Coolness. Selfie-Posen
Coolness ist keineswegs ein emotionsloses Verhalten. Es handelt sich vielmehr um einen voraussetzungsvollen emotionalen Stil der Affektlosigkeit, durch den mit sozialer Abwertung konfrontierte Heranwachsende emotionale Distanz und eine demonstrative Gelassenheit demonstrieren.1 Selbstinszenierungen als cool, mit denen Status und Prestige innerhalb der Schülerschaft reklamiert wird, können als affektive Selbstbehauptungsstrategie angesichts der emotionalen Zumutungen von Stigmatisierung und sozialer Ausgrenzung verstanden werden. Coolness-Anforderungen sind in der westlich-kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft und darüber hinaus in bestimmten sozialen Milieus, vor allem unter Jugendlichen und gesellschaftlichen Randgruppen, besonders verbreitet. „Cool“ galt unter Neuköllner Jugendlichen als eine allgemeine Chiffre für das Begrüßens- und Anstrebenswerte, was den Begriff zum semantischen Gegenteil von „langweilig“ machte.2 Ich folge diesem weiten Verständnis des Coolen, das sich auf unterschiedliche Dinge und Verhaltensweisen beziehen lässt, indem ich Figuren des Wünschenswerten in fotografischen Selbstportraits rekonstruiere.
Versteht man Coolness als eine „hybride Subjektkultur“3, zeigt sich, dass darin unterschiedliche kulturelle Codes und Traditionen zusammenkommen – vor allem eine affirmative Bindung zur markenorientierten postmodernen Konsumkultur sowie eine vom Umgang mit Exklusionserfahrungen geprägte afro-amerikanische Affektkultur. Beide kulturellen Versatzstücke der Coolness bildeten sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts maßgeblich in den USA heraus und wurden vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge kultureller Transferprozesse in (West-)Deutschland adaptiert, wo sie in den letzten Jahrzehnten allmählich in den kulturellen Mainstream diffundierten.4 Die spannungsreiche Verbindung von Hedonismus und Widerständigkeit lieferte vielfältig kombinierbare Verhaltensmodelle, die von den proletarischen „Halbstarken“ der 1950er Jahre bis zu den migrantischen Berliner Hauptschülern der Gegenwart unter sich verändernden gesellschaftlichen Konfliktlagen aufgegriffen wurden.5 Coolness sollte nicht als eine feste Charaktereigenschaft missverstanden werden, sondern als eine alters- und schichtspezifisch beeinflusste Form der Selbstinszenierung, die zudem geschlechtlich unterschiedlich artikuliert wird.
Die Untersuchung von Selfie-Posen von Hauptschülern ermöglicht, die ästhetischen Muster und die kulturellen Zuschreibungen von erstrebenswertem Verhalten sowie die sozialen Aushandlungen um gelingende oder scheiternde Coolness nachzuvollziehen. Selfies sind ein Paradebeispiel für gegenwärtige Prozesse soziokulturellen Wandels und jugendkultureller Vergemeinschaftung.6 Sie stehen für die miteinander verschränkten Prozesse der Digitalisierung, Facialisierung, Visualisierung und Mediatisierung, die zu neuen gesichtsbezogenen Bildpraktiken sowie zu veränderten Umgangsformen mit Bildern führen.7 Jugendliche erweitern im Zuge dieser Entwicklungen die Spielräume ihrer Selbstdarstellung. Dies war für die Hauptschüler in meinem Untersuchungsfeld von besonderer Relevanz, da es ihnen ermöglichte, den über sie kursierenden negativen Stereotypen positivere Selbstbilder gegenüberzustellen. Bei meiner Analyse verwende ich einen Begriff des Selfies, der nicht nur von den Abgebildeten selbstgemachte und digital verbreitete Selbstdarstellungen meint, sondern verschiedene Formen des fotografischen Selbstportraits umfasst, die auf den Facebook-Seiten der Schüler veröffentlicht wurden. Die ersten sozialen Netzwerke entstanden um die Jahrtausendwende, seitdem hat sich dieses mediale Format innerhalb einer Dekade rasant verbreitet.8 Facebook wurde im Jahr 2004 zunächst als interne Plattform für Studenten der Universität Harvard gegründet und stieg wenig später zum Monopolisten im Bereich sozialer Netzwerke auf. Während die Plattform zur Zeit meiner vorigen Forschungen in den Jahren 2008 und 2009 unter Berliner Hauptschülern noch kaum verbreitet war, diente sie ihnen knapp fünf Jahre später bereits als alltägliches Darstellungs- und Kommunikationsmittel. Im Schuljahr 2012/13 war ich mit etwa der Hälfte der Schüler digital verbunden, vor allem über eine damalige Facebook-Gruppe. Dies war zugleich auch die Zeit, in der sich Smartphones unter den Galilei-Schülern durchsetzten und sich mit ihnen digitale fotografische Selbstportraits als kulturelle Praxis etablierten. Da die populärkulturelle und technische Entwicklung seitdem rasant vorangeschritten ist, sind die hier behandelten Selfies mittlerweile zu historischen Zeugnissen jugendkultureller Aneignungen einer neuen Bildkultur geworden.
Selfies wirken im doppelten Sinne des Repräsentationsbegriffs als Selbst-Darstellung und Selbst-Konstruktion und sind somit vielversprechende Materialien für Studien zu Subjektivierungsprozessen. Mit meinem medienanthropologischen Ansatz hebe ich Prozesse soziokultureller Differenzierung von Selfie-Posen hervor und bette diese in einen spezifischen Schulkontext ein. Bei aller Diversität möglicher Selbstentwürfe entwickelt sich die Selfie-Ästhetik nicht völlig beliebig, sondern es bilden sich mediale Darstellungskonventionen und tradierte Selfie-Subgenres heraus. Während die Ethnologie die kulturellen Unterschiede in der Medienaneignung hervorgehoben hat9, verdeutliche ich am Beispiel vergeschlechtlichter Genres des fotografischen Hauptschüler-Selbstportraits wie sich hierzulande soziale Positionierungen im Mediengebrauch manifestieren. Kulturelle und soziale Grenzziehungen werden also durch den Umgang mit digitalen Medien nicht einfach obsolet, vielmehr lassen sich neue Formen der Selbstvergewisserung nach innen und der Abgrenzung nach außen beobachten.10 Selfies sind Wunschbilder, die veranschaulichen, wie die Jugendlichen von anderen gesehen werden möchten, keine authentischen Repräsentationen der Wirklichkeit. Der durch mediale Performances erhobene Anspruch auf Authentizität wird wiederum von Bildbetrachtern anhand variierender Maßstäbe kommentiert und bewertet.11 Ich liefere keine repräsentative Studie medialer Repräsentationsweisen einer Statusgruppe, sondern kombiniere die Analyse ausgewählter Darstellungsweisen mit Interviews und teilnehmenden Beobachtungen im Schulalltag. Dies ermöglicht mir, Muster medialer Selbstdarstellung mit den dominanten Stilpolitiken und Geschlechterpraktiken unter Berliner Hauptschülern zu verknüpfen. Dabei ergibt sich ein Darstellungsproblem, denn zum einen anonymisiere ich in dieser Studie, zum anderen erscheint mir ein Kapitel über Selfies ohne Abbildungen unbefriedigend. Ich habe mich für einen Kompromiss entschieden und einige mir typisch erscheinende Selfies mittels zweier Collagen zusammengefügt, ohne dass ich in den folgenden Beschreibungen von Bildpraktiken auf die individuellen Urheber einzelner Bilder zurückkommen werde.
In Bezug auf die Kategorien von Klasse, Geschlecht und Ethnizität neigen Hauptschüler-Selfies tendenziell eher zur Bestätigung traditioneller Rollenbilder. Die Selbstbilder führen die Suche nach sozialem Prestige mittels einer ausgeprägten Konsumorientierung vor, sie betonen binäre Geschlechterdifferenzen sowie konservative Geschlechternormen und zeugen von Prozessen der kulturellen Selbstverortung mittels ethnisch-religiöser Abgrenzungen. Die Selfies von Hauptschülern orientieren sich stilistisch primär an vergeschlechtlichten Idealtypen. An ihnen lassen sich die Wege nachzeichnen, auf denen patriarchale und heteronormative Machtverhältnisse im Schüleralltag reproduziert werden. Anders als im Gymnasium wird in der Hauptschule Geschlecht nicht durch einen institutionellen Habitus überlagert und damit entdramatisiert.12 Es zeichnen sich schichtspezifisch geprägte, ethnisch markierte und geschlechtlich kodierte Wunschvorstellungen ab, alltagskulturelle Varianten des Coolen, die ich unter den Schlagworten des „Machos“ und des „Top-Girls“ zusammenfasse. Diese Subjektmodelle lassen sich als quintessentielle neoliberale Figuren verstehen, in denen die gesellschaftlich dominante Marktorientierung nicht einfach nur auf digitale Formen der Selbstvermarktung übertragen, sondern sie zugleich auf übersteigerte Weise zelebriert und dadurch popularisiert wird. Obwohl keineswegs alle Schüler den Wunsch-Idealen entsprachen, weder offline noch online, zeigten sich an diesen dominanten Formen der Selbstinszenierung dennoch übergreifende Muster des Begehrens- und Erstrebenswerten. „Macho“ kann als eine migrantisch und unterschichtig konnotierte Über-Kategorie von attraktiver Männlichkeit im Hauptschülermilieu gelten, die sich wiederum in verschiedene Wunsch-Dimensionen – wie reich, hart, stark, cool und sexuell attraktiv – auffächern lässt. Hier greife ich auf Moritz Eges Analyse des „Möchtegerns“ zurück und übertrage diese mit Hilfe von Angela McRobbie auch auf weibliche „Wannabes“.13 Entscheidend an diesem riskant am Klischeehaften entlang balancierenden Vorgehen ist es, nicht in den Abgrund eines abwertenden Verständnisses des „Möchtegerns“ zu kippen, sondern die imaginäre und ästhetische Dimension von als erstrebenswert geltenden kulturellen Figuren herauszuarbeiten. Versteht man Selfies als zeitgenössischen Ausdruck einer Suche nach Authentizitätserfahrungen und nicht als Abbildungen einer vorgängigen authentischen Realität, gilt es genau diese Suche ernst nehmen und sie mitsamt ihren Verlockungen und Irrwegen, ihren Reizen und Widersprüchlichkeiten zu verfolgen.
„TOP-GIRLS“. INSZENIERUNGEN ATTRAKTIVER MODERNER WEIBLICHKEIT
Abbildung 5: Selfie-Collage Galilei-Schülerinnen
Quelle: Facebook
Viele junge Hauptschülerinnen sahen sich mit einem Anforderungskatalog konfrontiert, dessen Angebote attraktiv und zugleich kaum erschwinglich erschienen: Sie wuchsen unter prekären Bedingungen auf und wollten dennoch eine positive Ausstrahlung haben, sie kamen aus Familien, die von knapp kalkulierten staatlichen Transferleistungen lebten und mochten sich dennoch den Verführungen der Konsumwelt hingeben, sie wollten in der Mehrheitsgesellschaft anerkannt werden und sich gleichzeitig zur muslimischen Religion und Einwandererkultur ihrer Eltern bekennen. Kurz: Sie wollten „Top-Girls“ sein, doch aufgrund ihrer sozialen Lage standen ihnen die Ressourcen dafür nur eingeschränkt zur Verfügung. Die britische Feministin Angela McRobbie benutzt die griffige Bezeichnung „Top-Girls“, um ein sich herausbildendes neoliberales geschlechtliches Idealbild zu erfassen, das von jungen Frauen verlangt, gleichzeitig beruflich erfolgreich, konsumorientiert und dabei stets gut gelaunt und sexuell attraktiv zu sein.14 Am Idealbild erfolgreicher weißer Mittelschichtsfrauen sowie am fashion-beauty-complex ausgerichtet, orientierten sich auch weibliche Hauptschülerinnen vorwiegend migrantischer Herkunft an diesem Subjektivierungsmodell und bezogen dessen Anforderungen auf ihre Lebensumstände. Einige Seiten dieses Anforderungskatalogs möchte ich hier aufschlagen und etwas genauer betrachten.
Süß
In Selbstinszenierungen als süße Mädchen verbinden sich tradierte weibliche Rollenklischees mit neueren Formaten der geschlechtsspezifischen medialen Selbstdarstellung. Aufführungen des Femininen als kindlich-unbedarft, mädchenhaft-unschuldig oder frauenhaft-anbiedernd provozieren zunächst eine feministische Kritik, die in der weiblichen Selbstidentifikation mit dem Weichen, dem Kleinen und dem Ungefährlichen eine machtvolle Variante der Selbstunterwerfung sieht.15 Dieser Kritik zustimmend aber nicht bei ihr stehenbleibend, skizziere ich die visuellen Muster von süßer Weiblichkeit und frage nach ihren Identifikationspotentialen und Sozialisationsfunktionen für junge Hauptschülerinnen.
Neben rundlichen Formen, plüschigen Stoffen und blumenartigen Mustern gehört das Lächeln zu den zentralen visuellen Markern „süßer“ Weiblichkeit. Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang ein harmloses und gefälliges Lächeln, das auf die Aggressivität des Auslachens und das Groteske des Grinsens verzichtet. Ergänzend zu solchen lieblich lächelnden Gesichtern befanden sich auf den Online-Profilen der Schülerinnen immer wieder als niedlich geltenden Bildmotive, häufig aus dem Bereich der Tierwelt, wie plüschige Stofftiere oder knuffige Kätzchen. Hinzu kamen Selbstassoziierungen mit dem Kindlichen oder Babyhaften, durch die hierarchische Geschlechterverhältnisse von Hilflosigkeit und Abhängigkeit auf der weiblichen sowie Kontrolle und Dominanz auf der männlichen Seite auf kulturell vermittelte Weise gefördert werden. Als prägnanteste Variante des süßen Gesichtsausdrucks galt das seinerzeit in sozialen Netzwerken kursierende duckface, ein fast ausschließlich bei jungen Frauen verbreitetes entenartiges Schnutengesicht, bei dem die Lippen zu einer Art Kussmund geformt werden. Die Konnotierung dieser mimischen Geste reicht vom Babyhaften eines Schmollmunds bis zum Erotischen einer ausgestellten Kussbereitschaft – weshalb diese mimische Form im anglo-amerikanischen Raum zunächst auch „kissey-face“ genannt wurde. Das Süße gilt aufgrund seiner Nähe zum Kitsch und zum Konsum als wenig prestigeträchtige ästhetische Kategorie, doch lassen sich – beispielsweise anhand der von einem asiatischen Modell süßer Weiblichkeit geprägten kindlichen Hello-Kitty-Motive – komplexe kulturelle Übersetzungsprozesse im Rahmen der postmodernen Konsumkultur aufzeigen.16 Im Selfie-Bereich war beispielsweise die japanische „Pikura-Fotografie“, die digitale Bearbeitung von Fotoautomaten-Bildern nach den Maßstäben einer unschuldig-kindlichen Feminität, besonders einflussreich für die Verbreitung von Vorstellungen süßer Weiblichkeit.17
Die Wunsch- und Identifikationsdimension des Süßen bestand für Hauptschülerinnen im Reiz der Leichtigkeit sowie im Verbergen von sozialen Härten. Das Süße schmeichelt dem Betrachter und lädt ein positives Feedback ein, vor allem mittels „Like“-Buttons, Smileys, Herz-Symbolen und emphatischen Kommentaren – so wurde beispielsweise ein Babyfoto mit „Wieeee süüß wallah mashallah“ kommentiert. Diese Mobilisierung des Positiven sollte im Kontext von ansonsten überwältigend negativen Mediendarstellungen von Hauptschülern und Migranten gesehen werden.18 Verborgen wurden dabei vor allem die Härten des Alltags im Kontext von Exklusion und Migration, mit denen die Schülerinnen in besonderem Maße konfrontiert waren: Erfahrungen von Krieg, Flucht und Vertreibung im Familienkontext, strenge Kontrolle durch Eltern und männliche Geschwister bei vielen muslimischen Schülerinnen, Armut und verwehrte Zugänge zum Arbeitsmarkt. Der Rückzug in eine unbeschwert scheinende Sphäre des süßen Lächelns erhält angesichts dieser Zumutungen eine entlastende Komponente, die über generationsspezifische Formen geschlechtlicher Selbstvergewisserung hinausweist. An einigen Sweet-Girl-Posen der Hauptschülerinnen fiel mir jedoch auf, dass die spielerischen Gesten des Süßen mitunter nicht vollständig gelangen oder sich zumindest nicht nahtlos zu einem entsprechenden weiblichen Habitus zusammenfügten, beispielsweise wenn eine Basecap-tragende Schülerin mit einem überdimensionierten Plüsch-Teddybär in einem eher trist wirkenden Hinterhof vor einem unrenovierten grauen Wohnhaus posierte. Die Erfahrungen des Alltags schlichen sich als visuelle Irritationen auf eine untergründige Weise in solche Bilder ein und bewirkten, dass so manche Pose doch nicht so unbeschwert wirkte, wie es den Genre-Konventionen des Süße-Mädchen-Looks idealerweise entsprochen hätte.
Wenn die Schülerinnen als süße Mädchen posierten, dann besonders gerne mit ihren Freundinnen. Derartige fotografische Selbstinszenierungen dienen der Herstellung und Repräsentation von Freundschaftsbeziehungen – gemeinsames Posieren ist eine typische alltägliche Freundschaftspraktik und das Posten der Fotos auf sozialen Netzwerken ein wirkungsvolles Darstellungsmittel von sozialen Beziehungen. Pierre Bourdieu und Luc Boltanski haben in ihrer mittlerweile klassischen Studie über „die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie“ noch die familiäre Integrationsfunktion von Amateurfotografie im Frankreich der frühen 1960er Jahre hervorgehoben.19 Studien zur gegenwärtigen sozialen Funktion von digitaler Alltagsfotografie betonen dagegen stärker die kommunikativen Funktionen unter Freunden und Gleichaltrigen.20 Vor allem bei migrantischen Hauptschülerinnen ließ sich auf Facebook sowohl eine Familien- als auch eine Peer-Orientierung beobachten. Festliche und alltägliche familiäre Ereignisse, wie das spielerische Posieren mit dem als süß inszenierten kindlichen Familiennachwuchs, spielten dabei eine ähnlich wichtige Rolle wie das mittels Cute-Girl-Posen zelebrierte Zusammensein unter Freundinnen.
Süße-Mädchen-Posen lassen sich, wie die noch kommenden Typen fotografischer Selbstentwürfe, als „controlling images“ verstehen.21 Mit Blick auf derogative Darstellungsweisen von Afro-Amerikanerinnen in den USA versteht Patricia Hill Collins „kontrollierende Bilder“ als ein vor allem über Medien und Schule reproduziertes limitierendes Set an medial kursierenden Geschlechterrollenklischees, in das die ideologischen Programme von Rassismus, Sexismus und Klassismus bereits eingeschrieben sind. Die Facebook-Selfies zeugten nicht vom Aufbegehren gegen diese machtvolle Form der Unterdrückung, sie führten im Gegenteil vor Augen, wie sich die Schülerinnen lustvoll von solchen Weiblichkeitsentwürfen affizieren ließen, sie ausprobierten, variierten und mit ihnen spielten. Diese Form der kreativen Aneignung bedeutet folglich auch nicht, dass sie sich hilflos verhielten oder als schwach imaginierten. Ich begreife solche und andere geschlechtliche Selbstinszenierungen als mediale Posen und gehe, anders als Nadja Geer, nicht von einer kategorialen Differenz zwischen „Selfing“ und „Posing“ aus.22 Geer begreift Posieren als eine subversive Maskerade, als die spielerische Darstellung eines situativen, wandelbaren Selbst. „Selfing“ erscheint ihr dagegen als eine pure, distanzlose Form der Selbst-Identifikation mit einem fixen Selbst, bei der es zu einer Deckungsgleichheit von Selbst und Performanz komme. Gegenüber solchen Fehlschlüssen gilt es zu betonen, dass die Schüler und Schülerinnen nicht mit ihren Selfies identisch waren. Hierfür gibt es empirische und analytische Argumente: Zum einen entwarfen sich die Jugendlichen medial auf unterschiedliche, teilweise stark kalkulierte Weise, zum anderen besteht der kritische Impuls von Hill Collins Konzept gerade darin, zu betonen, dass „controlling images“ den positiveren Selbstvorstellungen und komplexeren Alltagserfahrungen vieler afro-amerikanischer Frauen nicht entsprechen. So werden die gleichen Schülerinnen, die hier zunächst als „süße Mädchen“ posieren, im Verlauf dieses Buch noch wütend gegen einen rassistischen Lehrer aufbegehren.
Sexy
Die Übergänge zwischen Inszenierungen als „süße Mädchen“ und als „sexy girls“ sind – wie auch bei den folgenden Typisierungen – fließend. In beiden Varianten wird eine binäre Geschlechterdifferenz betont. Die damit einhergehende starke Feminisierung erschien, ähnlich wie das männliche Pendant der Hypermaskulinität, für Hauptschülerinnen aus zwei Gründen attraktiv. Erstens war die Galilei-Schule ein besonders stark nach Geschlechtern differenzierter Ort, an dem männliche und weibliche Verhaltensweisen relativ strikt unterschieden wurden und geschlechtshomogene Freundeskreise dominierten. Geschlechterbetontes Auftreten wurde innerhalb der Schülerschaft in der Regel honoriert, während Überschreitungen der binären, heterosexuellen Geschlechternorm durch diskrete Ausgrenzung oder aggressives Mobbing sanktioniert wurden. Zweitens bot sich angesichts der sozialen Missachtung von Hauptschülern bei der Suche nach alternativen Ressourcen der Anerkennung immer wieder der eigene vergeschlechtlichte Körper als Vehikel der Selbstaufwertung an. Die Betonung des Körperkapitals trat damit an die Stelle von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital und Sexyness wurde somit zu einer Form der Generierung von sozialem Status.23
Zu den klassischen Elementen des „sexy looks“ gehören bei Selfies von jungen Frauen reduzierte Bekleidung, eine starke Körperbetonung, herausgestellte Brüste, rot geschminkte Lippen, lange blonde Haare sowie Bade- oder Schlafzimmermotive. Bestimmend ist hier erneut eine Alltagsästhetik, bei der auch flüchtige Momente wie das Schminken vor dem Spiegel oder das Liegen auf dem Bett als bildrelevant gelten. Dabei werden traditionelle Motive der erotischen Selbstinszenierung unter den Bedingungen digitaler Bildproduktion aufgegriffen und adaptiert. So hatten Selbstdarstellungen vor dem Spiegel bereits eine lange visuelle Tradition, bevor sich in den letzten Jahren ein eigenes Genre des Spiegel-Selfies herausbildete, zu dem sich wiederum das weibliche Badezimmerspiegel-Selfie als ein Subgenre zählen lässt.24 Das erotische Spektrum reichte bei Hauptschülerinnen von relativ offenen erotischen Selbstdarstellungen bis zu vorsichtig versteckten erotischen Anspielungen. Vor allem muslimische Mädchen präsentierten sich auf Facebook deutlich zurückhaltender, was mit den Ergebnissen einer vergleichenden ethnografischen Studie zum Mediengebrauch korrespondiert, der zufolge Facebook im Südosten der Türkei von einem konservativen islamischen Frauenbild gekennzeichnet sei, weshalb junge Frauen dort tendenziell andere Medienanbieter wie WhatsApp nutzen, um selbst romantische und sexuelle Kontakte zu arrangieren.25 Einige Galilei-Schülerinnen nutzten Facebook gar nicht oder nur heimlich, da ihnen der Zugang verboten worden war.
Die online aktiven jungen Frauen folgten mit der Preisgabe ihrer Bilder einer maßgeblich von Facebook verbreiteten Ideologie des Teilens, in dessen Folge die Veröffentlichung von Bildern aus vormals als privat und intim geltenden Lebensbereichen nicht nur akzeptierter, sondern zunehmend auch verlangt wird.26 Die Preisgabe personenbezogener Daten und Bilder wird vom Website-Anbieter gefördert, unter anderem indem entsprechende Nutzerpraktiken symbolisch belohnt werden.27 Der Facebook-News-Feed-Algorithmus, der bestimmt, welche Einträge auf der Startseite der jeweiligen Nutzer prominent platziert werden, ist so programmiert, dass ein partizipatorisches und selbstdarstellerisches Subjektmodell prämiert wird.28 Solche Algorithmen sind nicht neutrale Aggregate vorhergehender medialer Praktiken, sie werden gemäß der Firmenideologie des Teilens und dem ökonomischen Imperativ der Datengewinnung gezielt manipuliert. Durch ihre präformierenden und selektierenden Wirkungen auf mediale Inhalte beeinflussen sie wiederum die Sehgewohnheiten und Darstellungsroutinen der Nutzer, deren mediale und visuelle Sozialisation. In der damit verbundenen Gefühlsökonomie wird affektives Kapital durch das digitale Zirkulieren und soziale Teilen medialer Inhalte hervorgebracht, ohne dass die damit korrespondierenden Gefühlsregungen komplett steuer- oder vorhersehbar wären.29 Süße-Mädchen-Posen und Sexy-Girl-Inszenierungen aktualisieren somit auf populärkulturelle Weise den zeitgenössischen „Geist des Kapitalismus“.30
Bei stärker erotisch konnotierten Selfie-Posen dominierten Abbildungen als Einzelperson, da diese sich eher an potentielle männliche Betrachter richteten. Das der Sexy-Girl-Pose eingeschriebene Blickregime wird von einer komplementären Logik des Angeblickt-Werdens und des Sich-Anblickens bestimmt. Die grundlegenden Fallstricke dieses schaulustigen Blickverhältnisses hat Jean Paul Sartre bereits vor dem Aufstieg des Internets am Beispiel des Voyeurs eindrücklich geschildert.31 Der verborgene erotisierende Blick ruht demnach ohne Distanz auf dem zumeist weiblichen Körper und hält diesen zugleich als Sexual-Objekt auf Distanz. In der Vermeidung der Erwiderung des Blickes verbirgt sich das für beide Seiten Schamvolle der voyeuristischen Blickbeziehung. Doch gerade im Angesicht einer potenziell peinlichen Verdinglichung kann sich die derart Angeblickte als körperlich attraktiv und authentisch weiblich erfahren. Darin liegt wohl auch der verführerische Reiz des Betrachtens der eigenen erotischen Ich-Posen. Die Anziehungskraft des Selfies besteht in diesem Versprechen von Authentizität und Einzigartigkeit, doch geht diese Art des Selbsterkennens mit einer augenfälligen Verkürzung einher.32 Das erotisch konnotierte Selfie ist ein Paradebeispiel dafür, wie Körperbilder in einer visualisierten Konsumkultur zu Objekten transformiert werden. Gleichzeitig bleiben Differenzen zwischen mediatisiertem Körperbild, den auf das verdinglichte Selbstbild bezogenen Affekten und den alltäglichen Körpererfahrungen im Kontext von sozio-ökonomischer Marginalisierung erhalten.33 Solche Diskrepanzen fielen mir besonders bei einer Ostberliner Schülerin aus meiner ersten Hauptschülerforschung auf, die sich im Internet als „beauty-baby“ inszenierte und auf eine Modelkarriere hoffte, aber auch alltägliche sexuellen Belästigungen und die Assoziierung von jungen Frauen osteuropäischer Herkunft mit Prostitution beklagte.34
Erotisch konnotierte jugendliche Selbstdarstellungen in Online-Netzwerken orientierten sich in meinem Untersuchungsfeld an binär kodierten geschlechtlichen Idealvorstellungen von starker und dominanter Männlichkeit auf der einen Seite sowie verführerischer und hingebungsbereiter Weiblichkeit auf der anderen Seite.35 Diese hierarchische Geschlechterordnung fördert eine „visuelle Sexualisierung“ von Mädchen und jungen Frauen, bei der die Trennlinien zwischen Mädchenhaftem und Sexuellem tendenziell verschwimmen.36 Gleichzeitig wird das Zurschaustellen weiblicher Sexualität gesellschaftlich stärker moralisch bewertet als äquivalentes Verhalten von Männern. Die jungen Frauen unterschreiben mit ihren Bildpraktiken einen „neuen sexuellen Vertrag“, der Forderungen nach der Präsentation einer „befreiten“ heterosexuellen Weiblichkeit mit dem Verzicht auf grundlegende Kritik des hegemonialen Geschlechterarrangements verknüpft, wodurch sie letztlich zur Aufrechterhaltung einer patriarchalen Geschlechterordnung beitragen.37 Die von süßen Looks, erotischen Posen und konsumorientierten Handlungen bestimmten medialen Selbstinszenierung Berliner Hauptschülerinnen sollten jedoch weder in einer verkürzten feministischen Lesart auf eine passive Opfergeste reduziert noch in einer eindimensionalen männlichen Lesart als direkter Ausdruck einer Suche nach sexuellen Kontakten simplifiziert werden. Vielmehr lassen sich auf Facebook visuelle Aneignungen von hegemonialen Mustern idealisierter Weiblichkeit beobachten, denen zufolge erfolgreiche feminine Visualisierungsweisen mit Schönheit, positiver Ausstrahlung und Sexyness assoziiert werden. Die Schülerinnen fallen also keineswegs aus der sozialen Ordnung, sondern sie affirmieren diese und reklamieren vermittelt über mediale Inszenierungen Ansprüche auf legitime Teilhabe in der Gesellschaft.38
Konsumierend
Der fashion-beauty-complex steht nach Angela McRobbie im Zentrum des neoliberalen Top-Girl-Modells.39 Modekonsum und Schönheitshandeln nahmen folglich auch eine wichtige Rolle in den medialen Posen der Galilei-Schülerinnen ein, die sich damit gleichsam in das sich herausbildende Genre des Shopping-Selfies einschrieben. Die verschiedenen Varianten dieses Selfie-Genres lassen sich durch das lustvolle mediale Zelebrieren der verschiedenen Etappen von Shopping-Ausflügen veranschaulichen, beispielsweise anhand einer von zwei Schülerinnen dokumentierten Shopping-Tour zum Potsdamer Platz im Berliner Zentrum. Die weihnachtlich leuchtende Fassade der „Potsdamer Platz Arkaden“ mit ihren funkelnden Sternen und blinkenden Leuchtgirlanden wirkten hier wie eine Pforte zum Paradies, gigantische Eisbecher zeugten von süßen Verführungen, im Umkleidebereich von H&M fanden kleine Verkleidungs-Partys statt und am Ende fuhren die jungen Frauen zufrieden grinsend mit einem Bubble-Tea in der Hochetage der Berliner Stadtbusse zurück nach Neukölln und ließen das Panorama der nächtlich-glitzernden Metropole an sich vorbeiziehen. Demonstrativ gute Laune bestimmte typischerweise derartige visuelle Inszenierungen als konsumorientierte Shopping Girls. Zugang zu Mobiltelefonen mit entsprechender Kameratechnik waren Voraussetzung, um die flüchtigen Momente des Herumstreifens durch die Konsumwelt einfangen zu können. Während die Kamera manchmal eher als dokumentarisches Medium genutzt wurde, konnten Praktiken des Sich-Fotografierens im Rahmen von Verkleidungsspielen in der Umkleidekabine oder von Model-Posen vor dem Umkleidespiegel auch selbst zu einem wichtigen Teil der medialen Inszenierung werden.
Shopping-Center verhießen den Schülerinnen eine Tür zur Welt des Glamours zu öffnen. Glamour war im 19. Jahrhundert noch eine Adaption von Vorstellungen einer ausschweifenden aristokratischen Lebensweise durch das aufstrebende Bürgertum.40 Mittlerweile wurden Glamour-Fantasien durch eine enge Kopplung an die Welt des Konsums weitgehend demokratisiert. Populäre Frauen-Zeitschriften stehen mit Titeln wie „Glamour“ paradigmatisch für diesen Nexus zwischen attraktiver moderner Weiblichkeit und dem fashion-beauty-complex. Glamour verspricht eine Auszeit von den Problemen des Alltags und lockt mit einer bunt-glitzernde Gegenwelt der „Stars und Sternchen“. Für die Neuköllner Schülerinnen versprachen Konsum und Glamour eine Möglichkeit gesellschaftlicher Partizipation und gleichzeitig die Verwirklichung von kleinen Träumen und Genüssen. Der Glamoureffekt gelingt jedoch nur auf spielerische und unangestrengte Weise, deshalb die vielen lachenden Gesichter und die Betonung des sich Amüsierens. Neben der Verbindung mit Konsumobjekten und der Welt des Entertainments ergeben sich Verknüpfungen mit korrespondierenden medialen Varianten von weiblichen Selbstentwürfen wie Sexyness und Cuteness und der im kommenden Abschnitt diskutierten theatralen Freakyness.
Die ausgestellte Konsumorientierung lässt sich als ein zentrales Element zeitgenössischer jugendkultureller Subjektivierungsweise verstehen, als eine Verflechtung von doing class, doing gender und doing race. Shopping wurde als eine vergeschlechtlichte Praxis interpretiert und erlebt, zahlreiche Kommentare oder humoristische Verweise zeugten von der scheinbar natürlichen Konsumorientierung junger Frauen. So kursierten unter den Schülern und Schülerinnen eine Reihe humoristischer Memes, die Geschlechterstereotype vorführten und naturalisierten, etwa in dem sie abbildeten, wie junge Frauen stundenlang durch Shopping-Center herumirren, während junge Männer für ihre gezielten Einkäufe lediglich einige Minuten benötigen. Shopping ist zudem auf vielfältige Weise mit sozialer Klassifizierung verbunden. In der Hingabe an das Glamourversprechen des Konsums orientierten sich die Hauptschülerinnen implizit an den Konsumpraktiken einer kaufkräftigen Mittelschicht, ohne dass sie in der Regel selbst über entsprechende finanzielle Mittel verfügt hätten. Auf dieses Dilemma wurde gerade nicht mit Sparsamkeitsgesten oder mit einem „Geschmack der Notwendigkeit“41 geantwortet, sondern mit der Zurschaustellung von ausgiebigem, überbordendem und scheinbar hemmungslosem Konsum. Das Ideal des hedonistischen „Top-Girls“ war zugleich weiß markiert, an den Idealen einer „westlichen“ Konsumwelt und beruflich erfolgreichen Mittelschichts-Frauen ausgerichtet. Obwohl die auf den hier untersuchen Selfies abgebildeten junge Frauen in Migrantenfamilien aufwuchsen, fand in den shoppingorientierten Bildpraktiken gleichsam auf subtile und unterschwellige Art eine Anpassung an visuelle Idealvorstellungen einer amerikanisch geprägten Konsumkultur statt.
Die Kombination von weißer Mittelklassekultur und Konsumorientierung stieg in der Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA zum Ideal des sozial wünschens- und erstrebenswerten Lebensmodells auf, weshalb Peter Stearns die damit verbundene affektive Kultur auch als „American Cool“ bezeichnet.42 Diese amerikanische Variante der Coolness wurde nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge von Amerikanisierungsprozessen, gemeinsam mit einer widerständigeren afro-amerikanischen Variante der Coolness, nach Westdeutschland exportiert. Die sich globalisierende kapitalistische Konsumkultur avancierte auf diese Weise selbst zu einem einflussreichen Modell des Coolen, zumal es ihr gelang auch kulturelle Gegenbewegungen wie die Counter Cultures der 1960er und 70er Jahre in eine Form des „Hip Consumerism“43 zu überführen. Seit den 1980er Jahren rückte im Zuge neoliberaler Transformationen eine demonstrative Konsumorientierung immer stärker ins Zentrum des Sozialen, Shoppen wurde in Folge dieser Entwicklung zum Ziel und zum herausgehobenen Ausdrucksmittel eines gelingenden Lebens, während sich jedoch gleichzeitig die materiellen Partizipationsmöglichkeiten zunehmend ungleich verteilten.44 Während Hauptschüler und Hauptschülerinnen in der Schule eine provokante Widerständigkeit zelebrierten, so verhielten sie sich gegenüber den Glamour- und Coolness-Versprechungen der Konsumkultur auffallend unkritisch und sozial angepasst.
Die damit verbundene Frage nach dem Politischen von Shopping-Girl-Inszenierungen ist schwierig zu beantworten. Zwar werden Konsumgenüsse auch als Kompensationsgesten zu sozialer und schulischer Abwertung eingesetzt, doch sollten sie nicht darauf reduziert werden, zumal gleichaltrige Realschülerinnen und Gymnasiastinnen häufig ähnliche Neigungen zeigen. Selbst innerhalb eines Forschungsstrangs wie den Cultural Studies existieren unterschiedliche Einschätzungen: Während John Fiske in den Mikropraktiken von Shopping-Ausflügen in euphorischer Weise widerspenstige Momente ausmacht, deutet Angela McRobbie mittlerweile die gängige Konsumorientierung junger Frauen recht pauschal abwertend als willige Anpassung an das herrschende kapitalistisch-patriarchale Herrschaftsregime.45 Beide Positionen erscheinen für sich genommen zu einseitig, doch zusammen gelesen verweisen sie auf das Janus-Gesicht des Shopping-Selfies, auf die in ihm wirksame Dialektik von Selbstermächtigung und Selbstunterwerfung. Spielerischen Shopping-Performances sind eine zwiespältige Form des Empowerments, eine leidenschaftliche Affirmation der kapitalistischen Konsumkultur vonseiten derjenigen, denen die finanzielle Ressourcen zum ausschweifenden Konsum eigentlich fehlen, doch deren Konsumstreben dadurch umso mehr angeregt wird. Die Hauptschülerinnen strebten mit ihren Selfies zur „weißen“ hegemonialen Kultur, von deren Seite sie auf zynischer Weise als Statusgruppe missachtet und gleichsam als billige Kunden umworben wurden.
Freaky
Ähnlich wie bei den von Siane Ngai unter der Bezeichnung „zany“ zusammengefassten ästhetischen Formen des Verrückten, Überdrehten, Clownesken oder Ulkigen handelt es sich auch beim Begriff des Freakigen um eine Mischung aus Urteil und Stil, um einen relativ offenen alltäglichen Bewertungsmaßstab und gleichzeitig um ein lose formalisiertes alltagsästhetisches Muster.46 Anders als bei reduktionistischen, zurückhaltenden und distanzierten Varianten von Coolness setzt der Freak auf gewagte Performances der Expressivität, die sich auf ein prekäres Spiel mit Übertreibungen und Distanzverlust einlassen. Eine Besonderheit des Freakigen besteht darin, dass es sich zunächst um eine minoritäre ästhetische Kategorie handelte, die sich in Folge von Prozessen der ästhetischen Normalisierung mittlerweile ins kulturelle Zentrum der Gegenwartsgesellschaft verschoben hat. Waren solche marginalen ästhetischen Formate des Zweckfreien zunächst an den Rändern der Gesellschaft, im Bereich des kindlichen Spiels oder der künstlerischen Avantgarden angesiedelt, stehen sie inzwischen im Mittelpunkt des „Kreativitätsdispositivs“, einem gesellschaftsanalytischen Begriff, mit dem der Kultursoziologe Andreas Reckwitz auf die gegenwärtige Prämierung des Außergewöhnlichen, speziell des visuell Auffälligen, in verschiedenen Gesellschaftsbereichen hinweist.47 Freakige Selfies sind demnach keine Marginalie, sie stehen paradigmatisch für die Kreativanforderungen gegenwärtiger Subjektivierungsregime und für Ästhetisierungsprozesse, bei denen sich Subjekte zunehmend selbst in bildhafter Form vor einem Publikum inszenieren.
Diese Subjektivierungsprozesse verlaufen nicht geschlechtsneutral, sie verbinden sich mit einem machtvollen Sichtbarkeitsregime, in dem Frauen zum Objekt der männlichen Schaulust gemacht werden.48 Die Macht des öffentlich-männlichen Blickregimes führte Frauen in der modernen Geschichte optischer Medien immer wieder zu Ausweichmanövern in Form der freakigen Maskerade. Betrachtet man die geschlechtliche Dimension dieses Subjektivierungsprozesses zeigt sich, dass die vielfältigen Traditionslinien weiblicher Selbst-Inszenierungen vor der Kamera bereits seit längerem von einem langen bunten Strang des fantasievollen Spiels mit Darstellungskonventionen und Rollenmustern durchzogen wird.49 Im Zuge der Tradierung solcher Spiele mit Masken und Verkleidungen eigneten sich Frauen ein vielfältiges Repertoire an vestimentären, gestischen und mimischen Praktiken der Selbstinszenierung an. Auch aus diesem Grund wirkten Selfies weiblicher Hauptschülerinnen verspielter, fantasievoller und ausdrucksreicher als die ihrer männlichen Mitschüler. Die weibliche Maskerade galt im Anschluss an Judith Butlers Überlegungen zur Performativität von Geschlechterrollen zeitweise als ein Paradebeispiel subversiver Performances.50 Zuletzt wurde das Maskenspiel jedoch von Angela McRobbie demaskiert, die an Stelle einer selbstbewussten weiblichen Unkonventionalität eine angstvoll-unterwürfige Unseriösität diagnostizierte.51 Das Paradebeispiel einer freakigen Weiblichkeit ist das auch unter Hauptschülerinnen verbreitete Posieren mit verrückten Frisuren oder Perücken, vorrangig im weiblichen Freundeskreis. Solche medialen Präsentationen schriller Haarfarben und wilder Haarformen lassen sich als eine geschlechtsrollenkonforme Art des Spiels mit der weiblichen Norm des makellosen Aussehens verstehen, bei der zwar mit dem Bruch von Schönheitsnormen kokettiert, doch die Fixierung der Frau auf ihr Aussehen nicht infrage gestellt wird. Die weibliche Maskerade geht paradoxerweise mit neuen Formen der Normierung von facialer Expressivität einher, denn auch sozial eingeübte Gesichtsausdrücke der Nonkonformität sind oft weiterhin am weiblichen Imperativ des attraktiven Äußeren ausgerichtet.
Die freakigen Selfies Berliner Hauptschülerinnen folgten meist implizit oder explizit prominenten visuellen Vorbilden der Mediengesellschaft. Ausgerechnet in ihrer betonten Unkonventionalität ähnelten die visuellen Selbstdarstellungen der Schülerinnen den Gesichtsausdrücken von weiblichen Celebrities. Das Repertoire bizarrer Gesichtsposen, von verzogenen Lippen, lasziven Zungenbewegungen bis hin zu entzückten Blicken, wurde bereits von Popstars wie Miley Cyrus vorbildhaft vorgeführt und durch Prozesse digitaler Bildreproduktion medial verfügbar gemacht. Das Nachahmen dieser Gesten expressiver weiblicher Individualität folgt demnach konventionellen Mustern. Mit Gilles Deleuze ließe sich die Handy-Kamera deshalb auch als abstrakte Maschine zur Herstellung normierter Gesichter vorstellen.52 Die von Kulturhistorikern wie Thomas Macho, Hans Belting und Sigrid Weigel im Anschluss an Deleuze nachgezeichneten Prozesse der Facialisierung der Gegenwartsgesellschaft durch Techniken der medialen Vervielfältigung von Gesichtern führen uns die in der „westlichen“ Gegenwartsgesellschaft herausragende kulturelle Bedeutung von Gesichtsdarstellungen sowie wichtige zeitgenössischen Varianten der Formierung und Standardisierung von Selbstbildern vor Augen.53 Das Selfie ist aus diesem Blickwinkel Symptom und Ausdruck der facialen Gesellschaft. Gleichzeitig waren freakige Selfies anschlussfähig für parallel verlaufende Entwicklungen des medialen Kampfes um Aufmerksamkeit, wie der Erotisierung von Selbstdarstellungen oder der Theatralisierung von Freundschaftsbeziehungen.54
Dieser kulturkritische Gestus vernachlässigt jedoch, dass auch normierte und kopierte Gesten für einzelne Schülerinnen einen selbstermächtigenden Effekt haben können und das jugendliche Medienpraktiken widersprüchlicher und komplexer sind als die Facialisierungsthese vermuten lässt. Die weiblichen Spiele mit Masken und Rollen basierten auf Prozessen der digitalen Bildproduktion, die Kombinationen unterschiedlicher visueller Codes und dementsprechend unterschiedliche Deutungen ermöglichten.55 Neben uniformen Gesten ließen sich auch portrait- und geschlechtsrollenkritische Varianten der freakigen Selbstinszenierung beobachten, welche sowohl den facialen Imperativ als auch die darin eingeschriebenen hegemonialen Schönheitsnormen hintergingen. Zu diesem subversiven Selfie-Genre des Nicht-Portraits gehörten ein facettenreiches Arsenal von lustvoll versteckte Visagen – von verdeckten, abgewandten oder unkenntlich gemachten Gesichtern – sowie zahlreiche Formen der digitalen Übermalung oder Verzierung, die weibliche Attraktivitätsanforderungen unterliefen, wie etwa Frauengesichter mit digitaler Schweinchen-Nase oder mit Männerbart. Das Authentizitätsversprechen und der Attraktivitätszwang von weiblichen Gesichtsdarstellungen wurde hier in der medialen Praxis selbst in Zweifel gezogen.56 Die medialen Praktiken der Jugendlichen waren den Kulturkritikern längst einen Schritt voraus.
Muslimisch
Den öffentlichen Diskussionen um „Parallelgesellschaften“ und deutsche „Leitkultur“ waren die Neuköllner Schülerinnen sogar schon meilenweilt enteilt. Während in aufgeheizten öffentlichen Integrationsdebatten verstärkt essentialistische Gegensätze aufgebaut und einseitige kulturelle Bekenntnisse eingefordert wurden, kombinierten die Jugendlichen auf Facebook kulturelle Versatzstücke zwanglos miteinander. Zwar verwiesen sowohl junge Männer als auch junge Frauen auf ihre (post-)migrantischen Verflechtungen, doch waren letztere durch das Tragen des Kopftuches visuell stärker als muslimisch markiert. Konträr zum hegemonialen medialen Diskurs erschien das Kopftuch hier nicht als Stigma, sondern als positiver Ausdruck religiöser Orientierung und familiärer Bindungen.57 Parallel dazu fand teilweise eine explizite Auseinandersetzung mit Diskriminierungserfahrungen statt, beispielsweise durch das Posten humoristischer oder moralistischer Memes, in denen die Benachteiligung von Muslimen in Deutschland angeprangert wurde. Auf einem Comic-Bild war beispielsweise eine verschleierte katholische Nonne neben einer kopftuchtragenden Muslima platziert, im beigefügten Text wurde darauf hingewiesen, dass erstere als respektiert und letztere als unterdrückt gelte.
Die weiblichen Selbstdarstellungen mit Kopftuch orientierten sich dabei zwar an Idealen positiver Ausstrahlung, sexueller Attraktivität und makelloser Schönheit, doch wurden diese auf eine eher dezente, unaufdringliche Weise inszeniert. Die vestimentäre Verdeckung von Körperpartien und Frisuren sollte dabei nicht mit körperlicher oder stilistischer Nachlässigkeit gleichgesetzt werden. Modische Konventionen und Distinktionen wurden stattdessen anderweitig, etwa in Bezug auf Unterschiede in der muslimischen Kleiderordnung artikuliert. So wurden zahlreiche „feine Unterschiede“ über unterschiedliche Kopftuchformen und die Art diese zu Tragen verhandelt. Das dabei vorhandene Modebewusstsein zeigte sich besonders deutlich beim „Mipster“, dem vereinzelt auch unter weiblichen Neuköllner Jugendlichen zu beobachtenden stylish auftretenden „Muslim-Hipster“.58 Geschlechtsspezifische Rollenvorschriften wurden dabei auch mitreflektiert, so meinte eine muslimische Schülerin zu mir im Gespräch mit Blick auf ihren roten Nagellack: „Eigentlich sollte man das nicht machen, wir sollen ja nicht so auffallen. Ich mache das, weil ich es schön finde.“ Gleichzeitig betonte sie, dass deshalb niemand auf die Idee kommen sollte, sie „anders zu sehen“, also ihre weibliche Ehre infrage zu stellen. Im Gegensatz zu medialen Stereotypisierungen von kopftuchtragenden Musliminnen als unterdrückte Hausfrauen in grauen „Ghettos“, zeigten sich die kopftuchtragenden muslimischen Schülerinnen gerne mit lächelnden Gesichtern in sonnigen Umgebungen, nicht selten während Urlaubsreisen in den Herkunftsländern ihrer Familien. Das mediale Selbstbild stand hier also in einem auffälligen Kontrast zum medial kursierenden Fremdbild.
Diese Diskrepanz produzierte Stigma-Bewusstsein bei den Schülerinnen sowie eine Verteidigungs- und Rechtfertigungshaltung vor allem in Bezug auf das Kopftuch im schulischen Kontext. Die Schülerinnen erfuhren das „Stigma Kopftuch“59 – die Instrumentalisierung des Schleiers als Symbol kultureller Fremdheit und zivilisatorischer Rückständigkeit vonseiten der Mehrheitsgesellschaft – und die damit verbundenen Formen der Ausgrenzung und Abwertung am eigenen Körper. In einem Gespräch mit zwei kopftuchtragenden Neuköllner Hauptschülerinnen während meiner vorigen Feldforschung im Jahr 2008 zeigte sich, wie die eigene Kleidungspraxis im Fadenkreuz gesellschaftlicher Zuschreibungen geschützt werden musste. Beide junge Frauen betonten damals, dass sie ihr Kopftuch freiwillig trugen. Dass es sich um keine alltägliche Entscheidung handelte, wurde daran deutlich, dass sich beide noch genau an den Zeitpunkt erinnerten, an dem sie sich zum Tragen des Kopftuchs entschlossen hatten. Während eine „vor einem Jahr und ein paar Tagen“ im Zuge einer religiösen Hinwendung zum Koran das Kopftuch anlegte, folgte die andere „vor vier Jahren“ aus Gründen des familiären Zusammenhalts der Kleidungspraxis ihrer muslimischen Verwandtschaft. Beide verwiesen aber auch auf andere Mädchen aus ihrem Umfeld, die zum Kopftuchtragen gezwungen wurden. Neben der Rechtfertigung der religiösen Hinwendung zum Islam mussten sie auch die positive Wahrnehmung des eigenen Körpers gegenüber Anschuldigungen verteidigen. So wehrten sich die Schülerinnen vehement gegen Vorhaltungen kopftuchtragende Frauen seien „hässliche Mannsweiber“ und widersprachen einer Lehrerin, die einst zu ihnen meinte, ohne Kopftuch sähen sie besser aus: „Ich finde mich jetzt schöner. Aber ohne Kopftuch sehe ich auch gut aus!“
Facebook erwies sich gegenüber den hybriden kulturellen Selbstverortungen der Schülerinnen und den damit korrespondierenden Bildvarianten als enorm anpassungsfähig. Hans Belting hat am Bespiel der lange übersehenen arabischen Ursprünge der westlichen Kunst der Perspektive die west-östliche Geschichte europäischer Blickweisen herausgearbeitet.60 Die Selfie-Ästhetik mit ihrer Radikalisierung der Zentralperspektive lässt sich als bisher jüngstes Kapitel in diese transkulturelle Geschichte des Blicks einfügen und um eine medial gesteigerte Dynamik der digitalen Bricolage ergänzen. Die Selbstdarstellungen als junge Muslime waren gleichzeitig durch alltagspraktische Annäherungen an jugendkulturelle Konventionen gekennzeichnet. Die jungen Musliminnen verbanden das Kopftuch in ihren medialen Selbstdarstellungen ganz selbstverständlich mit Symbolen einer „westlich“ geprägten Konsumkultur, beispielsweise mit Sonnenbrillen von Gucci oder Ray Ban und einer Trainingsjacke von Adidas. In den Muslima-Selfies Neuköllner Hauptschülerinnen fanden stilistische Annäherungen und kulturelle Verknüpfungen im Kontext einer globalisierten Medienkultur statt, dabei entstanden aber auch mediale Reibungsflächen und visuelle Spannungen. Symbole einer figürlichen Bildsprache wie das Selfie wurden beispielsweise von arabesken Verzierungen eingerahmt. An der Konsumgesellschaft orientierte Selbstdarstellungsweisen befanden sich auf Facebook-Profilen neben Koranzitaten und Zeugnissen einer anikonischen, religiös-spirituell konnotierten visuellen Kultur.61 Eine solche, häufig mit Naturmotiven wie Wolken, Blitzen, Wasser oder dem Mond verknüpfte Transzendental-Ästhetik der Weite und Unendlichkeit stand mitunter im Kontrast zu dem auf den gleichen Facebook-Seiten propagierten Idealbild des hedonistischen und konsumorientierten „Top-Girls“.
„MACHOS“. POSEN MÄNNLICHER HÄRTE UND DOMINANZ
Als Pendant zu den eben beschriebenen Varianten des „Top-Girls“ zeichnen sich beim Blick auf die Selfies männlicher Hauptschüler die Konturen eines im Untersuchungsfeld ebenfalls als cool geltenden „Macho“-Typus ab. Die jeweils konkret gemeinten Inhalte und Bedeutungen des Machohaften sind historisch und kulturell erstaunlich variabel.62 Bestimmt wird das „Macho“-Bild durch jeweils unterschiedlich kodierte Varianten von Potenz-, Gewalt- und Dominanzfantasien. In Deutschland werden „Macho“-Stereotypisierungen als diskursive Abwertungsstrategien gegenüber einer männlich-migrantischen Unterschicht eingesetzt.63 Die deutsche Mehrheitsgesellschaft kann sich in der Abgrenzung von einer vermeintlich durch Aggressivität und Frauenabwertung geprägten Migrantenkultur selbst als friedlich und gleichberechtigt imaginieren. Hauptschüler wiederum eigneten sich den „Macho“-Gestus der Überlegenheit und Härte an, um sich als handlungsmächtig zu erleben und sozial produzierte Gefühle der Unterlegenheit zu überspielen.
Abbildung 6: Selfie-Collage Galilei-Schüler
Quelle: Facebook
Reich
Eine typische Variante der Selbstaufwertung ist das Posieren als reich und dekadent. Die Ästhetik sozialer Aspiration beschränkt sich hier nicht mehr auf Gesten der Respektabilität, wie sie Alison Clarke anhand der Ausgestaltung des Wohnraums bei einer auf ihren guten Ruf bedachten, doch gleichzeitig nach außen relativ verschlossen auftretenden britischen Arbeiterklasse beschrieben hat.64 In den Reichtums-Selfies Berliner Hauptschüler wurde dagegen, zumindest auf den ersten Blick, keine gesicherte Mittelklasse-Existenz mehr angestrebt, sondern mittels einer Ästhetik des Überflusses und der Verschwendung ein prunkvolles Leben imaginiert. Die traditionell an stabile Arbeitsverhältnisse gekoppelte proletarische Rolle des respektablen Familienernährers stand den Schülern aufgrund ihrer häufig von „Hartz IV“ abhängigen Eltern und der ihnen selbst nach der Schule drohenden Arbeitslosigkeit nur noch als zerbrochenes Spiegelbild vor Augen. Deutlicher sprang die Diskrepanz zwischen tatsächlicher Armut – mehr als 90 Prozent der Galilei-Schüler waren von der Zuzahlung zu Lehrmitteln befreit – und vorgestelltem Reichtum hervor. Je unerreichbarer der Weg in gesicherte Normalarbeitsverhältnisse erschien, desto eher wurden unrealistische Zukunftsvisionen und Luxusfantasien produziert.
Solche Gesten der imaginierten Statusumkehr sind durch ein überschaubares Repertoire wiederkehrender Bild-Sets bestimmt, wobei mir Auto- und Party-Motive besonders auffielen. Selfies mit prestigeträchtigen Automobilen, beispielsweise in eindrucksvollen Limousinen oder vor wendigen Sportwagen, bedienten sich einer hierzulande mittlerweile klassischen Statussymbolik, bei der teure Autos als Kompensationsstrategie für sozio-ökonomische Marginalisierung fungieren. Männliches Sozialprestige verleihen vor allem Marken-Produkte wie Mercedes-Benz und BMW oder Porsche und Ferrari. Keiner der Neuköllner Schüler besaß allerdings zum Zeitpunkt meiner Forschung ein Auto oder auch nur einen Führerschein, es handelte sich sämtlich um Autos von Verwandten, Bekannten oder Fremden. Die affektive Kraft entfaltete sich also weniger vom Gebrauchs- und Tauschwert der jeweiligen Automobile, zum Fetisch wurde das Auto für die jungen Männer aufgrund der über die ökonomische Warenzirkulation hinausgehenden Aura, die den Schülern Assoziationen mit Wohlstand, Fortschrittlichkeit und Technik ermöglichten.65 Beispielhaft für diese symbolische Aufwertung erschien mir die Selfie-Geste eines Neuköllner Schülers, der in einem Selbstportrait mit Auto seine Hand ehrfurchtsvoll-streichelnd auf den neben ihm parkenden Ferrari legte.
Die Party-Selfies Berliner Hauptschüler wirkten ebenfalls statusambitioniert. Im Gegensatz zur ästhetisch von Naturromantik oder Industriecharme geprägten Berliner Elektroszene, wurden von männlichen Hauptschülern Party-Selbstbildnisse in als exklusiv geltenden Etablissements bevorzugt, beispielsweise in mit ausgesuchten Freunden frequentierten Edel-Shisha-Bars oder in nobel wirkenden Event-Locations, die im Rahmen von pompös inszenierten Familienhochzeiten besucht wurden. Insignien der Coolness wie Lederjacken und Sonnenbrillen verliehen den Inszenierungen mit Freunden die nötige Lässigkeit, White Collar-Accessoires wie Anzüge mit Fliege oder Krawatte repräsentierten eine Attitüde des vornehmen Wohlstands. Solche Party-Selbstbilder stehen zwar symbolisch für Luxus, Verschwendung und Vergnügen, allerdings wirkten die Schüler in diesen Bildern auf mich aufgrund ihrer religiös begründeten Zurückhaltung beim Alkoholkonsum sowie ihrer starken Gemeinschaftsorientierung erstaunlich brav. Die Heranwachsenden wollten mit ihren Selfies beweisen, dass sie überhaupt am Berliner Partyleben partizipieren können und nicht abwertende Vorurteile über ihr Sozialverhalten bestätigen. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass auch volljährigen Neuköllner Hauptschülern migrantischer Herkunft der Zugang zu den über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Berliner Elektro-Clubs in der Regel verweigert blieb.
Es wäre zu billig, nach Statusgewinn und Teilhabe strebende Selbstinszenierungen als protziges Posertum einer urbanen „Unterschicht“ abzukanzeln. Tatsächlich werden solche Versuche der Statusaufwertung von den Wohlhabenden und Arrivierten häufig als geschmacklose Kompensationsversuche der „Möchtegerns“ verspottet. In solchen Fällen der sozialen Grenzziehung können die Luxusfantasien der Hauptschüler zu einem unfreiwilligen Ausweis von Marginalität werden. Doch die Reichtumsposen zielten ohnehin nur sekundär auf flüchtige Beobachter, sie erfüllten vielmehr spezifische Funktionen im engeren sozialen Umfeld. Zum einen mussten junge männliche Hauptschüler mit ihren Selfies potenziellen Partnerinnen, die ihre Facebook-Seiten prüften, demonstrieren, dass sie sich eine mögliche Partnerschaft auch leisten konnten. Unter Hauptschülern war dies keineswegs selbstverständlich, sondern musste erst durch entsprechende Gesten des Überflusses symbolisch nachgewiesen werden.66 Die Bilder von Reichtum zielten also nicht auf einen wirklich dekadenten Lebensstil, es handelte sich dabei um als außergewöhnlich und nicht als alltäglich wahrgenommene Ereignisse. Die Posen standen im übertragenen Sinne für den Wunsch nach einer gesicherten Normalexistenz plus gelegentlicher Vergnügungen. Zum anderen zielten solche Foto-Posen auf Statusgewinn und Zusammenhalt innerhalb männlicher Freundesgruppen. So wurden auf Facebook Luxusparty-Selfies vom erweiterten Freundeskreis in der Regel mit zahlreichen „Gefällt mir“-Klicks honoriert, während von den nächtlichen Begleitern zusätzlich affirmative Kommentare wie „gestern war geil“ erwartet wurden. Solche Formen der Bestätigung trugen zur Popularität und zum gruppeninternem Status des Abgebildeten bei.
In der Geschichte des Selbstportraits dominierten über Jahrhunderte Status-Darstellungen. Repräsentiert wurde nicht ein einzigartiges Individuum, sondern in erster Linie eine ständische Rolle oder ein bestimmter Sozialtypus.67 Erst ab 1800 entwickelte sich ein Verständnis des Selbstbildnisses als Ausweis einer unverwechselbaren persönlichen Identität. Doch die über Jahrhunderte tradierten Protzgesten der Amtsträger und monarchischen Herrscher wurden auch weiterhin von einem neureichen Bürgertum mit Verweis auf – den auch damals häufig nur imaginierten oder reichlich übertriebenen – finanziellen Reichtum und wirtschaftlichen Erfolg nachgeahmt. Die Reichtums-Gesten Berliner Hauptschüler stehen also in einer langen Tradition des aristokratischen und bürgerlichen Status-Bildes, das mittlerweile unter veränderten medialen Bedingungen auch in unterbürgerlichen Schichten adaptiert wird. Die digitale Neubelebung des Status-Portraits unter den sozio-ökonomisch Deklassierten zeugt von der affektiven Wirkmacht der kapitalistischen Konsumkultur und von den in einer neoliberalen „Prekarisierungsgesellschaft“ aufblühenden sozialen Fantasien.68
Hart
Für Inszenierungen als „harte Jungs“ gab es verschiedene, kombinierbare Muster: mit Schuss- oder Stichwaffen posierend, als bedrohlich herumstehender Eckensteher im öffentlichen Raum lauernd oder mit andeutungsvoll verdeckten Gesichtszügen in die Kamera schauend. Hinzu kamen aggressive T-Shirt-Aufdrucke, finstere Tattoos und bedrohliche Bildkommentare. Solche und andere Selbstinszenierungen als hart rekurrierten typischerweise auf zwei miteinander verwandte Muster von aggressiver Männlichkeit: eine mit Delinquenz und Gewalt verknüpfte „Ghetto“-Symbolik sowie eine mit physischer Stärke und Durchsetzungswillen assoziierte Kämpfermetaphorik. Überlegenheit wurde dabei jeweils mittels Einschüchterung reklamiert. Beide Präsentationsweisen eines männlichen Selbst lassen sich auch als Reaktionsweisen auf Exklusionserfahrungen verstehen.69 Ich werde sowohl der „Ghetto-“ als auch der Boxer-Version harter Männlichkeit noch jeweils ein Kapitel widmen und mich deshalb hier auf die Diskussion von Selfies und auf die Eigentümlichkeiten der visuellen Repräsentation aggressiver Männlichkeit in Online-Communities beschränken.
Bedrohlich wirkten Versatzstücke harter Männlichkeit hier besonders in Kombination mit einer bestimmten Blickweise. Die abweisende Botschaft eines fiesen, arrogant taxierenden Blicks wurde durch regungslose Mundwinkel unterstrichen, die noch nie ein Lächeln ausprobiert zu haben schienen. Posen der Härte zielten auf einen durch männliche Stärke legitimierten Selbstermächtigungseffekt. Im Facebook-Universum der positiv-expressiven Selbstdarstellung mit seinen Likes und lächelnden Gesichtern wirkten sie ebenso wie eine Provokation wie in der Schule und der urbanen Öffentlichkeit mit ihrem bürgerlichen Verhaltenskodex der körperlichen Zurückhaltung. Der konfrontative Gestus der Härte reklamierte darüber hinaus eine machtvolle Position innerhalb der Schülerschaft. Diese medialen Inszenierungen konnten scheitern oder unglaubwürdig werden, wenn sie nicht zumindest lose mit einem entsprechenden Alltagsverhalten und Durchsetzungsvermögen korrespondierten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass männliche Schüler komplett in Rollenmodellen der Härte aufgehen mussten, um diese überzeugend verkörpern zu können.
Wie die Glaubwürdigkeit solcher Selbstinszenierungen in Online-Communitys unterlaufen und verhandelt wurde, lässt sich an Gesten der Härte vermeintlicher und tatsächlicher Hauptschüler veranschaulichen. Auffallend an den während meiner Forschungen in den Jahren 2008/09 und 2012/13 frequentierten Online-Gruppen mit direkten Bezügen zu Berliner Hauptschulen war stets eine erstaunlich hohe Anzahl von Fake-Profilen. Am deutlichsten war dies bei dem auf schulische Identifikationen ausgerichtete Online-Portal SchülerVZ zu beobachten, das sich jedoch nicht gegen Facebook behaupten konnte und im Jahr 2013 abgeschaltet wurde. Solche Fake-Profile wurden von Personen eingerichtet, die nie die entsprechende Schule besucht hatten und sich auf diese Weise über Hauptschüler lustig machten. Auch wenn Hauptschüler in der Regel nicht auf solche Scherze reagierten oder sogar die Nichtzugehörigkeit der entsprechenden User entlarvten, so ist dennoch bemerkenswert, dass die entsprechenden Profilbilder häufig auf Gesten der Härte rekurrierten. Das hier verwendete und reproduzierte Stereotyp eines Hauptschülers war das eines aggressiven männlichen „Ghetto“-Schlägers. Doch wäre es zu einfach, solche Bildmotive einfach als falsche Klischeevorstellung abzutun. Komplizierter wird dieser Verweiszusammenhang, wenn man berücksichtigt, dass Hauptschüler ebenfalls gerne mit visuellen Versatzstücken des „Ghettos“ und des Boxers operierten, dass sie sich selbst mit Gesten der Härte identifizieren, mit ihnen kokettieren oder sie ironisierten. Aufschlussreich waren dabei vor allem Momente der Unsicherheit und der Doppeldeutigkeit, die darauf verweisen, dass heroische Präsentationsweisen von harter Männlichkeit durch Berliner Hauptschüler auf Facebook stets prekär und ambivalent blieben.
Ali hatte auf Facebook bereits verschiedene Selfie-Varianten ausprobiert – den Kumpel, den Spaßmacher, den Playboy und manchmal auch etwas härtere Versionen, als er plötzlich ein finster aussehendes Schwarz-Weiß-Bildnis als sein Profilbild veröffentlichte. Mit deutlich mehr Bart als sonst und dunklerer Kleidung als gewöhnlich blickte er den Betrachter auf eine so abgründige Weise an, dass ich unfreiwillig an Portraits von islamistischen Selbstmordattentätern denken musste. Die Reaktionen seiner Freunde waren durchwachsen, während einer das schöne Bild lobte, wofür sich Ali bedankte, wurde von anderen Kritik an einer als übertrieben hart erscheinenden Darstellungsweise formuliert: „Abow shit Bruder hör auf damit was für ein böser blick. bitte tuh mir nichts ja“. Auf Alis Beschwichtigung „Ich schaue doch nicht böse,“ wurde weiter insistiert: „Dein Blick Wallach wie ernst du kuckst als wen du von irgendetwas genervt wärst“. Der kritische Kommentar wurde von einem Jungen mit türkischem Migrationshintergrund verfasst, dessen Profilbilder selbst vor männlicher Härte strotzten. Beide versuchten ihre kleine Meinungsverschiedenheit mit Zwinker-Smileys die Schärfe zu nehmen, um die gemeinsame Freundschaft nicht zu gefährden. Da seine Selbstinszenierung offensichtlich als zu hart wahrgenommen wurde, tauschte Ali sein Profilbild wenig später gegen ein freundlicheres Motiv aus, bei dem er lächelnd mit einem winkenden Kleinkind auf dem Arm posierte. Auf seine harte Pose hin von mir angesprochen, erklärte er den Entstehungskontext des Bildes und spielte dessen aggressive Note sowie die darauffolgenden Auseinandersetzungen herunter:
Ali: „Ich hatte keinen richtigen Hintergrund. Das Foto war in der Toilette. In einem Café. Ich war fertig und hatte mir grad die Hände gewaschen. Da ging das Licht aus und ich dachte, ‚wow das sieht ja finster aus‘. So mit Bart und Mütze und alles so schwarz – gruselig! Da habe ich das Foto gemacht. Aber es war eher Spaß. Es kam einfach so raus. Ich wollte nicht zeigen, wie gefährlich ich bin. So was ist nicht mein Ding. Ein paar Freunde machen dann natürlich ihre Scherze, aber das muss man nicht so ernst nehmen.“
Bei anderer Gelegenheit agierten die Schüler auf parodistische Weise mit „Ghetto“-Bildern. In einer Fotostrecke, die eine Gruppe von Galilei-Schülern in der Berliner U-Bahn aufnahm, posierten sie spaßeshalber mit schwarzen Gesichtsmasken als bedrohliche Terroristen und feierten sich in den Kommentaren anschließend selbst für ihre amüsante „Ghetto“-Performance. In gespielten Formen des Anmachens und des Überfalls simulierten sie das mit männlichen Neuköllner Hauptschülern und muslimischen Terroristen assoziierte gewalttätige Gefährdungspotential und distanzierten sich gleichzeitig durch den ironisch-spielerischen Gestus von solchen Zuschreibungen. In beiden Beispielen fand ein Wechselspiel zwischen visueller Eskalation in Form von harten Posen und einschüchternder Performance sowie narrativer De-Eskalationen statt, indem durch ergänzende Kommentare auf die eher unspektakulären Umstände oder den spielerischen Charakter des Gezeigten hingewiesen wurde.70
Cool
Neben dem hier verwendeten weiten Verständnis von Coolness als Leitbild für geschlechtlich und klassenspezifisch konnotierte Formen des gesellschaftlich Wünschenswerten, lässt sich auch ein engerer Begriff des Coolen im Sinne von emotionaler Selbstbeherrschung und demonstrativer Affektlosigkeit ausmachen, eine Verhaltensweise, die traditionell eher männlich konnotiert ist. Eine solche Form der Coolness galt unter jungen Männern an der Galilei-Schule als ein wichtiger Distinktionsfaktor und wurde dadurch auch zu einer Grundanforderung für die Darstellung des männlichen Selbst im Selfie. Das gestische Spektrum darstellerischer Affektverweigerung reichte von einer abweisend-kühlen Haltung der Distanz bis zu einem ironisch-spielerischen Gestus der Lässigkeit, hinzu kamen eine starke Betonung von Körperlichkeit und ebenfalls als cool geltende Posen der Devianz, in denen sich eine männlich geprägte counter-school-culture symbolisch artikulierte.71
Auch von jungen Frauen wurde eine demonstrative Affektlosigkeit als typisch männlich angesehen, allerdings vor der Folie der eigenen mit Weiblichkeit assoziierten Emotionalität tendenziell als bedauerlich bewertet:
Sila: „Jungen haben eine andere Art mit Gefühlen umzugehen, sie wollen cooler sein. Coolness bedeutet für mich, nicht die eigenen Gefühle zeigen zu können. Das haben auch manche Mädchen, und nicht wirklich alle Jungs sind so – es hängt auch vom Typ ab. Ich denke mal, das hat viel mit der Erziehung zu tun, das kommt schon von deren Eltern und Geschwistern. Und wenn sie es noch nicht zu Hause gelernt haben, dann lernen sie es in der Schule, dass Jungs ihre Gefühle nicht zeigen sollen. Die lernen das hier ganz schnell. Es bilden sich Gruppen und Freundeskreise, die sich ähneln, sei es Kleidung, sei es Sprache, das kann einen wirklich beeinflussen. Also meine Vorstellung ist das nicht. Aber jede Eigenschaft hat eine positive und eine negative Seite. Man ist dadurch selbstbewusst und weniger verletzlich, es kann aber auch schnell arrogant wirken.“
Sila hebt den gesellschaftsbedingten Charakter männlicher Coolness hervor und formuliert dabei quasi nebenbei die Grundannahmen der Sozialisationstheorie Pierre Bourdieus, mitsamt der Unterscheidung zwischen primärem Habitus (familiäre Sozialisation) und sekundärem Habitus (schulische Sozialisation). Dabei berücksichtigte sie auch Ambivalenzen und vereinzelte Grenzüberschreitungen.
In fotografischen Selbstportraits wurde der Eindruck von männlicher Coolness vor allem über eine spezifische Modellierung des Gesichts erzeugt. Der affektive Stil der Coolness zeichnet sich dabei paradoxerweise durch eine zur Schau gestellte Affektlosigkeit aus. Der Gesichtsausdruck ist bewegungsarm, die Mimik betont unbetont, der lebendige Blick erstarrt. Das coole Gesicht wirkt wie eine Maske. Hier lässt sich erneut an den Kunsthistoriker Hans Belting anschließen, der für eine Erweiterung des Maskenbegriffs plädiert, nach der auch lebendige Gesichter zu Masken erstarren können, beispielsweise im Portrait oder in manchen Formen des Schauspiels.72 Auch im Alltag kann der lebendige Blick stillgelegt und der mimische Ausdruck verweigert werden. Zahlreiche Selfies männlicher Hauptschüler erschienen in diesem Sinne als undurchdringliche Maskengesichter, welche auf einen einzigen coolen Gesichtsausdruck fixiert waren. Die Maskenmetapher ist auch deshalb hilfreich, da sie diese Gesichtsvariante als eine ästhetische Form und eine mimische Leistung verständlich macht, die es in einem sozio-kulturellen Kontext zu verorten gilt – als eine Art affektives Schutzschild, als ein Mittel der Täuschung oder des Verbergens durch das alltägliche Demütigungen und sozialmoralische Abwertungen demonstrativ abgewiesen werden konnten. Diese Form der Coolness verweist auf evasive Verhaltensmuster, die zunächst vor allem Afro-Amerikaner im Kontext von Sklaverei und Rassismus ausbildeten und die später im Zuge von Amerikanisierungsprozessen, vor allem über die Halbstarkenbewegung und die globalisierte Hip-Hop-Kultur, auch hierzulande anschlussfähig wurden.73
Coolness bietet einen gewissen Schutz vor den mit sozialer Verachtung einhergehenden emotionalen Zumutungen, mit Verweis auf Autoren wie Frantz Fanon ließe sich aber auch auf die Lasten und Sackgassen von Masken der Coolness hinweisen.74 Coole Gesten können zu einer Belastung werden, zu einer stereotypen Verhaltenszuschreibung, die man zunächst selbst annimmt und der man dann nicht mehr so leicht wieder entkommt. Wie im Unterricht eingesetzte Coolness die Kommunikation zwischen Lehrerinnen und Schülern erschweren konnte, verdeutlicht der folgende Auszug aus meinem Feldtagebuch:
Feldtagebuch: Sven trägt ein Basecap, ein T-Shirt mit der Aufschrift „Fight for your Right to Party“ und eine Trainingshose der Marke „Limited“. Um seinen Hals hängt eine fette Silberkette, um das Handgelenk baumelt eine silberne „Königskette“. Seine Stimme tönt dunkel und rauchig, als würde er immer etwas Verbotenes oder Gefährliches sagen. Seine Körperbewegungen sind von lässiger Sparsamkeit, als gelte es jeden unnötigen Kraftaufwand zu vermeiden. Die Hände werden nur bei dringendem Bedarf leicht angehoben, sein Gang wirkt langsam und bedächtig. […] Die Schüler sollen kleine Vorträge vor den Plakaten halten, die sie eigentlich zu ihrer Praktikumszeit anfertigen mussten. Sven malt währenddessen in seinem Heft. Als er an die Reihe kommt, bleibt er einfach regungslos sitzen, wohl auch, weil er mangels Plakat ohnehin keine gute Note mehr erwarten kann. Die Mitschüler und die Lehrerin reden auf ihn ein, trotzdem vorzugehen und ein paar Sätze zu stammeln, damit er wenigstens die Note Sechs vermeidet. Aber Sven wirkt gänzlich unberührt, lehnt sich entspannt zurück, taxiert die Situation und lässt seine Mundwinkel bewegungslos herunterhängen. Die gutmeinende Lehrerin lässt nicht locker und erinnert ihn an seine ebenfalls Sechsen nach sich ziehenden Fehlzeiten der letzten Tage. Da er nun scheinbar doch reagieren muss, ringt er sich ein müdes Lächeln ab, scheint aber schon im nächsten Moment zu merken, dass diese unmotivierte Geste nicht so gut ankommt. Die Lehrerin reagiert genervt: „Ich kann dieses Gesicht nicht mehr sehen!“
Die Konfrontation steht symptomatisch für eine fehlende kulturelle Passung und eine gleichzeitige relationale Aufeinanderbezogenheit zwischen der von einer engagierten Lehrerin verkörperten pädagogischen Schulkultur und der Affektkultur devianter männlicher Hauptschüler.75 Der Schüler versteckte sich in einer schwierigen Gesprächssituation reflexhaft hinter einer emotionalen Wand, die ihm zunächst Distanz ermöglichte, dann im weiteren Verlauf der Situation aber selbst im Wege stand. Vonseiten der Lehrerin wurde sein cooles Verhalten gleichsam überdeterminiert, sie fokussierte sich darauf, nahm es als persönlichen Affront war und regte sich am Ende mehr über die Mimik des Schülers als über dessen nicht erbrachten schulischen Leistungen auf.
Playboy
„Frau Milde kann gut reden, sie ist Lehrerin. Stefan kann gut schreiben, er ist an der Uni. Und wir können gut ficken, deshalb sind wir an der Hauptschule.“ In dieser provozierenden Zwischenbemerkung verknüpfte ein männlicher Schüler seine rangniedrige Statusposition mit einem umgekehrt hohen sexuellen Status und formulierte nebenbei auf selbst-ironische Weise eine kleine Theorie der Klassenverhältnisse. „Macho“-Posen dieser Art hatten eine doppelte Funktion. Sie zielten auf eine überwiegend weibliche Lehrerschaft, deren Autorität mit anmaßenden männlichen Sprüchen untergraben wurde. Neben den Lehrerinnen wurden damit innerhalb der Schule gleichzeitig weibliche Mitschülerinnen und zurückhaltende Jungen eingeschüchtert. Diese Machtansprüche blieben jedoch selten unwidersprochen, so wurden sich machohaft in Szene setzende Jungen ihrerseits von einigen Mitschülern verbal attackiert und von Lehrerinnen sanktioniert.
Auch im digital vernetzen Freundes- und Bekanntenkreis präsentierten sich machohaft auftretende junge Männer als lässige und sexuell erfolgreiche Gewinnertypen. Zielten Playboy-Gesten im Unterricht eher auf Provokation und Machtverstärkung, so buhlten ihre Absender in Online-Communitys stärker um Applaus und Bewunderung. Dieser Mechanismus der Selbstaffirmation lässt sich an den Bildkommentaren zu einem Playboy-Selfie nachvollziehen. Die dazugehörige Urlaubsaufnahme eines jungen Hauptschülers zeigte diesen im Sommer nach dem Schulabschluss an einem sonnigen Mittelmeer-Strand mit zwei an ihn gelehnten jungen Frauen – eine im hautengen Katzenkostüm, die andere im bauchfreien „Superman“-Shirt. Dieses Bild wurden von mehreren ehemaligen Mitschülern mit bestätigenden Bemerkungen wie „Lol nice digga playboyXD“, „Miaus miaus arrrr“ oder „ey läuft bei dir“ kommentiert. Die männlichen Kommentatoren unterstrichen damit gleichzeitig ihre eigene Affinität zum Playboy-Style. Auch eine weibliche Betrachterin honorierte den stilisierten Auftritt. Die ehemaligen Schüler zelebrierten damit unmittelbar nach Verlassen der Schule ihre anhaltende Zusammengehörigkeit. In der Strandpose schwang zudem noch eine weitere Botschaft mit, denn geprahlt wurde auch damit, dass man zu jenen privilegierten Schülern zählte, die sich attraktive Urlaubsreisen überhaupt leisten konnten. Während manche Playboy-Selfies einen Authentizitätsanspruch reklamierten, handelte es sich hier um eine Pose, die ihre Künstlichkeit lustvoll mit ausstellte. Auch die oben erwähnten „Macho“-Sprüche im Unterricht bewegten sich meist auf einem schmalen Grat zwischen Spiel und Ernst, zwischen Ironie und Zynismus.
Sexuelle Attraktivität, naturgegebene Lässigkeit und stilistische Unangreifbarkeit reklamierende Playboy-Posen sind klassische Elemente von populärkulturellen Inszenierungen männlicher Selbstermächtigung. Das humoristische Spiel mit maßlosen Übertreibungen und die einseitige Behauptung von geschlechtlicher Dominanz gehören zum festen Ausdrucksrepertoire dieser Aufführungen. Mithilfe eines Rekurses auf tradierte, mittlerweile in der dominanten bürgerlichen Kultur längst als überholt geltende Muster heroischer Männlichkeit werden Dominanzansprüche von jenen reklamiert, die als sozio-ökonomisch deklassiert gelten. Der „machohafte“ Playboy-Gestus lässt sich besonders gut mit Gesten demonstrativer Coolness und Inszenierungen von dekadentem Reichtum kombinieren. Statt dem Zugriff auf anziehende Konsumobjekte wird die Verfügbarkeit über Frauen vorgeführt, die damit gleichsam zu einem dinghaften Accessoire degradiert werden. Playboy-Gesten sind durch eine aufreizende Lässigkeit gekennzeichnet, mit der ein geschlechtlicher Überlegenheitsanspruch unterstrichen wird. Diese Playboy-Attitüde wurde durch visuelle Gesten unterstrichen, bei denen die Schüler auf eine betont beiläufige Art und Weise mit jungen Frauen posierten, denen sie aufgrund der eigenen Unwiderstehlichkeit scheinbar kaum Beachtung zu schenken brauchten. Visuell ergänzt wurden solche Inszenierungen mitunter durch erotisierte Bildmotive wie Pin-Up-Bilder von halbnackten Models. Der hyper-potente Playboy erscheint somit in der heterosexuellen Matrix als passgenaues Gegenstück zur sexualisierten Weiblichkeit.
„Macho“-Posen in der Hauptschule waren ein beliebtes Provokationsmittel – gegenüber den von der Institution Schule propagierten Anstandsnormen der bürgerlichen Öffentlichkeit im Allgemeinen und gegenüber den überwiegend weiblichen Lehrkräften innerhalb der Schule im Speziellen, da diese die damit propagierte Geschlechterpolitik verständlicherweise nur schwer ertragen konnten. Die provozierende Wirkung steigerte sich, je erschrockener, brüskierter und strafender Pädagoginnen darauf reagierten. Die Attackierten tapsten damit in die Falle des Provokateurs. Eine sicher nicht leicht zu gewinnende Gelassenheit angesichts dieser Angriffe, eine Portion Verständnis für deren soziale Sinnhaftigkeit und vielleicht sogar ein bisschen Respekt für deren facettenreiche populärkulturelle Tradition würden in solchen Konstellationen vermutlich zur Entspannung des Schulklimas beitragen. Vielleicht hilft es sich daran zu erinnern, dass es sich um raffinierte Selbst-Stilisierungen handelt, um primär mit Sprüchen und Bildern operierende Gesten der geschlechtlichen Überlegenheit, die relativ wenig mit dem tatsächlich gelebten Partnerschafts- und Sexualverhalten der Schüler zu tun haben.
Es wäre also falsch, solche Potenzposen als Abbilder einer vermeintlich hemmungslosen Sexualität der „Generation Porno“76 misszuverstehen. Die machohaft auftretenden jungen Männer der Galilei-Schule strebten in der Regel festere, partnerschaftlichere und romantischere Beziehungen an, als es ihre Inszenierungen von Promiskuität, Härte und Dominanz suggerierten. Dafür sprechen auch die zahlreichen neugierig-unsicheren Nachfragen dieser Schüler zu meinem eigenen Sexualverhalten und deren anschließenden Ermahnungen, ich solle meine langjährige Freundin doch „endlich heiraten“. Auch statistische Untersuchungen zum Sexualverhalten stellen für männliche Hauptschüler keine auffälligen Werte fest, sondern belegen eher durchschnittliche Zahlen beim Geschlechtsverkehr.77 Hauptschülerinnen, vor allem jene (post-)migrantischer Herkunft, agieren diesen Zahlen nach sogar sexuell etwas zurückhaltender als junge Frauen anderer Schultypen. Allerdings gehen Hauptschüler stärker als andere von sexuellen Aktivitäten ihrer Mitschüler aus und orientieren sich auch stärker als andere Schülergruppen an Gleichaltrigen. Playboy-Gesten männlicher Hauptschüler sind im Kontext brüchig werdender pädagogischer Autorität sowie einer zunehmenden medialen Verfügbarkeit von sexualisiertem Bildmaterial ein spielerisches und provozierendes, oft auch selbstironisches Mittel, um mit dem Thema Sexualität im Jugendalter umzugehen.
Ausländer
Die Bezeichnung „Möchtegern-Ausländer“ mag zunächst vielleicht irritieren, da die meisten Neuköllner Hauptschüler tatsächlich in (post)migrantischen Familien aufgewachsen waren. Während ich bereits auf bricolagehafte Darstellungsweisen religiöser Zugehörigkeit bei jungen Frauen verwiesen habe, stehen nun männliche Aneignungen des „Ausländer“-Status als Vehikel kultureller Selbstaufwertung im Mittelpunkt. Selbst-Ethnisierungen fanden in ganz unterschiedlichen Formen auf den Selfies der Schüler statt: via „Yugo-Power“ feiernden Kleidungsemblemen, über Selbstinszenierungen mit palästinensischen Fahnen bis zu Fotoposen mit türkischen Fußballinsignien anlässlich wichtiger Spiele. Diese Beobachtungen zu Hauptschülern auf Facebook decken sich mit Ergebnissen der Migrationsforschung, die in Deutschland unter Jugendlichen der zweiten und dritten, also einer bereits selbstverständlich in Deutschland aufgewachsenen Einwanderergeneration, verstärkte Tendenzen zur Selbstethnisierung diagnostiziert hat.78 Diese Affirmation kultureller Identität mittels eines Rekurses auf nationale Authentizität und Würde können als Reaktion auf Rassismuserfahrungen und Fremdethnisierungen in der Schule gelesen werden. Die binäre Opposition zwischen „Deutschen“ und „Ausländern“ wird dabei im Jugendkontext auch als eine Unterscheidung zwischen „cool“ und „uncool“ gedeutet.79
Der selbstethnisierende Verweis auf die eigene „Jugo-“ „Türken-“ oder „Arab“-Power kann als eine typische und typisierende Form männlicher Selbstermächtigung gelesen werden. Moritz Ege hat bereits vorbildlich herausgearbeitet, wie Berliner Jugendliche durch „Ausländer“-Posen einen ethnischen Exklusivitätsanspruch auf Coolness und Härte reklamieren, indem sie negative ethnische Fremdzuschreibungen adaptieren und als Ausweis kultureller Attraktivität umdeuten.80 Die auf diesem Umkehrmechanismus basierenden Selfies der von mir beforschten Neuköllner Hauptschüler spielten in vergleichbarer Weise mit kulturellen Zuschreibungen. Sie adaptierten Alltags-Essentialismen und Annahmen ethnischer Höher- und Minderwertigkeit – nur dass die bisher Marginalisierten sich nun eigenmächtig selbst als das Maß der Dinge imaginierten. Die Behauptung ein cooler „Macho“ sei man quasi per Geburt half die stets lauernden Unzulässigkeiten der eigenen Inszenierungen herunterzuspielen. Demnach könne man als „Ausländer“ gar nicht uncool sein, da die eigene Lässigkeit, physische Härte und sexuelle Attraktivität als ethnisch festgeschrieben gelte.
Mit Blick auf schulinterne Machtverhältnisse lässt sich veranschaulichen, wie eine solche Haltung auch mit Abwertungen gegenüber den Selbstermächtigungsansprüchen anderer, vor allem ethnisch deutscher Schüler, einhergingen. An der Neuköllner Galilei-Schule wurden die Grenzen der Zugehörigkeit zu männlichen Peer-Groups ethnisch markiert. Obwohl manche arabische Jugendliche keineswegs den selbst propagierten „Macho“-Maßstäben genügten, genossen sie dennoch die Vorteile der Zugehörigkeit zu dominant auftretenden ethnisch markierten Freundeskreisen. Die Coolness- und Zugehörigkeitsbestrebungen der wenigen autochthonen Jugendlichen wurden dagegen auf recht arbiträre Weise abgewiesen. So scheiterte Theo mit seinem „Macho“-Stil, obwohl er ihn viel passionierter inszenierte als manch arabischer Jugendlicher. Als einer der wenigen ethnisch deutschen Schüler galt Theo von Beginn an als uncool und sein angestrengter Versuch, gegen die eigene Außenseiterrolle anzukämpfen, ließen ihn nur noch unattraktiver erscheinen. So bezeichnete er sich auf seinem Facebook-Profil selbst als „meistens sehr COOL drauf“. Während eine weibliche Beobachterin seine Profilbilder lobte, antworteten seine männlichen Mitschüler auf abschätzige Weise. Wie viele andere Jungen beleidigte auch Theo im Unterricht Lehrer mit provozierenden Sprüchen und diffamierte Mitschülerinnen als „Schlampe“. Seine Trainingshose hing sogar noch weiter herunter als die seiner Mitschüler. Wirkte er zu Beginn des zehnten Schuljahres auf mich noch wie ein netter kleiner Junge, so erschien er mir am Ende des Schuljahres als ein wütender junger Mann. Aber die üblichen Potenz- und Dominanzposen wirkten bei ihm nie wirklich einschüchternd, sondern auf eine ungeschickte Weise bemüht. So bezeichnete er die Lehrerin Frau Sauer einmal auf ironische Weise als „Frau Süß“, aber statt daraufhin zu lachen, wurde die Bemerkung von Mitschülern mit „Du bist nicht lustig“ zurückgewiesen. Was ihm fehlte, war der ethnisch beglaubigte Ausweis von „street credibility“ sowie die gruppeninterne Unterstützung eines Freundeskreises, die seinen migrantischen Mitschülern das nötige Einschüchterungspotenzial verliehen und eine gewisse Souveränität ermöglichten. „Theo ist halt Theo“, fasste ein arabischstämmiger Schüler mir gegenüber dessen Dilemma zusammen.
Coole Posen können partiell misslingen oder komplett scheitern, es handelt sich also immer auch um riskante Gesten. Da Coolness durch ein inhaltlich flexibles Set an Zuschreibungen bestimmt wird, kann bei coolen Selfie-Posen auf unterschiedliche Motivkomplexe und Bildtraditionen zurückgegriffen werden. Für das Gelingen dieser Gesten der Selbstermächtigung ist maßgeblich, wer und zu welchen Anlässen coole Posen präsentiert und wie diese von anderen aufgenommen und bewertet werden. Sowohl die individuelle Motivauswahl als auch der kollektive Bewertungsprozess sind geprägt von geschlechtlich kodierten sozialen Vorstellungen von Glück und Erfolg. Als Versuche des Einübens wünschenswerter Selbstentwürfe und des Imaginierens erstrebenswerter Zukünfte können Selfies als populäre Utopien angesehen werden.
SCHLUSS: AMBIVALENTE SELBSTBILDER
Coolness hat eine lange Tradition als Ästhetik der Marginalisierten, hinter dessen nach außen abweisender Fassade sich komplexe Kommunikationsprozesse und prekäre Selbstverortungsversuche ausmachen lassen. Coolness ist keine Charaktereigenschaft, sondern eine (nicht immer gelingende) Pose und ein (häufig umstrittener) Zuschreibungsmodus. Coolness kann also auch nur als eine solche unsichere Inszenierung untersucht werden. Der häufig gemacht Vorwurf der Oberflächlichkeit des Coolen greift deshalb zu kurz, denn es handelt sich um voraussetzungsvolle und facettenreiche Inszenierungen, die nicht losgelöst von kulturellen Verweiszusammenhängen und sozialen Kontexten verstanden werden können. In den von mir aufgefächerten Coolness-Posen artikulierten sich zudem unter Berliner Hauptschülern besonders verbreitete Wert- und Welthaltungen, vor allem eine affirmative Beziehung zur Konsumkultur und eine demonstrative Ablehnung der Schulkultur.
Mit Selfies habe ich mich auf die unter heutigen Jugendlichen am weitesten verbreitete Form des Posierens konzentriert und die fotografischen Selbstdarstellungen im Kontext alltäglicher, sowohl online als auch offline verlaufender, Aushandlungsprozesse diskutiert. Die beschriebenen coolen Posen stehen für unterschiedliche Formen der Selbstermächtigung, die gleichzeitig mit schulinternen Grenzziehungen und Ausschließungen einhergingen. Die Selfies Berliner Hauptschüler sind auch visuelle Reaktionen auf Zuschreibungen von Minderwertigkeit sowie eine affektive Form der Verarbeitung von Exklusionserfahrungen, allerdings verlaufen die Beziehungen zwischen Selbstdarstellungen und sozialer Positionierung nicht linear, sondern sind medial vermittelt und populärkulturell überformt. Statt einer direkten politischen Auseinandersetzungen wird im Selfie ein Spiel mit Masken, Fantasien und Abschweifungen kultiviert.
Fotografische Selbst-Portraits sind bedeutsam für Prozesse jugendlicher Selbstvergewisserungen, besonders unter Bedingungen von Exklusion und Verachtung. In Hauptschüler-Selfies kommt die Spannung zwischen negativen Stereotypen und dem Streben der Schüler nach einem positiven Selbstbild zum Ausdruck. Selfies können eine selbstermächtigende Wirkung haben, nicht nur indem sie positive Sichtweisen auf die eigene Person demonstrieren, sondern auch indem sie helfen, sich im Schulalltag zu positionieren. Die Schülerinnen und Schüler demonstrierten dadurch Medienkompetenzen, sie begründeten stilistische Allianzen und festigten Freundschaften.81 Dennoch waren diese Bildpraktiken gleichsam von Machtstrukturen bedingt, die sich in dominante Diskurse des Erstrebenswerten, in technologische Infrastrukturen sowie in Formen der Produktion, Zirkulation und Kommunikation von Selfies eingeschrieben haben.82 Zudem drohten jenen Schülern, denen eine positive Selbstpräsentation via Selfies auf Facebook nicht gelang oder die diese verweigerten, auch neue Formen des digitalen Mobbings und der schulinternen Ausgrenzung. Soziale Netzwerke ermöglichen zwar prinzipiell neuen Formen der Verbindung über soziale Grenzen hinweg, sie dienten den Schülerinnen und Schülern der Galilei-Schule jedoch vorwiegend der Betonung sozialer Kohäsion in bereits existierenden Freundesgruppen.
Ramón Reichert beobachtete angesichts der Verbreitung von Medienamateuren zwei miteinander konkurrierende Deutungen: eine Befreiungsrhetorik und eine Kulturkritik.83 Während erstere revolutionäre Fantasien auf zumeist junge Mediennutzer projizierte, warnten kulturkritische Stimmen vor einem Niedergang kultureller Errungenschaften, prangerten mediale Entfremdung, digitalen Narzissmus oder drohenden Sprach- und Sittenverfall an. Beide Varianten der Kritik sind sich insofern selbst genug, als sie es versäumen, die situierte mediale Alltagspraxis detailliert im Kontext medialer Transformation, jugendkultureller Sozialisation und gesellschaftlicher Machtgefüge zu erforschen. Am Beispiel sich herausbildender Genrebildungen von Selfies Berliner Hauptschülerinnen und Hauptschülern wurde deutlich, wie sich mediale und gesellschaftliche Transformationsprozesse mit Subjektivierungen entlang der geschlechtlich konnotierten Leitbilder des „Top-Girls“ und des „Machos“ verbanden. Diese begriffliche Unterscheidung sollte nicht binäre Geschlechtsunterschiede reifizieren, sondern eine analytische Perspektive auf online und offline verlaufende Geschlechterdifferenzierungen im Hauptschulkontext ermöglichen. Während weibliche Schülerinnen sich dabei tendenziell gefällig inszenierten, versuchten ihre männlichen Mitschüler eher zu dominieren, weshalb man sie auf ihren Selfies auch auffallend selten lächeln sah. Gemeinsam war beiden Varianten geschlechtlicher Selbstvergewisserung eine starke Konsum- und Körperorientierung sowie eine individualistische Reaktionsweise auf gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse. Was dabei zum Ausdruck kommt, ist nicht das Abbild einer authentischen sozialen, kulturellen oder persönlichen Prägung, sondern eine mit Selbst- und Fremdbildern spielende Performance des Wünschswerten und Erfolgreichen unter neoliberalen Vorzeichen. Die damit verbundenen Medienaneignungen lassen sich weder einseitig als Befreiung noch als Unterdrückung verstehen, sondern sie sind auf teilweise irritierende Weise sowohl Selbstermächtigung als auch Unterwerfung.
1Zum emotionalen Stil vgl. Middleton: Emotional style; Gammerl: Emotional styles.
2Vgl. Holert: Cool.
3Vgl. Reckwitz: Das hybride Subjekt.
4Vgl. Stearns: American Cool.
5Vgl. Maase: Das Recht der Gewöhnlichkeit, S. 145-212.
6Vgl. Hugger (Hg.): Digitale Jugendkulturen.
7Vgl. Lobinger/Geise (Hg.): Visualisierung – Mediatisierung; Eckel/Ruchatz/Wirth (Hg.): Exploring the Selfie.
8Vgl. Boyd/Ellison: Social Network Sites.
9Vgl. Ginsburg/Abu-Lughod/Larkin (Hg.): Media Worlds; Miller: Tales from Facebook; Miller/Horst (Hg.): Digital Anthropology; Miller u.a.: How the World Changed Social Media.
10Vgl. Boyd: It’s complicated.
11Vgl. Brantner/Lobinger: „Weil das absolute Poserbilder sind!“.
12Vgl. Budde: Männlichkeit und gymnasialer Alltag.
13Vgl. Ege: „Ein Proll mit Klasse“, S. 416ff.; McRobbie: The Aftermath of Feminism, S. 54-93.
14Vgl. McRobbie: The Aftermath of Feminism.
15Vgl. ebd.
16Vgl. Ngai: Our Aesthetic Categories; Yoshimi: Consuming ,America‘.
17Vgl. Sandbye: Play, Process and Materiality in Japanese Purikura Photography.
18Vgl. Wellgraf: Hauptschüler.
19Vgl. Bourdieu/Boltanski: Eine illegitime Kunst; Starl: Knipser; Raab: Visuelle Wissenssoziologie der Fotografie.
20Vgl. Murray: Digital Images; van Dijk: Digital Photography; Van House: Personal Photography.
21Vgl. Hill Collins: Mammies, Matriarchs, and other Controlling Images.
22Vgl. Geer: Selfing versus Posing.
23Vgl. Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital.
24Vgl. Macho: Vorbilder.
25Vgl. Cotta: Social Media in Southeast Turkey, S. 103-127.
26Vgl. van Dijk: The Culture of Connectivity; Payne: Virality 2.0.
27Vgl. Leistert/Röhle (Hg.): Generation Facebook; Eisenlauer: Facebook as third author.
28Vgl. Gillespie: The Relevance of Algorithms; Beer: Power through the Algorithm?; Mager: Algorithmic Idelogy.
29Vgl. Ahmed: The Cultural Politics of Emotion; Karatzogianni/Kuntsman (Hg.): Digitial Cultures and the Politics of Emotions; Parisi: Digital Automation and Affect.
30Vgl. Boltanski/Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus.
31Vgl. Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 405-538.
32Vgl. Wendt: The Allure of the Selfie.
33Vgl. Featherstone: Body, Image and Affect in Consumer Culture; Hansen: New Philosophy for New Media.
34Vgl. Wellgraf: Haptschüler, S. 68-75.
35Vgl. Schär: Grenzenlose Möglichkeiten der Selbstdarstellung?
36Vgl. Dangendorf: Kleine Mädchen und High Heels.
37Vgl. McRobbie: The Aftermath of Feminism, S. 54-93; Albury: Selfies, Sexts, and Sneaky Hats; Dobson: Laddishness Online.
38Vgl. Dangendorf: Kleine Mädchen und High Heels.
39Vgl. McRobbie: The Aftermath of Feminism.
40Vgl. Gundle: Glamour; Thrift: Understanding the material practices of glamour.
41Vgl. Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 585ff.
42Vgl. Stearns: American Cool.
43Vgl. Frank: The Conquest of Cool; Holert: Cool.
44Vgl. Comaroff/Comaroff (Hg.): Millennial Capitalism and the Culture of Neoliberalism.
45Vgl. Fiske: Reading the Popular; McRobbie: The Aftermath of Feminism.
46Vgl. Ngai: Our Aesthetic Categories, S. 174-232.
47Vgl. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität.
48Vgl. Mulvey: Visuelle Lust und narratives Kino.
49Vgl. Ingelmann: Female Trouble.
50Vgl. Butler: Gender Trouble, S. 175-203.
51Vgl. McRobbie: The Aftermath of Feminism, S. 54-93.
52Vgl. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 229-262.
53Vgl. Macho: Vorbilder; Belting: Faces; Weigel (Hg.): Gesichter.
54Vgl. Autenrieth: Die Theatralisierung der Freundschaft.
55Vgl. Lister: The Photographic Image in Digital Culture; Larsen/Sandby: Digital Snaps.
56Vgl. Lunenfeld: Digitale Fotografie.
57Vgl. Nökel: Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam.
58Vgl. Greif (Hg.): Hipster; (Stand: 1. Juni 2018).
59Vgl. Kreutzer: Stigma „Kopftuch“; Korteweg/Yurdakul: The Headscarf Debate.
60Vgl. Belting: Florenz und Bagdad.
61Zur klassischen Ästhetik des Islams vgl. Kermani: Gott ist schön. Zu aktuellen Debatten und visueller Kultur vgl. Dornhof: Alternierende Blicke auf Islam und Europa.
62Vgl. Gutman: The Meanings of Macho.
63Vgl. Stecklina: „Kleine Jungs mit zu großen Eiern“.
64Vgl. Clarke: The Aesthetics of Social Aspiration.
65Vgl. Böhme: Fetischismus und Kultur; Museum Tinguely (Hg.): Fetisch Auto.
66Vgl. Wellgraf: Hauptschüler, S. 52ff.
67Vgl. Belting: Faces.
68Vgl. Marchart: Die Prekarisierungsgesellschaft.
69Vgl. Huxel: Männlichkeit, Ethnizität und Jugend; Wellgraf: Hauptschüler, S. 30ff., 61ff.
70Zu Dynamiken von Eskalation und De-Eskalation in Stilpraktiken vgl. Ege: „Ein Proll mit Klasse“, S. 340ff.
71Vgl. Willis: Learning to Labor.
72Vgl. Belting: Faces.
73Vgl. Thompson: Aesthetic of the Cool; Hooks: We real cool; Majors/Billson: Cool Pose; Maase: Das Recht der Gewöhnlichkeit.
74Vgl. Fanon: Black Skin, White Masks.
75Vgl. Helsper/Kramer/Thiersch (Hg): Schülerhabitus.
76Vgl. Melanie Mühl: Generation Porno? Zu wild, zu hart, zu laut, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.10.2014; Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hg.): Jugendsexualität im Internetzeitalter.
77Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hg.): Jugendsexualität. Fokus Bildungsdifferenzen.
78Vgl. Schiffauer: Migration und kulturelle Differenz, Bozkurt: Conceptualizing „Home“.
79Vgl. Schiffauer: Migration und kulturelle Differenz, S. 51.
80Vgl. Ege: „Ein Proll mit Klasse“, S. 421ff.
81Vgl. Nemer/Freeman: Empowering the Marginalized.
82Vgl. Burns: Self(ie) Discipline; Cruz/Thornham: Selfies beyond self-representation; Hess: The Selfie Assemblage.
83Vgl. Reichert: Amateure im Netz.