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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 15. Jahrgang, 2024: Matteo Anastasio/Margot Brink/Lisa Dauth/Andrew Erickson/Isabelle Leitloff/Jan Rhein (Hg.): Transnationale »Literaturen und Literaturtransfer im 20. und 21. Jahrhundert. Plurilinguale und interdisziplinäre Perspektiven (Georgiana Roxana Lisaru)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 15. Jahrgang, 2024

Matteo Anastasio/Margot Brink/Lisa Dauth/Andrew Erickson/Isabelle Leitloff/Jan Rhein (Hg.): Transnationale »Literaturen und Literaturtransfer im 20. und 21. Jahrhundert. Plurilinguale und interdisziplinäre Perspektiven (Georgiana Roxana Lisaru)

Matteo Anastasio/Margot Brink/Lisa Dauth/Andrew Erickson/Isabelle Leitloff/Jan Rhein (Hg.): Transnationale Literaturen und Literaturtransfer im 20. und21.Jahrhundert. Plurilinguale und interdisziplinäre Perspektiven

Bielefeld: transcript 2023 – ISBN 978-3-8376-6471-3 – 39,00 €

https://doi.org/10.14361/zig-2024-150120

Der international ausgerichtete Band, der infolge eines interdisziplinären literatur- und kulturwissenschaftlichen Kolloquiums an der Europa-Universität Flensburg 2021 und 2023 entstanden ist, vermittelt konzeptuelle Überlegungen zu einer transnational und transkulturell-bzw. interkulturell orientierten Literaturwissenschaft, die sich programmatisch mit den Prozessen des kulturellen Transfers beschäftigt. Als Richtschnur der mehrsprachigen (Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch) Beiträge, die als Untersuchungsgegenstand die Literaturen und Diskurse über die Literatur im 20. und 21. Jahrhundert haben, kann die Annahme dienen, dass transnationale und transkulturelle Perspektiven nicht nur eine neue Lektüre von kanonisierten Texten, sondern auch die Beschäftigung mit den Kultur- und Literaturtransferprozessen fördern. Für die Diskussionsbeiträge ist die Leitfrage bestimmend, in welcher Weise Konzepte wie »Literaturen der Welt«, »diachrone Interkulturalität« oder »créolisation« (16) und postkoloniale Ansätze einen fruchtbaren Zugang zur Untersuchung von Phänomenen des (Literatur-/Kultur)Transfers eröffnen.

Konzeptuelle Überlegungen zu einer transnationalen Literaturwissenschaft finden in den Diskussionsbeiträgen des ersten Kapitels Niederschlag. So eruiert Elisabeth Arend in ihrem Artikel, dass das Konzept ›Transnationalität‹ der Thematisierung von Grenzen und Grenzüberschreitungen dient. Entsprechend hat eine transnational fokussierte Literaturwissenschaft die Aufgaben, die Grenzüberschreitungen innerhalb gegebener einzelner Texte zu untersuchen und die damit verbundenen hegemonialen und homogenen Diskurse kritisch zu hinterfragen. Am Beispiel der französischen Schriftstellerin Marguerite Duras reflektiert sie, wie deren Texte aus einer transnationalen Perspektive neu ausgelegt werden. Charakteristisch für Duras’ Werke ist ein Erzählverfahren, das »die Spannung zwischen Verdrängen und Offenbaren« (45) fokussiert, die zugleich aus der Begegnung der Autorin mit der kolonialen Welt im damaligen Französisch-Indochina resultiert. Abschließend stellt sie das Potenzial in Aussicht, wenn sich die akademische Forschung und Lehre auf den Transfer ausrichtet.

In Abgrenzung von raumbezogenen und nationalphilologischen Ansätzen plädiert Ette Omar für die Konzeptualisierung der Literaturen der Welt als »Literaturen ohne festen Sitz« (55). Vor diesem Horizont relativiert er den Europamythos, der Anlass zu einer vereinheitlichten Konzeption der ›Weltliteratur‹ gegeben hat. An die Stelle einer dominanten europäischen Raumgeschichte tritt eine Bewegungsgeschichte, die Phänomene von Migration und territorial-ökonomischer Expansion fokussiert. Durch das Konzept des ›ZwischenWeltenSchreiben‹ richtet er das Hauptaugenmerk auf eine auf ›Wege‹ und ›Bewegungen‹ ausgerichtete Literatur, die sich durch translinguale und transnationale Schreibverfahren auszeichnet. Dabei zeigt sich, dass sich polylogische Denkformen aus der Poetik der Bewegung heraus entwickeln, welche die Asymmetrie zwischen einem hegemonialen europäischen Zentrum und »den peripheren Literaturnationen« (60) in Frage stellen.

In ihrem Beitrag eruiert Eva Wiegmann die Relevanz einer diachronen Perspektivierung der literaturwissenschaftlichen Interkulturalitäts- und Kulturtransferforschung, die sich keineswegs auf Globalisierungsphänomene der Gegenwart beschränken sollte. Dabei bezieht sie die Übersetzung als Analysekategorie einer literaturwissenschaftlich basierten Kulturtransferforschung ein. Der durch Übersetzung eröffnete Zwischenraum gibt Anlass nicht nur zu kulturellen Verhandlungen, sondern auch zur Herausbildung neuer ästhetischer Darstellungsformen. Daher kann der Anschluss an das diachrone Interkulturalitätsparadigma die Augen für Transfer- und Transformationsprozesse zwischen Sprachen und Kulturen öffnen, die adäquat unter der Verschmelzung von kultur- und literaturwissenschaftlichen Forschungsansätzen untersucht werden können.

Mit den Aspekten des Kultur- und Theorietransfers, die das zweite Kapitel unter dem Titel »Travelling Concepts: Buchmarkt, Bildung und politischer Diskurs« behandelt, befasst sich Martina Kopf in ihrem Artikel. Dabei nimmt sie den Übertritt des Begriffs Kreolisierung in den politischen Diskurs im Kontext des französischen Präsidentenwahlkampfs in den Blick. Zunächst erklärt sie das Konzept der Kreolisierung nach Glissant, auf dessen Grundlage dieser Fragen zu Nation, Migration und Integration nicht nur im postkolonialen karibischen, sondern auch im europäischen Kontext aufwirft. In der gezielten Betonung eines nationalen französischen Zusammenhalts zeigt sich die instrumentalisierte Verwendung des Begriffs durch Jean-Luc Mélenchon, der sich damit gegen die rechtspopulistische Politik von Éric Zemmour positioniert.

Aus einer literaturtheoretischen Perspektive widmet sich Matteo Anastasio dem Spannungsfeld von unterschiedlichen Literaturfeldern und deren nationalen und globalen Repräsentationen im Kontext der internationalen Buchmessen. Dabei unterstreicht er, dass die Verweise auf ›Kulturen‹ und ›Nationen‹ als Referenzrahmen für die Definition und Vermittlung von Literaturen im globalen Raum dienen können. Einerseits fördern die internationalen Buchmessen die Vielfalt und die Bibliodiversität in der Buchbranche, andererseits leisten sie selbst einen Beitrag zur Gestaltung des komplexen Netzwerks einer globalen ›Weltliteratur‹. Dennoch wird das Interesse durch die Ehrengast- und Gastländerauftritte auf die Querbewegungen durch literarische Felder gerichtet, welche die durch die Buchmessen vorangetriebenen Repräsentationsmodelle wie ›National-‹ und ›Weltliteraturen‹ in Frage stellen.

Des Weiteren stellen Jörn Bockmann, Margot Brink, Isabelle Leitloff und Iulia-Karin Patrut in ihrem Beitrag das Verbundprojekt »Internationalisierung der Lehrkräftebildung@home. Interkulturelle Literatur als Modul« vor, im dessen Rahmen transnationale Seminare in Hybridformaten zwischen Universitäten in Deutschland, Frankreich, Russland und Brasilien durchgeführt wurden. Das Projekt zielt einerseits auf die Internationalisierung der Lehre ab, andererseits werden die transnationalen Unterrichtsformate für die Untersuchung des interkulturellen Potenzials von literarischen Texten genutzt. Angesichts dessen lenkt eine interkulturelle Analyse den Schwerpunkt auf die diskursiven Grenzziehungen und die damit einhergehenden Machtfragen.

Das letzte Kapitel versammelt Einzelstudien, in denen Formen der »[t]ransnationale[n] und -kulturelle[n] Querungen« ausgearbeitet werden. Mit den afrodiasporischen Literaturen beschäftigt sich Andrew Erickson am Beispiel der Speculative-fiction-Romane Parable of the Sower (1993) und Parable of the Talents (1998) von Octavia E. Butler. Ausgehend von W.E. Du Bois’ Begriff des doppelten Bewusstseins und Paul Gilroys Begriff black Atlantic untersucht er die Formen des Wissenstransfers aus den afrikanischen Kulturen in den postapokalyptischen Erzählungen. Dabei zeigt sich, dass die in den Erzählungen thematisierten Praktiken aus westafrikanischen Kontexten, etwa der Samenaufbewahrung, der Landnutzung sowie des Gedenkens, die Aufmerksamkeit auf die traumatischen Erfahrungen des atlantischen Sklavenhandels und der Deportation richten.

Wie apokalyptische Bilder in den Texten ivorischer, burkinischer und kongolesischer Autoren einen Zugang zur kolonialen Vergangenheit eröffnen können, zeigt Eric Damiba in seinem Aufsatz auf. Bei der Untersuchung der Bilder der Apokalypse, die er nicht im biblischen Sinne, sondern als endogene Konzepte beschreibt, nimmt er neben den realistischen Erzählweisen auch verschiedene literarische Modalitäten, etwa den Traum und die Prophezeiung, in Augenschein. Dabei beleuchtet er, dass Vorstellungen vom Ende nicht nur auf Krisen, sondern auch auf Zukunftsaussichten verweisen.

Volker Jaeckel behandelt das Thema des Nationalismus und des Holocaust in der brasilianischen Literatur. Dabei verweist er darauf, dass die literarische Verortung des Nationalismus in Brasilien nicht überraschen sollte, zumal Lateinamerika als Zufluchtsort für die geflohenen Nazis galt und es da Regimes gab, »die dem Nationalismus wohlgesonnen und bereit waren« (167). Im Anschluss daran zeigt er exemplarisch auf, wie die dystopischen, zeitgenössischen und lokalen Szenarien in den Romanen A Segunda Patria von Miguel Sanches Neto (2015) und O Cisne e o Aviador von Heliete Vaitsmann (2014) bei der Neuverarbeitung der deutschen Erinnerung an den Nationalsozialismus zum Tragen kommen.

Die Erkenntnispotenziale einer transnationalen Analyse unterstreicht Isabelle Leitloff in ihrem Beitrag über Stefan Zweig. Dabei geht sie den Fragen nach, inwiefern die transatlantische Überquerung nicht nur die Wahrnehmung Zweigs von Europa und Brasilien, sondern auch sein Werk beeinflusst hat. Dass das im brasilianischen Exil verfasste Werk Brasilien. Ein Land der Zukunft keine transnationale Schrift zu sein scheint, eruiert Isabelle Leitloff am Beispiel der »kolonialistisch[n] Brasilienbilder und emphatische[n] Europadarstellungen« (188). An die zeitgenössische Rezeption anknüpfend zeigt sich eine Verschärfung des kritischen Blicks auf das von Zweig als Terra incognita bezeichnete Brasilien. In diesem Zusammenhang argumentiert Leitloff, dass die vorherigen Analysen, die Zweig als mehrsprachigen Kosmopoliten bezeichnen, durch die Berücksichtigung der transnationalen Rezeption seines Werks ergänzt werden.

In ihrem Beitrag über Celans Werk beleuchtet Lisa Dauth, wie der Dichter die Grenzerfahrungen reflektiert. Dabei nimmt sie die Gedichte Hendaye, Pau, nachts und Pau aus dem Band Fadensonnen (1986) in Augenschein, deren historische Besonderheit darin liegt, dass sie während einer Reise Celans in einer französisch-spanischen Grenzregion entstanden sind. Durch die historische Kontextualisierung der Aussagen der einzelnen Gedichte und die Analyse der ästhetischen Verfahren zeigt Lisa Dauth, wie Celan den Blick auf die Verfolgten der europäischen Geschichte freilegt. In den Gedichten werden zudem die Grenzen, da sie den historischen Transfer von Menschen, Wissen und Kulturen sowie die »Ähnlichkeiten und Zusammenhänge innerhalb von Europa « (208) thematisieren.

Aus einer postkolonialen Perspektive arbeitet Michelle Witen aus, wie Bram Stokers Dracula als »a political intervention into the Eastern and Irish Questions« (214) funktionalisiert wird. Vor dem Hintergrund der Verbindung des Romans mit den viktorianischen Zeitschriften und Magazinen, die sich mit beiden ›Fragen‹ auseinandersetzen, werden die transnationalen Prozesse aufgezeigt. Aus ihrer Untersuchung der Bilder und Artikel aus Zeitschriften zur Zeit der Veröffentlichung des Romans geht die Verzahnung der irischen Übernatürlichkeit mit dem Eastern othering deutlich hervor, die sich zugleich im Roman widerspiegelt. Die Inszenierung des Übernatürlichen wird somit in Dracula als Strategie der Dämonisierung sowohl des Eastern als auch des Irisch othering verwendet. Auf diese subtile Art und Weise wirft Stoker einen kritischen Blick auf das britische Empire.

Durch die Fokussierung auf die Konzepte der Bewegung und des (Kultur)Transfers stellt der Band der Literaturwissenschaft neue Aufgaben in Aussicht, die sich transnational – und je nach Definition auch transkulturell und/oder interkulturell – orientiert. Insofern bietet der Transfer als ein interdisziplinäres Konzept einerseits einen produktiven Zugang zur Untersuchung von Phänomenen der Überquerung von Sprach- und Grenzkulturen sowie der Übersetzung, andererseits besitzt er ein machtreflexives Potenzial.

Georgiana Roxana Lisaru

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