive meeting room
one long glass walk looking on to the City (Evaristo 2019: 116).
Die Figur wird als souveräne Person eingeführt, als jemand, die sich auf Augenhöhe mit den männlichen Kollegen der Branche bewegt und sich dabei offenbar wohl fühlt. Aber wenige Zeilen später erfolgt ein unerwarteter Rückblick, der die Figur in einer unerträglichen Situation der Unterwerfung schildert, an die sie durch eine Arbeitssituation erinnert wird:
it brought back such memories
such memories she’d locked away, it was all she could do not to collapse on the floor […]
that had lain dormant for years after it happened, when Carole was thirteen and a half and at her first party with no adults hovering like prison warders ruining the fun for everyone (Ebd.: 119; Hervorh. i.O.).
Carole ist in der erinnerten Szene jung, betrunken und hat auf einer Party gerade mit einem beliebten Jungen getanzt, der sie angeblich an die frische Luft bringen will:
He told her she needed fresh air, you’re so delicate I got to protect you, Lady […]
He led her through the crush of the hallway, ushered her out the front door […]
Once outside, he bundled her up under his arm as if her head was a package he was carrying and when she tried to lift it, she couldn’t […]
He took her over the little bridge that crossed the stream and through the gate […]
They were not alone
She heard other voices […]
then she was flat on her back on the ground, damp grass against her bare back, legs and arms, she wanted to sleep, just five blissful minutes, felt her eyes close, when she opened them, she couldn’t see, she’d been blindfolded, her arms were pinned above her head
how had her clothes come off?
then
her
body
wasn’t
her
own
no
more
it
belonged
to
them
and she, who loves numbers, became innumerate
couldn’t count, didn’t want to
feeling alien body parts on and in parts on her body that were so private, so gross, she hadn’t even felt them herself (ebd.: 124-126).
Solche freien, mit Assonanzen versehenen Verse sind den Leserinnen und Lesern an dieser Stelle des Textes zwar bereits bekannt, dennoch trifft die hier erzählte Gruppenvergewaltigung wie ein Faustschlag. Die starke Wirkung resultiert sowohl aus der Abruptheit, mittels derer dieses Ereignis erzählt wird, als auch aus der spezifischen Mischung von Auslassung und Klartext: Einerseits wird die Vergewaltigung fast elliptisch, wie in Kleists Marquise von O.... durch eine Leerzeile diskursiv evoziert (zwischen »more« und »it«), andererseits wird die grausame Tat in aller Präzision verdeutlicht, wenn es heißt: »sie konnte nicht zählen, wollte nicht zählen, spürte fremde Körperteile an und in Stellen ihres Körpers, die so privat, so eklig waren, dass sie sie nicht einmal selbst gespürt hatte« (Übers. AK.S.). Auch der Wechsel von der prosaisch-symbolischen Passage, in der die Figur von ihrem Täter auf die andere Seite der Brücke geführt wird und bereits die Kontrolle über ihren Körper verloren hat, hin zu den harten punchlines gehört zum narrativen Repertoire Evaristos. Es ist insbesondere diese Wechselwirkung, die das Existentielle, das hochgradig Individuelle besonders deutlich abzubilden vermag. Denn der Beginn dieser Episode ist erzählerisch eher prototypisch angelegt, mit der Phrase »es brachte bestimmte Erinnerungen zurück, Erinnerungen, die sie weggesperrt hatte […], die jahrelang geschlummert hatten, nachdem es passiert war « (Übers. A.K.S.). Hier bewegt sich Evaristo noch im Bereich standardisierter erzählerischer Phrasen, wenige Zeilen später aber schlägt dieser Ton um in unerhört direkte und schmerzhafte punchlines.
Auch die Ausnahmefigur Penelope, die als einzige weiße Frau aus dem Reigen hervorsticht, wird zunächst mit oftmals gehörten Sätzen als renitente Jugendliche eingeführt, die schließlich in sehr klischeehaften Sätzen erfährt, dass sie adoptiert wurde:
You are not our daughter in the biological sense, her father told her at lunch on her sixteenth birthday (great timing)
She’d been left in a cot on the steps of a church
They’d waited until she was old enough to understand
She’d been mysteriously deposited without certification, no note, no clues, nothing
[…]
what they didn’t add, in that moment, was that they loved her, something they’d never told her
what she needed in that moment was a declaration of unconditional love from the people who’d raised her as their own (ebd.: 280).
An solchen Stellen entpuppt sich Girl, Woman, Other als stilistisch und syntaktisch recht einfach gebauter Text und die zahlreichen stereotypen Charaktere und Beschreibungen sind unübersehbar, wenngleich, wie der Rezensent Dieckmann meint, die »kurzweilige Erzählstruktur« verschmerzen lässt, dass einige Figuren »etwas stereotyp« sind, wie etwa Nzinga, eine »›abstinente, vegane, nichtrauchende, radikalfeministische, separatistische Lesbe und Bauarbeiterin‹, die schwarze Fußmatten für rassistisch hält.« (Dieckmann 2021) Penelope wird den Leser*innen allerdings trotz Adoptionsklischee durchaus als jemand vorgestellt, die insbesondere unter einer ambivalenten Ehe leidet, die geprägt ist von Abhängigkeit, Abneigung und, mit zunehmendem Alter der Eheleute, auch von Ratlosigkeit. Penelope entwickelt dabei durchaus interessante Blicke auf ihre Existenz als weiße attraktive Mittelschichtsehefrau, letztlich aber wird auch sie in den Kreis der sich gegenseitig stärkenden schwarzen Frauen hereingeholt. Denn Evaristo beendet ihren Roman mit einer für Penelope neuen Perspektive auf die eigene Herkunft – führt den Text insgesamt damit aber eher wieder in die Gefilde wohlbekannter Erzählabschlüsse zurück. Das Rätsel um Penelopes Herkunft wird dabei narrativ wie folgt entwirrt: Zunächst lernen die Leser*innen die Figur Hattie kennen, die Großmutter von Megan/Morgan, eine patente ältere Dame mit einer für ihre Generation erstaunlich offenen Haltung gegenüber Transgender-Fragen und einem liebevollen Verhältnis zu ihrer/ihrem queeren Enkel*in. Nach diesem Fokus auf ein besonders gelungenes und auch intimes Großmutter-Enkel*in-Verhältnis wird die Mutter-Tochter-Beziehung von Penelope erneut in den Blick genommen, und Penelope, die um ihre Adoption weiß, lässt sich von ihrer Tochter Sarah zu einem DNA-Ahnen-Test überreden, dessen Ergebnis sie darüber informiert, dass sie zu 13 % afrikanische Vorfahren hat (vgl. Evaristo 2019: 448). Penelopes Tochter Sarah prüft daraufhin die Personenangaben, die in der DNA-Datenbank abrufbar sind, und erhält den Kontakt von Megan/Morgan und in der Folge dann auch von Hattie, die Penelopes biologische Mutter ist. Daraufhin begibt sich Penelope unmittelbar auf die Reise zu Hattie, und diese späte Begegnung zwischen einer bereits mehr als im Leben stehenden Tochter und ihrer mehr als betagten Mutter wird dann als Rührstück auf der letzten Seite des Romans inszeniert:
This metal-haired wild creature from the bush with the piercingly feral eyes
Is her mother
This is she
This is her
Who cares about her colour? Why on earth did Penelope ever think it mattered?
In this moment she is feeling something so pure and primal it’s overwhelming
They are mother and daughter and their whole sense of themselves is recalibrating
[…]
This is not about feeling something or about speaking words
This is about being
Together (ebd.: 452)
Aus dieser Perspektive endet Evaristos Roman mit einer doch eher traditionellen Vorstellung von Identität, wird hier doch behauptet, dass Hautfarbe egal sei und es eigentlich nur um das familiäre Band zwischen Mutter und Tochter gehe. Andererseits hat Evaristo bis zu dieser Schlussszene viele kunstvoll ineinander verwobene Lebensgeschichten ausgebreitet und dabei versucht, Identität als etwas zu fassen, das sich nur verstehen lässt, wenn es in einer »steten, wechselseitigen und unaufhörlichen Spannung bleibt« (Jullien 2019: 40), was also letztlich gerade nur literarisch möglich ist. Evaristo zeigt mit ihrer Mischung aus unterhaltenden Stereotypen und wirkungsvollen punchlines, wie sich Identität im Roman immer wieder neu entwerfen lässt, allerdings wird Identität in Girl, Woman, Other durchaus als etwas konturiert, das essentiell mit Familienähnlichkeiten und Verwandtschaft zu tun hat und das offensichtlich besonders auch (matri-)linear verstanden werden kann. Zugleich versucht der Roman einen panoramatischen Entwurf von Identität, will die komplexen Familien- und Klassenverhältnisse ansprechen, die immer auch ins Bild gerückt werden müssen, und letztlich, so meine These, liegt darin eine gewisse Schwäche des Textes. Denn der Anspruch maximaler Vielfältigkeit und einer Polyperspektive kollidiert immer wieder mit eher linear erzählten Bezügen, schematisch entworfenen Figuren und tradierten Topoi, wie der hier erörterten späten Erkenntnis einer wichtigen Verwandtschaft und der zugehörigen Versöhnung. Nachdem der Roman zuvor bemüht ist, eine historisch fundierte und queerfeministische Sicht auf die Identitätsfindungsprozesse schwarzer Frauen in England zu entwickeln, wartet der Schluss mit der eher schlichten Erkenntnis auf, nach welcher familiäre Bande letztlich alles – auch Rassismus – überwinden könnten.
Wie Thomae ihre Zirkel zieht
Brüder lässt sich gewissermaßen als ›Schwesterroman‹ im Geiste zu Girl, Woman, Other lesen, da Thomae zwar einen sehr ähnlichen literaturpolitischen Anspruch wie Evaristo hat, jedoch einen völlig gegensätzlichen Erzählstil kultiviert. Sie kreiert nur drei Personen, wobei der Vater als Mittlerfigur lediglich in einer episodenhaften Skizze auftaucht. Mick und Gabriel dagegen werden durch zahlreiche Erlebnisbeschreibungen in ihren gegensätzlichen Wesenszügen porträtiert. Der erste Teil des Romans lebt besonders von der Nähe zwischen erzählter Zeit, erzähltem Ort und erzählter Figur: Die 1990er Jahre, Berlin und Mick gehören untrennbar zusammen, wie gleich im Einleitungssatz klar wird:
Wieso, fragte Mick sich viele Jahre später, verschwammen die Neunziger in seiner Erinnerung zu einem konturlosen Nebel, obwohl es sein erstes Jahrzehnt als Erwachsener war? Wenn er sich hineinzoomte in diesen Nebel, der sich als Disconebel herausstellte, obwohl man schon lange nicht mehr Disco sagte, dann sah er, dass doch eigentlich viel Bemerkenswertes passiert war. (Thomae 2019: 11)
Dieser Rückblick Micks auf seine Partydekade in der Hauptstadt erschließt sich den Leser*innen in seiner ganzen Ironie erst am Schluss des Romans. Denn tatsächlich entsteht im Mick gewidmeten ersten Teil des Romans der Eindruck, es würde gerade nichts »Bemerkenswertes« erzählt, sondern das Leben dieses Unentschlossenen anhand sich aneinanderreihender, amüsanter Eskapaden vorgeführt, die sich ohne jedes Gewicht und Telos abspulen. Mick lebt intensiv, mischt die Musik- und Partyszene im Westen der Stadt auf, verhält sich dabei aber im Grunde permanent wie ein Mitläufer ohne eigene Ambitionen. So sagt er beispielsweise, ohne weiter nachzudenken, eine Ente à l’Orange genießend, die sein bester Freund Desmond zubereitet hat, ja zu dessen Vorschlag, eine große Menge Kokain zu schmuggeln (vgl. ebd.: 50). Damit die beiden dabei nicht aussehen wie »zwei zwielichtige schwarze Schwuchteln« (ebd.: 52), entscheiden sie, ihre Freundinnen als »Tarnung« und als Schutz vor rassistischen Kontrollen mitzunehmen (ebd.). Der Plan misslingt, Desmond und Mick werden von britischen Grenzbeamten festgehalten, während Delia, die Freundin von Mick, unbescholten davonkommt. Aber auch dieser vermeintlichen Sackgasse entgeht Mick: Die ihn befragenden Polizisten halten ihn lediglich für einen »Komplizen« Desmonds und bei ihm selbst wird, auf wundersame Weise, nur ein »völlig entleerter Darmtrakt« vorgefunden (ebd.: 82f.). Auch dieses potentiell einschneidende Erlebnis wird also nicht als etwas wirklich Bemerkenswertes erzählt, sondern dient vielmehr dazu, Micks eigenartige Grundhaltung zu unterstreichen. Er bleibt auch angesichts einer drohenden Gefängnisstrafe gelassen und optimistisch und zeichnet sich in dieser wie auch in allen anderen geschilderten Situationen durch eine eigentümliche Mischung aus beherzter Solidarität und indifferenter Ziellosigkeit aus. In einer Passage, die zwischen nichtdiegetischer Nullfokalisierung und intern fokalisierten Bewertungen Micks und Desmonds wechselt, treten diese Charaktereigenschaften der Figur besonders deutlich hervor:
Mick war ein guter Begleiter. Nicht zuverlässig im landläufigen Sinn, am allerwenigsten konnte er sich auf sich selbst verlassen. Aber mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er zu spät kam, war er auch da, wenn er da war. […] Desmond hatte ihn in jedem Zustand Auto fahren sehen, er war dabei gewesen, als er einen Obdachlosen, der im Schnee eingeschlafen war, bis zur Notaufnahme trug und sich den gesamten Weg über von ihm beschimpfen ließ. Was Desmond unerhört fand, Mick hingegen zwar nicht direkt hilfreich, in Anbetracht der Gesamtsituation des Penners aber verständlich: Tut mir echt leid, Alter, aber wir müssen jetzt ins Krankenhaus, geht nicht anders, okay? Dabei hatte er so nachsichtig gelacht, als hinge auf seinem Rücken ein frisch gebadeter kleiner Junge, nicht ein verwahrloster alter Mann. (Ebd.: 67)
Als Leser*in begleitet man diesen sympathischen Zeitgenossen bis zuletzt mit einer gewissen Distanz, da seine Motive und Ziele verworren bleiben. Selbst am Schluss, als der »Mitreisende« – ähnlich wie Penelope bei Evaristo – durch Zufall erfährt, dass er seit vielen Jahren eine Tochter hat, gerät er nicht aus der ihm eigenen Fassung. Die »niedlich[e], blond[e] und unkomplizierte Lynn« (ebd.: 89), mit der er während seines erzwungenen Zwischenstopps in London, unmittelbar nach der Drogenkontrolle, eine Nacht verbrachte, hatte zwar versucht, ihm zumindest schriftlich von ihrer Schwangerschaft zu erzählen, letztlich aber führte das für Mick typische Chaos dazu, dass der so wichtige Brief wegen unwichtiger Dinge über Jahre ungeöffnet blieb. Thomae schafft es, in der nichtdiegetischen Porträtierung Micks eine sehr kurze, aber konsequent aufrechterhaltene Distanz zu dieser Figur herzustellen, die stellenweise auf Ironie basiert, größtenteils aber das Ergebnis der narrativen Struktur ist. Immer wieder werden episodenhafte Zirkel um die Figur gezogen, aber keines der Ereignisse, sei es noch so markant oder traumatisch, vermag es, diese mittelbare Distanz auszuhebeln. Alles über Mick Erzählte fügt sich geschmeidig in die bereits bestehende zirkuläre Struktur; die Leser*innen sollen gerade nicht aus dem Takt geraten – wo Evaristo also auf unerwartete punchlines setzt, arbeitet Thomae mit einem fein gestimmten Abstand zur Figur, der niemals aufgehoben wird.
Für Micks Bruder Gabriel, den diegetischen Erzähler im dritten Teil des Romans, gilt dieser austarierte Abstand nicht, denn Gabriel berichtet von Beginn an aus der Perspektive eines ironisch-distanzierten Intellektuellen, der sich in allen Situationen überlegen fühlt. Er betont seine akademischen Meriten und seinen Status als Dozent für Architektur, äußert sich aber während einer Party über eine seiner Studentinnen derart herablassend, dass dies einen handfesten Skandal nach sich zieht, in dem er sich selbst bezeichnenderweise als Opfer erkennen will:
[D]ie Reaktion meiner Studentin übertraf meine Vorurteile und meine schlimmsten Befürchtungen. […] Und dass dieser Vorfall so gut wie in jede Art von Debatte passte, hat dieses Mädchen womöglich selbst überrascht. Vielleicht hat sie aber auch mit dem Facettenreichtum ihrer Opferrolle gerechnet. Gender, Bildungssystem, Klasse, Hautfarbe, alles kam aufs Tapet, jeder durfte sich einmal äußern. Mir wurden mehr Macht, mehr Geld und mehr Einfluss unterstellt, als ich je erreichen werde. Einige Kommentare lasen sich, als wäre ich Dominique Strauss-Kahn. (Ebd.: 220)
Bereits nach diesen wenigen Sätzen fällt auf, dass der Gabriel gewidmete Teil des Romans einen anderen Ton anschlägt und die typischen identitätspolitischen Themen hier ohne Umschweife adressiert werden. Im ersten Teil des Textes werden derartige Fragen und Konflikte nur indirekt beleuchtet, wirken dafür aber umso mehr nach, weil die Leser*innen ständig mit einem ostentativ gelassenen Mick konfrontiert werden, der trotz der ihm immer wieder begegnenden Alltagsrassismen und Diskriminierungen keine Defensivmechanismen entwickelt und nicht einmal bewertende Einordnungen dieser Erlebnisse vornimmt. Die Figur des Gabriel ist im Vergleich dazu schematischer angelegt, als schwarzer Intellektueller, der die identitätspolitischen Debatten auf täglicher Basis für sich durchdekliniert, dabei aber undifferenziert und einseitig argumentiert und damit sein professionelles und familiäres Umfeld mehr und mehr vor den Kopf stößt. Angesichts dieser spröden Charaktereigenschaften Gabriels überrascht es nicht, dass ausgerechnet er in der Wiederbegegnungsszene am Schluss des Romans fehlt: Es begegnen sich nur Mick, Gabriels Sohn Albert und der Vater der beiden Brüder, Idris. Idris ist den Leser*innen lediglich durch das oben erläuterte »Intermezzo« als Figur bekannt und auch in diesem werden nur wenige Eckdaten genannt. Idris kam als »junger afrikanischer Student aus [einem] jungen Nationalstaat« (ebd.: 197) im Jahr 1967 nach Leipzig, um an der Karl-Marx-Universität Medizin zu studieren, und wurde, ebenso wie seine Kommilitoninnen und Kommilitonen, als Hoffnungsträger eines »neuen, postkolonialen Afrikas« gefeiert (ebd.). Zudem erfahren die Leser*innen, dass er sich im Jahr 2000 leicht verkatert auf einer Rückreise aus Paris befindet, wo er einen alten Studienfreund besucht hat. Im Zug sitzend, denkt Idris dann das erste Mal seit Langem wieder an Monika und Gabriele aus der DDR, die Mütter von Mick und Gabriel, die passenderweise über die Namensalliteration mit den Söhnen verbunden sind. Seine beiden ihm unbekannten Söhne schleichen sich dabei nur en passant in seine Überlegungen ein:
Michael hatte sie ihn genannt, er nannte ihn Michel, ein rundes, selbstgenügsames Baby […]. Als er ihn das letzte Mal sah, lief er schon, sprach aber noch nicht. Er hatte dieses Kind lachen, aber nie weinen sehen, konnte das sein? Monika hatte ihm jahrelang Bilder von ihm geschickt. Idris fragte sich zum ersten Mal, ob er sie noch hatte. Die Frage, was wohl aus ihm geworden war, dachte er nicht zu Ende. (Ebd.: 205)
In Idris’ Erinnerung verschmelzen Monika und Gabriele sogar zunächst zu ein und derselben »deutschen Frau« (vgl. ebd.: 207 u. 214), bevor er sich, mit Hilfe einer Fotografie, daran erinnert, dass es nach Monika eine weitere Beziehung gab, mit Gabriele, einer Bauzeichnerin, mit der er ebenfalls einen gemeinsamen Sohn hat:
Auf dem Foto hatte sie das Baby auf dem Arm. Schwarzes glattes Haar wie sie, weiße Haut wie sie. […]
Idris Ernst Gabriel, geboren am 8. November 1970, stand hinten auf dem Foto. Sie hatte ihn nach ihm genannt, nach ihrem Vater und nach sich selbst. […] Er schaute sich das Foto noch einmal an, bevor er es zurück in den Umschlag schob, und war sich plötzlich sicher, dass er so geworden war wie sie. Kein Idris, kein Ernst, ein Gabriel. Ein schöner Mensch, wie seine Mutter. (Ebd.: 214f.).
Die familiäre Wiedervereinigung am Schluss von Brüder ähnelt auf den ersten Blick durchaus der Schlussszene in Girl, Woman, Other, allerdings wird die Erstbegegnung zwischen Idris und Mick – Gabriel bleibt bis zuletzt der ›Fremde‹ - bei Thomae mit deutlich mehr Leichtigkeit und Witz präsentiert: Vater und Sohn machen sich innerhalb weniger Minuten miteinander vertraut und das letzte Wort hat Gabriels Sohn Albert, der seinen neuen Onkel Mick fragt: »Willst Du meinem Dad was sagen?«, woraufhin der eine »endlose Message« in das »Phone« von Albert spricht und ihm auf dessen Nachfrage antwortet:
Ich habe ihm gesagt, dass ich mich darauf freue, ihn zu treffen.
Mehr nicht?
Der Rest war ein Ding unter Brüdern.
Ich nickte. Klar. (Ebd.: 430)
Das Bemerkenswerte am Ende von Thomaes Roman ist, dass die Begegnung der beiden Hauptfiguren gerade nicht stattfindet. Die beiden Brüder liegen sich am Ende nicht in den Armen, sie sprechen noch nicht einmal miteinander. Aber die Annäherung zwischen ihnen ist angebahnt, scheint greifbar nahe – und dann ist der Roman zu Ende. Thomae kommt auch hier ohne die konkrete Benennung von Emotionen aus, sie vermittelt diese subtil, als lediglich erahnbare Affekte, die zwischen den Dialogzeilen der drei Männer am Flughafen entstehen.
Zusammenfassend wird deutlich, dass die Figur des Abstands, die unter Verweis auf Jullien hier als essentielle Kategorie für Identitätskonstruktionen beschrieben wurde, in der Erzählweise Thomaes sehr präsent ist. Insbesondere für die Figur des Mick setzt sie auf eine konsequent durchgehaltene mittlere Distanz, durch die die Figur in einer permanenten Spannung bleibt, ohne dass Vergangenheitstraumata oder auffällige erzählerische Wendungen eingesetzt würden. Beide Autorinnen entscheiden sich dafür, ihre Identitätserzählungen mit einem familiären Aussöhnungsmoment abzurunden, beide enden dezidiert hoffnungsvoll. Gleichwohl bleibt der Schluss bei Thomae mehr im »Dazwischen« (Jullien 2019: 40) verhaftet, weil unklar ist, ob und wie sich Mick und Gabriel verstehen werden. Es bleibt den Leser*innen überlassen zu entscheiden, ob der Kontaktversuch des bis dato absenten Vaters ausreichen wird, um die beiden mitten im Leben stehenden Brüder zueinander zu führen.
Fazit
Abschließend lässt sich sagen, dass es beiden hier untersuchten Autorinnen gelingt zu zeigen, wie gut erzählende Literatur geeignet sein kann, um die je eigenen kulturellen Ressourcen zu explorieren, anstatt sie zu klassifizieren. Sie loten mit völlig unterschiedlich wirkenden narrativen Mitteln aus, wie sich singuläre Erfahrungen so erzählen lassen, dass dabei Identitäten einzelner Figuren greifbar werden. Beide Romane illustrieren, dass sich Identität nur als etwas begreifen lässt, dass sich aus einem spannungsreichen Miteinander vieler Akteurinnen und Akteure ergibt, die über unzählige Ereignisse und Erfahrungen miteinander verbunden sind. Beiden Texten gelingt es zu zeigen, wie schwierig es ist, präzise zu erzählen, wie sich eine einzelne Identität konstituiert. Allerdings wählt Thomae aufgrund dieser Schwierigkeit als Mittel die personelle Reduktion und die narrative Distanz, während Evaristo auf personelle Vielfalt und narrative Unvermitteltheit setzt. Zugleich liegen mit Brüder und Girl, Woman, Other natürlich Romane vor, in denen die in der europäischen Literatur bislang unterrepräsentierte Erfahrung schwarzer junger Menschen in Deutschland und Großbritannien reflektiert wird, wobei es Evaristo zusätzlich um queere Identitätsverständnisse geht und Thomae vor allem die innerdeutsche Geschichtserfahrung mit afrikanischer Diaspora zusammendenkt. Beide beleben mit ihren poetologischen Programmen die aktuelle Debatte um Zugehörigkeit und Identität. Jedoch ging es mir mit dem hier angestellten Vergleich nicht darum, einmal mehr darzulegen, inwiefern Evaristo und Thomae problematische Ismen unserer Gegenwart in ihren Romanen verhandeln, sondern um die kontrastierenden Erzähltechniken. Zum poetologischen Programm beider Autorinnen dürfte unzweifelhaft gehören zu demonstrieren, dass sämtliche Identitäten, ob fiktional oder real, immer eines großen erzählerischen Raums bedürfen, um auch nur annähernd erfasst werden zu können. Im hier angestellten direkten Textvergleich aber und mit Blick auf die Überlegungen Julliens zu einem auf Abstand basierenden Identitätsverständnis zeigte sich, dass es Thomae in Brüder, und insbesondere im ersten Teil des Romans, konsequenter gelingt, im wahrsten Sinne des Wortes auf Abstand zu bleiben. Gerade durch die bewusst gewählte mittlere Distanz zu Mick und den Verzicht auf konkrete punchlines wie bei Evaristo kann sich dessen Identität rezeptiv nachhaltiger entfalten. Das Zirkuläre, Indirekte verschafft dieser Figur einen Raum, in dem das spannungsvolle Gegenüber von nicht abschließend definierten Einheiten, wie es Jullien gefasst hat, erhalten bleibt; bei Evaristo hingegen werden spannungsreiche Begegnungen oder Erfahrungen sehr viel rascher und direkter zu Ende erzählt. Gabriel und Mick bleiben als sich gegenseitig unbekannte Antagonisten in einer für die Leser*innen spannungsreichen Beziehung, und es gelingt Thomae zu vermitteln, dass es so etwas wie einen inneren, ›identitären Kern‹ von Mick nicht gibt, zumindest nicht als etwas, das sich in innerhalb der Lektüre abschließend dechiffrieren ließe. Für die Figur des Gabriel mag das weniger gelten, aber Mick bleibt in seinen Beweggründen und Handlungen unverständlich, obwohl die Leser*innen doch so viel über sein Leben, seine Familie, seine Heimat, Herkunft, seinen Wohnort, sein Sozialleben und seine Liebesbeziehungen erfahren haben, obwohl sie also über all jene Informationen verfügen, aus denen sich vermeintlich klare Rückschlüsse über die Identität einer Person ziehen lassen. Der Roman Brüder transportiert insofern die charmante Idee, dass Identität im Grunde etwas ist, das selbst angesichts großer erzählerischer Vermittlungskunst immer leicht verrätselt bleibt und vielleicht auch bleiben sollte. Die Schwierigkeit in Evaristos anspruchsvollem Erzählprojekt hingegen besteht darin, dass die Figuren und ihre sozialen Interaktionsräume maximal und gewissermaßen bis in die letzte fiktive Ecke hin ausgeleuchtet werden, sodass eine einmal evozierte erzählerische Spannung sehr schnell wieder abgebaut und aufgelöst wird und im Ganzen weniger Identitätsinterpretation möglich ist als bei Thomae.
Schlussendlich bleibt es freilich den Leser*innen überlassen, ob sie sich eher den direkten punchlines Evaristos oder den distanzierten Zirkeln Thomaes überlassen wollen – beide Romane antworten jedenfalls auf die eingangs skizzierten identitätspolitischen Debatten mit innovativen Erzählstrategien und Figuren, die in Erinnerung bleiben. Sie bieten also den terminologischen Schlachten literarisch die Stirn und führen vor, wie groß das Potential des Gegenwartsromans ist, um die Frage nach der Möglichkeit identitärer Bestimmung weiterhin in existentieller Spannung zu halten.
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