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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 15. Jahrgang, 2024: Franziska Bergmann: Schreibweisen des Exotismus. Sinnesfülle und Fremdheit in der westeuropäischen Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (Stefan Hermes)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 15. Jahrgang, 2024

Franziska Bergmann: Schreibweisen des Exotismus. Sinnesfülle und Fremdheit in der westeuropäischen Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (Stefan Hermes)

Franziska Bergmann: Schreibweisen des Exotismus. Sinnesfülle und Fremdheitin der westeuropäischen Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert

Berlin/Boston: De Gruyter 2023 – ISBN 978-3-11-075502-2 – 109,95 Euro (Open Access unter www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110755053/html? lang=de)

https://doi.org/10.14361/zig-2024-150119

Speziell seit den 1990er Jahren haben sich die Literaturwissenschaften (wieder) recht intensiv mit dem exotistischen Diskurs auseinandergesetzt – womit freilich nicht gesagt ist, dass er bereits als erschöpfend erforscht gelten kann. Vielmehr liefert Franziska Bergmanns hier zu besprechende Trierer Habilitationsschrift, das sei vorweggenommen, nicht allein etliche erhellende Einsichten, sondern auch mancherlei Anknüpfungsmöglichkeiten für künftige Arbeiten. Das geschieht primär mit Blick auf die deutschsprachige Literatur; in einigen exkursartigen Passagen werden überdies Werke in französischer und englischer Sprache behandelt. (Angesichts dessen mutet der Untertitel der Studie etwas überdimensioniert an, und verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass jeweils nur ein Werk aus dem 18. und dem 20. Jahrhundert nähere Beachtung findet.)

In ihrer Einleitung rekonstruiert Bergmann die Geschichte des Exotismusbegriffs und zumindest in Ansätzen auch dessen Verhältnis zu Konzepten wie ›Primitivismus‹, ›Orientalismus‹, ›Afrikanismus‹ und ›Ozeanismus‹. Vor allem aber wirbt sie dafür, den literarischen Exotismus als gewichtigen Beitrag zu jener Aufwertung der Sinnlichkeit zu verstehen, auf die schon die Ästhetik Baumgarten’scher Provenienz und die (völkerkundliche) Anthropologie der Aufklärung abgezielt hatten. Ferner enthält Bergmanns Einleitung einen gründlichen Forschungsbericht, in dem einschlägige Arbeiten von Friedrich Bries wegweisender, an Victor Segalen anknüpfender Abhandlung Exotismus der Sinne (1920) über Wolfgang Reifs nicht minder einflussreiche Untersuchung Zivilisationsflucht und literarische Wunschräume (1975) bis zu jüngeren Publikationen von Nicola Gess (vgl. 2013) oder Michaela Holdenried (vgl. 2014) gewürdigt werden.

Welche eigenen Akzente aber will die Verfasserin vornehmlich setzen? Zum einen aktualisiert sie jenes Programm, das bereits bei Brie auszumachen ist, sucht sie doch zu eruieren, »auf welche Weise die Literatur exotische Erfahrungen als intensive Sinneserfahrungen entwirft« und dabei die »Destabilisierung europäischer Wahrnehmungskonventionen« (7) betreibt. Zum anderen geht Bergmann insofern über die Analyse inhaltlicher Gesichtspunkte hinaus, als sie sich ausgiebig mit den textuellen Verfahren bzw. mit der Medialität der von ihr ausgewählten Werke befasst. So fragt sie in erster Linie danach, wie deren Autoren – Autorinnen berücksichtigt sie nicht – »sensorisch[e] Eindrücke exotisierter Weltgegenden, Kulturen und Objekte in Sprache […] übersetz[t]en« (8) und wie sie diesen Prozess (auto)poetologisch reflektierten. Um einen Paradigmenwechsel innerhalb der Exotismusforschung ist es ihr demnach nicht zu tun; stattdessen schließt sie an vorhandene Ansätze an, die sie produktiv erweitert.

Es versteht sich, dass die Verfasserin ihr Korpus gemäß den skizzierten Erkenntnisinteressen zusammengestellt hat. Somit beziehen sich ihre Überlegungen auf Texte, »die im Hinblick auf die aisthetische Dimension des Exotismus über ein besonders hohes Maß an Literarizität und medialer Reflexion verfügen« (32). Das heißt im Umkehrschluss, dass die exotistische ›Trivialliteratur‹ für sie kaum von Belang ist, und analog dazu klammert sie jenen populären Exotismus aus, der sich seit dem späten 19. Jahrhundert in ›Völkerschauen‹, auf Werbeplakaten und dann auch im frühen (Abenteuer)Film manifestierte (vgl. dazu Wolter 2005).

Während diese Schwerpunktsetzung bzw. Materialauswahl mehr als legitim ist, vermag eine andere konzeptionelle Entscheidung Bergmanns schwerlich zu überzeugen. Sie besteht darin, »[m]achtbezogene Aspekte« des Exotismus über weite Strecken zu ignorieren, da man derlei »im Zuge der Rezeption von Edward Saids Orientalism [1978] und der Postcolonial Studies insgesamt schon ausführlich […] diskutiert« habe, »sodass hier keine neuen Ergebnisse zu erwarten sind.« (50) Diese Annahme erscheint jedoch einigermaßen gewagt, und es leuchtet auch nicht ein, dass Bergmann der von ihr monierten Einseitigkeit der postcolonial studies, die aus deren Überbetonung des Politischen resultiere, mit einer Inversion dieser Einseitigkeit qua Konzentration auf das Ästhetische begegnet. Schlüssiger wäre es gewesen, den Fokus auch und gerade auf die reziproken Beziehungen zwischen der ästhetischen Faktur der Texte und ihren politischen Implikationen zu richten (vgl. als Beispiel für einen solchen Zugriff Uerlings 2006).

Gleichwohl sind Bergmanns Werkinterpretationen, wie bereits angedeutet, äußerst lesenswert geraten. So kann sie zeigen, auf welche Weise Christoph Martin Wieland in den Beyträgen zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens (1770/95) »eine Art Anthropologie in literarischem Gewand entwirft, die den Menschen als primär sinnliches Genusswesen konzipiert.« (56) Von erheblicher Relevanz sind in diesem Zusammenhang Wielands Anleihen bei der Ästhetik des Rokoko, die ihm wesentlich dazu dienen, sich effektvoll von »Rousseaus asketischem Ideal« abzugrenzen und damit »einen gewissermaßen gesundheitsfördernden Auftrag zu erfüllen« (56). Mit einigem Gewinn liest man diese Darlegungen deshalb, weil Bergmann die Überschneidungen von ästhetischem und medizinischem Diskurs in der Epoche der Aufklärung konzise rekonstruiert, aber auch aufschlussreiche Detailbeobachtungen zu Wielands Erzähltechnik und deren (komischer) Wirkung präsentiert.

Ohne jede Überleitung wendet sich die Verfasserin sodann E.T.A. Hoffmanns kanonischem Kunstmärchen Der goldne Topf (1814) zu. Demnach wird ein literaturgeschichtlicher Zeitraum von mehreren Jahrzehnten gleichsam übersprungen, und dies ist auch im weiteren Verlauf immer wieder der Fall. Mithin folgen Bergmanns Interpretationskapitel recht unverbunden aufeinander; man vermisst knappe literatur- und kulturhistorische Abrisse, mittels derer die Texte in ein Verhältnis zueinander und zu verwandten Werken gesetzt würden: Ein solches Vorgehen hätte ja keineswegs zwangsläufig bedeutet, in antiquierter Manier eine in sich geschlossene, vielleicht sogar teleologische ›Entwicklung‹ zu konstruieren. Ungeachtet dessen erweist sich Bergmanns Lektüre des Goldnen Topfs als sehr instruktiv, fördert sie doch unter anderem zutage, auf welche Weise Hoffmann seine Beschreibungen exotischer Pflanzen für eine »poetische Verhandlung der Einbildungskraft« (81) nutzbar macht.

Das nächste Kapitel führt vor, inwiefern der ›Orient‹ in den ersten Gedichten aus Goethes West-östlichem Divan (1819/27) als »sensorisch anziehender Sehnsuchtsort« (104) und »Kontrastfolie« (113) zur europäischen Realität entworfen wird. Dann aber werden zusehends, wie Bergmann im Rekurs auf Überlegungen Anil Bhattis demonstriert, Ähnlichkeiten zwischen östlicher und westlicher Kultur exponiert bzw. deren mannigfache Verflechtungen hervorgehoben. Alexander von Humboldts Essayband Ansichten der Natur (1808/26/49) wiederum vermittelt den Leser:innen nicht allein visuelle, sondern ebenso akustische Impressionen tropischer Landschaften und bedient dabei sowohl ein wissenschaftliches Interesse als auch ein eskapistisches Begehren. Im erst in der dritten Ausgabe von 1849 enthaltenen Text Das nächtliche Tierleben im Urwald geschieht das, so Bergmann, zum einen »durch die Verwendung von Begriffen aus dem semantischen Spektrum der Musik« (142), zum anderen durch den Gebrauch von Topoi romantischer Schauererzählungen wie Ludwig Tiecks Der blonde Eckbert (1797/1812).

Das erste Werk des Realismus, mit dem sich die Verfasserin daraufhin beschäftigt, ist Gottfried Kellers Novelle Pankraz, der Schmoller aus dem Jahr 1856 – eine Erzählung, welche die Konjunktur exotischer Sujets im bürgerlichen Zeitalter anschaulich dokumentiert. (Dennoch wäre es nützlich gewesen, auf entfernt verwandte Texte wie Theodor Storms 1865 publizierte Novelle Von Jenseit des Meeres oder Wilhelm Raabes Abu-Telfan-Roman von 1867 wenigstens hinzuweisen.) Im Unterschied zu Teilen der Forschung vertritt Bergmann die Auffassung, dass Pankraz, der Schmoller keineswegs eine kaum gebrochene kolonialistische Weltsicht transportiert; vielmehr werde das europäische Expansionsstreben darin in teils ambivalenter, aber überwiegend kritischer Manier geschildert (wobei auch die Komik zu ihrem Recht komme). Triftig erscheint dies nicht zuletzt aufgrund der präzisen Beobachtungen zu Kellers Fokalisierungstechnik und zu seinem intertextuellen Schreibverfahren. Insgesamt belegt Bergmanns Keller-Kapitel, dass sich Fragestellungen aus dem Bereich der postkolonialen Studien sehr wohl in ertragreicher Weise mit formbezogenen Erwägungen kombinieren lassen.

Wenn sich die Verfasserin anschließend Theodor Fontanes Roman L’Adultera (1879/80) und mithin einem weiteren kanonischen Text des Realismus widmet, geht es ihr vorrangig darum, dessen implizite medienreflexive Poetik herauszupräparieren. Dazu analysiert sie primär die zentrale, in einem Treibhaus situierte Ehebruchsszene, die sich unter anderem durch die Narrativierung synästhetischer Eindrücke auszeichnet. Besondere Bedeutung komme indes dem oft verpönten Olfaktorischen zu, woraus sich eine gewisse Nähe von L’Adultera zu Gustav Freytags Soll und Haben (1855) wie auch zu Émile Zolas La Curée (1872) ergebe. Speziell von Zolas skandalträchtigem Roman distanziere sich Fontane allerdings insofern, als seine Erzählweise »nicht dem Prinzip sinnlich-dionysischer Entfesselung frönt«, sondern darauf ausgerichtet sei, die – bürgerlich-realistische – Literatur als »ein Medium der Mittelbarkeit und Distanz« (205) zu kultivieren.

Hugo von Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht (1895) charakterisiert die Verfasserin sodann als einen Text, der Versatzstücke des Ästhetizismus à la Joris-Karl Huysmans und Oscar Wilde mit solchen des (orientalistischen) Exotismus kombiniert. So warte die Erzählung einerseits mit minutiösen Deskriptionen auf, andererseits greife ihr Autor auf das schon von Hoffmann, Zola und Fontane genutzte Treibhausmotiv zurück – wobei auch Elemente einer Ästhetik des Hässlich-Grässlichen zum Einsatz gelangten. Letzteres trifft gleichermaßen auf Thomas Manns berühmte Novelle Der Tod in Venedig (1912) zu, mit der sich Bergmanns Schlusskapitel auseinandersetzt. Signifikant sei hier, dass Mann das exotisch konnotierte Exzessive, das dem Text auf der Inhaltsebene eignet, erzählerisch einhege. Demgegenüber gelinge es seinem Protagonisten Gustav von Aschenbach nur vorübergehend, ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen rauschhaft-dionysischem und rational-apollinischem Prinzip zu schaffen, was ihn seine künstlerische Produktivität und schließlich auch das Leben koste. Darüber hinaus weist die Verfasserin auf einige bemerkenswerte Parallelen zwischen den Dschungeldarstellungen in Manns Novelle – in der sich Aschenbach einmal in einem tropischen Tagtraum verliert – und denen in Joseph Conrads Kurzroman Heart of Darkness (1899) hin.

Das hilfreiche (wenngleich wohl doch allzu ausführliche) Fazit der Untersuchung verdeutlicht noch einmal, dass Bergmanns Lektüren eine Vielzahl neuer Befunde erbringen: Die Entscheidung, sich dem literarischen Exotismus über dessen Inszenierungen sensorischer Wahrnehmungen zu nähern, hat sich – ungeachtet kleinerer konzeptioneller Schwächen – als höchst ergiebig erwiesen. Daher ließe sich künftig prüfen, inwiefern eine solche Perspektive auch dem Verständnis fiktionaler Werke unterhalb des Höhenkamms sowie faktualer Reiseschilderungen zuträglich sein kann. Zu hoffen wäre also, dass Bergmanns vorzügliche Studie der Exotismusforschung, gemeinsam mit einigen anderen aktuellen Veröffentlichungen (vgl. besonders Duppel-Takayama/Parr/Schwarz 2023), weiteren Auftrieb gibt.

Stefan Hermes

Literatur

Brie, Friedrich (1920): Exotismus der Sinne. Eine Studie zur Psychologie der Romantik. Heidelberg.

Duppel-Takayama, Mechthild/Parr, Rolf/Schwarz, Thomas (Hg.; 2023): Exotismen in der Kritik. Paderborn.

Gess, Nicola (2013): Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der Literarischen Moderne. Paderborn.

Holdenried, Michaela (2014): Das alte Japan und die europäische Moderne. Versuche über den Exotismus (Bernhard Kellermann, Hugo von Hofmannsthal). In: Barbara Beßlich/Dieter Martin (Hg.): Schöpferische Restauration – Adaption und Transformation in der Klassischen Moderne. Festschrift für Achim Aurnhammer. Würzburg, S. 87-103.

Reif, Wolfgang (1975): Zivilisationsflucht und literarische Wunschräume. Der exotistische Roman im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Stuttgart.

Uerlings, Herbert (2006): »Ich bin von niedriger Rasse«. (Post)Kolonialismus und Geschlechterdifferenz in der deutschen Literatur. Köln/Weimar/Wien.

Wolter, Stefanie (2005): Die Vermarktung des Fremden. Exotismus und die Anfänge des Massenkonsums. Frankfurt a.M.

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Matteo Anastasio/Margot Brink/Lisa Dauth/Andrew Erickson/Isabelle Leitloff/Jan Rhein (Hg.): Transnationale »Literaturen und Literaturtransfer im 20. und 21. Jahrhundert. Plurilinguale und interdisziplinäre Perspektiven (Georgiana Roxana Lisaru)
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