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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 14. Jahrgang, 2023, Heft 2: Paul Heyses Italien – eine interkulturelle Szenografie? (Matthias Bauer)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik – 14. Jahrgang, 2023, Heft 2

Paul Heyses Italien – eine interkulturelle Szenografie? (Matthias Bauer)

Paul Heyses Italien – eine interkulturelle Szenografie?

Matthias Bauer

Abstract

Paul Heyse has been neglected for many years. The article explores the potentials of rediscovering his Italian novellas with respect to intercultural relations. Specifically, the concept of scenography is used to identify narrative devices that frame the picture of Mediterranean landscape, people and culture in such a way that the complacent attitude of German visitors and readers is challenged.

Title

Paul Heyse’s Italy – an intercultural scenography?

Keywords

Italy; scenography; interculturality; novella; lector in fabula

Als 2021 Hans Pleschinskis Roman Am Götterbaum erschien, wurde die literarische Öffentlichkeit nach langer Zeit wieder einmal auf Paul Heyse aufmerksam. Auch wer nur den Klappentext las, erfuhr, dass es sich bei Heyse um einen »großen Vergessenen« handelt, den »ersten echten deutschen Literaturnobelpreisträger«,1 an den heute selbst in München, wo er die meiste Zeit seines umtriebigen Lebens zubrachte, nur noch der Name einer schäbigen Unterführung erinnert. In Pleschinskis Roman machen sich eine Stadträtin, eine Schriftstellerin und eine Bibliothekarin auf den Weg zu Heyses ehemaliger Villa, um sich dort mit einem schwulen Literaturwissenschaftler zu treffen. Gemeinsam wollen sie die Möglichkeit erkunden, diese Villa in ein Kulturzentrum zu verwandeln, doch vor Ort treffen sie Signor Grassi, den Leiter des Tourismusbüros der Kommune von Gardone Riviera, wo man soeben beschlossen hat, aus dem dortigen Anwesen des Dichters ein Centro culturale di Paul Heyse zu machen. »Paul Heyse war fast ein italienischer Dichter, meint Signor Grassi. Das Licht, der Glanz – […][.] Die Süße, die Leidenschaft seiner Dichtung sind italienisch, mediterran.« (Pleschinski 2021: 274)

Mediterrane Atmosphäre und melodramatische Affekte

L’Arrabbiata

Damit sind die entscheidenden Stichworte gefallen. Was Heyse für Signor Grassi beinahe zu einem italienischen Dichter macht, ist die mediterrane Atmosphäre seiner Texte. Als erste Probe aufs Exempel bietet sich die Novelle L’Arrabbiata an, die 1853 in Italien entstand, 1855 erstmals gedruckt wurde und mit einer Ortsbeschreibung einsetzt, in der sich zweifellos eine mediterrane Atmosphäre mitteilt:

Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Über dem Vesuv lagerte eine breite graue Nebelschicht, die sich nach Neapel hinüberdehnte und die kleinen Städte an jenem Küstenstrich verdunkelte. Das Meer lag still. An der Marine [sic!] aber, die unter dem hohen Sorrentiner Felsenufer in einer engen Bucht angelegt ist, rührten sich schon Fischer mit ihren Weibern, die Kähne mit Netzen, die zum Fischen über Nacht draußen gelegen hatten, an großen Tauen an Land zu ziehen. Andere rüsteten Barken, richteten ihre Segel zu und schleppten Ruder und Segelstangen aus den großen vergitterten Gewölben vor, die tief in den Felsen hineingebaut über Nacht das Schiffsgerät bewahren. (PH: 233)2

Obwohl diese Genreszene in der Dämmerung angesiedelt ist, weist sie typische Merkmale einer pittoresken Schilderung auf und dürfte zumindest denjenigen unter den zeitgenössischen deutschen Leserinnen und Lesern, die fern vom Meer in einer Stadt mit Fabriken und Gewerbeanlagen lebten, wie man sie um 1855 durchaus antreffen konnte, vergleichsweise romantisch anmuten. Heyse entspinnt aus der Genreszene einen Dialog, dessen Funktion vor allem darin besteht, zwei der drei Hauptfiguren der Novelle aus der Sicht von Nebenfiguren, einer älteren Frau und ihrer Tochter, einzuführen. Ins Bild treten so ein Pater mit dem sprechenden Namen Curato und der junge Antonio, der den Geistlichen nach Capri hinüberrudern soll. Die dritte Hauptfigur, auf die sich der Titel der Erzählung bezieht, der so viel wie ›weiblicher Trotzkopf‹ bedeutet, wird dann wiederum aus der Sicht dieser beiden Protagonisten vorgestellt. Eigentlich heißt das Mädchen Laurella; den Spott- und Spitznamen verdankt sie ihrer Weigerung, sich auf die Liebe einzulassen. Auf dem Weg nach Capri eröffnet Laurella dem Pater vertraulich den Grund ihrer Weigerung. Er liegt in der Gewalttätigkeit ihres Vaters gegen seine Gattin und ihrem klaglosen Erdulden von Schlägen und Küssen. »Wenn es so um Liebe ist, daß sie einem die Lippen schließt, wo man Hilfe schreien sollte, und einen wehrlos macht gegen Ärgeres, als der ärgste Feind einem antun könnte, so will ich nie mein Herz an einen Mann hängen.« (PH: 238f.)

Da der Geistliche über Nacht auf Capri bleibt, müssen Laurella und Antonio allein zur Küste zurück – eine für beide gleichermaßen unbehagliche Situation, die ihre Ursache in einem Vorfall hat, den der Erzähler in einer Rückblende vergegenwärtigt: Die schöne Laurella zog nämlich erst vor kurzem die Aufmerksamkeit eines neapolitanischen Malers auf sich, der jedoch durch Antonio unsanft aus seiner Verzückung gerissen wurde. Dies war im Dorf nicht unbeobachtet geblieben und hatte zu allerlei Gerede geführt, zumal der Maler meinte, Laurella hätte seine Werbung ausgeschlagen, da sie sich bereits dem unhöflichen Burschen versprochen habe. »Und nun saßen sie im Kahn wie die bittersten Feinde, und beiden klopfte das Herz tödlich.« (PH: 243) Unter dem Druck der aufgestauten Gefühle – der für ein Liebesmelodram notwendigen psychologischen Konstellation – kommt es auf dem offenen Meer, vor dem Hintergrund des Vulkans, zu einem Disput, der damit endet, dass Laurella Antonio in die Hand beißt und über Bord springt. Er wiederum stürzt hinterher und ruft: »Ich bin ein Toller gewesen; Gott weiß, was mir die Vernunft benebelte. Wie ein Blitz vom Himmel fuhr mir’s ins Hirn, daß ich ganz aufbrannte und wußte nicht, was ich tat und redete. Du sollst mir nicht vergeben, Laurella, nur dein Leben retten und wieder einsteigen.« (PH: 245)

Klimax und Antiklimax der Liebesaufwallung liegen bei Antonio dicht beieinander und bewirken eine Katharsis. Auch Laurella nimmt so weit Vernunft an, dass sie in die Barke zurückkehrt und Antonio ein Tuch zum Verbinden seiner blutenden Hand reicht. Gemeinsam, aber schweigend rudern sie an Land und trennen sich. Doch in der Nacht klopft sie mit Heilkräutern an die Tür seiner Behausung. Allerdings weigert sich Antonio das silberne Kreuz, das der Maler Laurella verehrt hatte, wie sie vorschlägt, zu verkaufen, um den Dienstausfall auszugleichen, der ihm aufgrund seiner Verwundung bevorsteht. Da sie es nicht wiederhaben will, entspannt sich erneut ein trotziges Hin- und Her. »So wirf es ins Meer« (PH: 249), sagt er, während sie insistiert, das Kreuz sei kein Geschenk, sondern nur, was ihm zu Recht zustehe. Er wiederum erklärt kategorisch, kein Recht auf irgendetwas von ihr zu haben. Vielmehr bitte er sie um den Gefallen, ihn nicht mehr anzusehen, falls sie einander noch einmal begegnen sollten. »Und nun gute Nacht, und laß es das Letzte sein.« (PH: 249) Bei diesen Worten beginnt Laurella zu zittern und zu weinen; sie wankt zur Tür, wendet sich jedoch plötzlich um und stürzt Antonio an den Hals. »Schlage mich, tritt mich mit Füßen, verwünsche mich! – oder, wenn es wahr ist, daß du mich lieb hast nach all dem Bösen, das ich dir getan habe, dann nimm mich und behalte mich und mach mit mir, was du willst.« (PH: 249) Natürlich schlägt er sie nicht, natürlich küssen sie sich und werden ein Paar, während Pater Curato die wunderliche Wandlung der vermeintlich Unnahbaren zu einander gleichermaßen leidenschaftlich wie glücklich Liebenden auf den Einfluss des Schöpfers zurückführt.

Erzähldramaturgisch ist Heyses erste italienische Novelle somit auf eine Auflösung angelegt, die heutzutage vor allem deshalb Bedenken weckt, weil die Kapitulation der Titelfigur vor ihren Gefühlen mit einer masochistischen Unterwerfungsgeste einhergeht. Diese Geste verstößt nicht nur gegen das moderne Bild der emanzipierten Frau, sondern – schlimmer noch – sie transfiguriert die traumatische Erfahrung, die Laurellas Kindheit infolge der sexualisierten Gewalt ihres Vaters geprägt hat und die ihr Verhalten bis zum Wendepunkt der Handlung motiviert, in einen erotischen Wunsch. Zeitgenössische Leserinnen und Leser haben keine Mühe, in der Zähmung der Widerspenstigen durch ihre eigenen Gefühle eine Männerfantasie auszumachen und die exaltierte Leidenschaft von Laurella und Antonio, insofern sie für Südeuropäer typisch sein soll, unter Klischeeverdacht zu stellen.

Allerdings kann man mit diesem Verdacht keineswegs alle italienischen Novellen Heyses abtun. Lässt sich in Das Mädchen von Treppi (1855) noch eine Variation von L’Arrabbiata erblicken, und steht auch noch in Die Einsamen (1857) die melodramatische Überwindung von starken Affekten, die der Liebe widerstreiten, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, so weist diese Novelle doch erstmals eine Vermittlungssituation auf, die es Heyse einige Jahre später, in Auferstanden (1866), erlauben sollte, Klischeevorstellungen in Frage zu stellen. In der Novelle Die Einsamen fungiert ein Deutscher als teilnahmsloser, aber einfühlsamer Beobachter der Szene. Dieser Deutsche ist ein angehender Schriftsteller, der sich von seinem Italienaufenthalt poetische Anregung erhofft und diese denn auch durch das melodramatische Geschehen erhält. Man könnte in diesem Plot den Ansatz einer Problematisierung des Erzählprogramms sehen, das Heyse in seinen ersten beiden italienischen Novellen verfolgt hatte, denn der Text schließt mit dem Hinweis, dass die Muse dem autor in fabula zwar erschienen sei. »Aber das Antlitz, das sie ihm zeigte, war streng und ehern und scheuchte bis weit über Mitternacht den Schlaf von seinem Haupt.« (PH: 309)

Damit streicht Heyse den Tenor seiner bisherigen italienischen Dichtung heraus. Die mediterrane Atmosphäre hat bei ihm einen düsteren Einschlag von Schwermut und Gewissensqual. Wichtiger noch als diese Offenlegung des melodramatischen Erzählprogramms am Ende der Novelle Die Einsamen dürfte jedoch die ironische Distanzierung sein, die der inzwischen 36-jährige Schriftsteller von diesem Programm vornimmt, indem er ein Alter Ego in die Geschichte einführt, das sich nach einem Stoff voller Leidenschaft sehnt, dann aber merkt, dass es selbst nicht unbetroffen bleiben kann, weil ihm die Sache näher als erwartet geht. Was in L’Arrabbiata noch operettenhaftes Spiel mit starken Affekten und vermeintlich typisch südländischer Hitzköpfigkeit war, erhält in der Novelle Die Einsamen eine Ernsthaftigkeit, die zwar immer noch melodramatisch verhandelt wird, nun aber auch die Position des Fremden in Mitleidenschaft zieht, der von außen auf die Menschen in Italien blickt.

Kurzporträt eines Vergessenen

Heyse lernte Italien erstmals 1852 auf einer Studienreise kennen, die er an der Seite des Vergil-Forschers Otto Ribbeck unternahm, um in Rom provenzalische Handschriften zu untersuchen. Kein Geringerer als Jacob Burckhardt führte ihn durch die ewige Stadt. Nach einem Besuch bei seinem Onkel Theodor, einem Catull-Übersetzer, hielt sich Heyse 1853 in Süditalien auf, wo neben L’Arrabbiata jene Gedichte entstanden, die später unter dem Titel Idyllen von Sorrent publiziert wurden. Vor seiner Reise hatte Heyse, dessen Vater in Berlin als Professor für vergleichende Sprachwissenschaften und als Erzieher in den Häusern Mendelssohn-Bartholdy und Wilhelm von Humboldt tätig war und dessen Mutter aus der jüdischen Bankiers- und Juweliersfamilie Saaling stammte, eine Dissertation über den Refrain in den französischen Troubadour-Dichtungen verfasst und nähere Bekanntschaft mit Theodor Storm und Theodor Fontane geschlossen.

Nach der Rückkehr von seiner ersten Italienreise, der zahlreiche weitere folgen sollten, wurde Heyse durch Vermittlung Emanuel Geibels von König Maximilian II. mit einer Jahrespension von 1000 Gulden an den bayrischen Hof berufen. Damit war der junge Autor ein gemachter Mann, der es sich aufgrund seines Erfolgs beim zeitgenössischen Publikum einige Jahre später sogar erlauben konnte, aus Protest gegen Geibels Verbannung auf diese Pension zu verzichten (vgl. Moissy 1981). Heyse hat nicht nur mehrere Romane und Theaterstücke, zahllose Gedichte und rund 180 Novellen verfasst, er hat darüber hinaus spanische, französische und italienische Texte ins Deutsche übertragen und zudem ab 1871 über viele Jahre außer dem Deutschen Novellenschatz (anfänglich zusammen mit Hermann Kurz) auch den Novellenschatz des Auslandes herausgegeben. Er war ein ungemein wichtiger, unermüdlicher Literaturvermittler, ein Bildungseuropäer und in den Augen seiner Zeitgenossen dank seines Einsatzes für die Emanzipation der Frauen, für Mädchenschulen, für Aufführungstantiemen und für weniger betuchte Kolleginnen und Kollegen – darunter Wilhelm Raabe – eine moralische Instanz (vgl. Bauer 2019).

Heyse war aufgrund seiner gefälligen Sprache und des melodramatischen Zuschnitts seiner Erzählkunst aber auch derjenige, den die nachfolgende Generation der Naturalisten besonders scharf attackierte und von dessen Werk nach seinem Tod 1914 fatalerweise nur die berühmt-berüchtigte Falkentheorie der Novelle übrig geblieben ist, die Heyse an einer Geschichte aus Boccaccios Decamerone entwickelt hatte und die sich daher im Schulunterricht am besten an dieser Geschichte veranschaulichen lässt – ohne auch nur auf eine der vielen Novellen eingehen zu müssen, die aus Heyses Feder stammen.

Die Frage lautet somit, ob es Gründe gibt, Heyses Werk aus der Versenkung zu holen. Welche seiner Novellen soll man lesen und warum? Kann man sich für sie vielleicht nur noch aus touristischen Gründen erwärmen, wenn man in Italien, wie Signor Grassi, für die Fremdenverkehrswerbung zuständig ist? Oder bietet Heyses erzählerisches Werk über das Atmosphärische und Melodramatische hinaus gar einen Gegenstand, den zu untersuchen sich aus Sicht der Interkulturalitätsforschung lohnt? Im Rahmen dieses Beitrags lässt sich diese Frage nur exemplarisch und vorläufig durch eine Analyse von Auferstanden beantworten. Dieser Text ist schon deshalb aufschlussreich, weil er in erzähldramaturgischer und rezeptionsstrategischer Hinsicht die Konsequenzen aus Heyses selbstkritischer Haltung zu seiner frühen Italien-Novellistik zieht. Er eignet sich aber noch aus einem anderen Grund für eine eingehendere Betrachtung, weil sich an ihm die Relevanz belegen lässt, die der transdisziplinäre Begriff der Szenografie für die literaturwissenschaftliche Interkulturalitätsforschung beanspruchen kann.

Was ist eine interkulturelle Szenografie?

Der Begriff der Szenografie rekurriert auf ein Zusammenspiel von Schauplatz (place), Drehbuch (script) und Verständnisrahmen (frame), das medienspezifisch ausbuchstabiert werden muss und dergestalt mit Blick auf Theaterstücke wie Erzähltexte, Bilder und Bilderfolgen oder Filme, ja selbst mit Blick auf Architektur und Ausstellungsdesign analytisches Potential gewinnt. Im Gegensatz zu seinem engen Verständnis als ›Bühnenbild‹ geht der an der Schnittstelle von Kognitionswissenschaft, Narratologie und Soziologie geprägte, erweiterte Begriff der Szenografie davon aus, dass jeder kulturelle Ort mit einem Handlungswissen verknüpft ist. Das simple Beispiel, das Umberto Eco (vgl. 1987) in seiner Abhandlung Lector in fabula (zuerst 1979) verwendet, ist der ›Supermarkt‹. Man weiß, was es an diesem Ort zu kaufen gibt und wie man sich dort in der Rolle von Kundin oder Kunde verhält. Man hat also einen pragmatischen Verständnisrahmen, folgt beim Einkauf einem bestimmten Drehbuch und verwechselt diesen Ort daher auch nicht mit anderen Schauplätzen des täglichen Lebens. Dank der genuinen Verbindung von place, frame und script ist jede Szenografie, wie Eco schreibt, »immer ein virtueller Text oder eine kondensierte Geschichte« (ebd.: 100; Hervorh. i.O.). In der Szenografie des Supermarkts steckt eine ganze Kulturgeschichte des Warenhandels, aber auch ein Universum möglicher Geschichten. Der Supermarkt kann ausgeraubt, Schauplatz einer Romanze oder eines Sozialdramas werden usw. Nun kommen Geschichten, da es für sie wesentlich ist, Übergänge von einer Situation zu anderen zu schildern, kaum mit einem Verständnisrahmen aus. Charakteristisch ist für sie daher, was sie mit dem Verständnis des Alltagslebens verbindet, wie es der Soziologie Erving Goffman beschrieben hat: die beständige Modulation der primären Verständnisrahmen, die dazu dienen, eine aktuell gegebene Situation sinnvoll zu erleben (vgl. Goffman 1977: 31–97).

Nicht anders ist es denn auch in Heyses Novellen. Interkulturell wird ihr szenografischer Zuschnitt freilich erst durch die Begegnungen, von denen sie handeln – Begegnungen, wie man sie außer in den Novellen Die Einsamen und Auferstanden auch in den Novellen Die Strickerin von Treviso (1868) und in Die Frau Marchesa (1876) finden kann. Diese Begegnungen lassen sich zum einen in der diegetischen Welt sowie zum anderen in der Interaktion von Text und Leserinnen und Leser lokalisieren. Unter der Voraussetzung, dass Heyse seine am Mittelmeer spielenden Geschichten für das deutschsprachige Publikum nördlich der Alpen geschrieben hat und sowohl um die kulturelle Bedeutung Italiens in Goethes Heimat als auch um die mit ihm verbundenen Stereotypen wusste – etwa um das Stereotyp, demzufolge Südländer nun einmal so hitzköpfig wie die Titelfigur in seiner L’Arrabbiata-Novelle sind –, unter dieser Voraussetzung also soll im Folgenden das Zusammenspiel von Schauplatz, Verständnisrahmen und Drehbuch in Auferstanden untersucht werden.

Exemplarische Analyse

Auferstanden

Die Erzählung Auferstanden setzt ohne Umschweife mit der Beschreibung des Schauplatzes ein:

In den südlichen Abhängen der Tiroler Berge, in die der Gardasee tief hineintritt, liegt ein altes Felsenschlößchen, kühn an die schroffe Bergwand geklebt, wie ein Möwennest an eine vorspringende Klippe, und so günstig gerade an die Stelle gebaut, wo die Talschlucht eine Biegung macht und sich verengt, daß eine Handvoll entschlossener Leute mit einigen sicheren Geschützen auch heute noch imstande wäre, einem von Süden heranziehenden Korps den Paß zu verlegen. (PH: 310)

Den Leserinnen und Lesern wird mit diesen Worten ein Ort (place) in Norditalien vor Augen gestellt, der nicht nur durch den Vergleich mit einem ›Möwennest‹, sondern auch dadurch gerahmt (frame) wird, dass der Erzähler einen virtuellen Text, nämlich das Drehbuch (script) einer militärischen Aktion, einer Verteidigung des Gebirgspasses, auf den Plan ruft. Wenn es dann weiter heißt, die »bezinnten Umfassungsmauern« trügen noch immer »vernarbte Spuren erbitterter Kämpfe, die freilich in der Erinnerung des Landvolkes längst erloschen sind« (PH: 310), gilt auch für diese Szenografie, dass sie als virtueller Text (zukünftige kriegerische Auseinandersetzungen) wie als kondensierte Geschichte (vergangener Kampfhandlungen) aufgefasst werden kann. Dieser Verständnisrahmen erhält eine erste Modulation, wenn der Erzähler den Schauplatz in den Chronotopos der Realhistorie einbettet: »Damals war, wie jeder weiß, die Lombardei, in deren geographisches Gebiet dieses Tal schon hinabreicht, noch österreichische Provinz, und wenige ließen sich träumen, wie bald diese Perle aus der Krone des Hauses Habsburg herausgebrochen werden sollte.« (PH: 310)

Die Novelle muss also kurz vor dem Jahre 1859 spielen, als die Lombardei, die 1815, nach dem Wiener Kongress, an Österreich gefallen war, an das Königreich Italien abgetreten werden musste. Allerdings gibt es schon vor diesem Zeitpunkt atmosphärische Verwerfungen zwischen den Bewohnern und denjenigen, die aus dem Norden anreisen, so dass die erste interkulturelle Begegnung, die der Text schildert, »zu keiner sehr ersprießlichen Unterhaltung« (PH: 310) führt:

Zwar hatte der stattliche junge Deutsche, dem der welsche Bauernbursch als Führer und Träger diente, die österreichische Hauptmannsuniform wohlweislich in Riva mit einem leichten bürgerlichen Habit und das Käppi mit einem breiten Strohhut vertauscht und sprach überdies die Landessprache so fließend, als sei er mit Wasser aus dem Gardasee getauft worden. Aber in Gang und Haltung konnte er dennoch den kaiserlichen Offizier nicht verleugnen, und gerade die Zivilkleidung schien seinem verdrossenen Begleiter geheime Absichten zu verraten, die ihn noch einsilbiger machten. (PH: 310f.)

Dieses Misstrauen ist nur zu berechtigt, denn der Deutsche ist tatsächlich gekommen, um das Tal unter militärischen Gesichtspunkten zu erkunden. Doch bevor die Leserinnen und Leser von diesem Auftrag erfahren, verweist der Erzähler sie auf den unheimlichen Eindruck, den das Kastell auf den jungen Mann macht: »[A]uf beiden Seiten neben dem Haupttore, zu dem die alte Zugbrücke steil hinanlief, standen je drei alte Zypressenbäumchen, die dem fensterlosen Mauerhaufen das Ansehen eines verwitterten Mausoleums gaben und jeden Lebendigen von dieser Schwelle wegzuweisen schienen.« (PH: 311)

Offenkundig beherrscht Heyse die Erzähldramaturgie von foreshadowing und payoff, die heute in jedem Workshop zum Drehbuchschreiben gelehrt wird. Bedrohliche Ereignisse werfen in Gestalt des Kastells ihren Schatten voraus und regen die antizipierende Fantasie der Leserinnen und Leser an, zumal die Bezeichnung des Kastells als Mausoleum in Verbindung mit dem Titel der Novelle – Auferstanden – stehen dürfte. Nachdem aus dem immerhin schon ungemütlich an einem Felsen klebenden »Möwennest« ein ›Grabmal‹ geworden und der erste Verständnisrahmen der Szene nachhaltig moduliert worden ist, wird das Unheimliche erst einmal nach allen Regeln der Kunst gesteigert. Dem jungen Offizier öffnet ein Einäugiger, dessen eine Gesichtshälfte durch Schmerzen und dessen andere Gesichtshälfte durch die Wut über diese Schmerzen verzerrt wird und der sich im weiteren Verlauf der Handlung als durchtriebenes Faktotum des Hausherrn erweist. Dieser wiederum stellt eine äußerst würdige Erscheinung und nach dem Bauernburschen und Taddeo, dem einäugigen Pförtner, den dritten Italiener dar, dem der Deutsche begegnet. Umstandslos kommt der Gast zu seinem Anliegen und erklärt:

Es ist mir nun der Auftrag geworden, zunächst die alten Generalsstabskarten dieser Gegend einer genauen Revision zu unterwerfen und einige andere Punkte auf ihre fortifikatorische Bedeutung zu untersuchen, dann aber Ihnen, Herr Marchese, die Frage vorzulegen, ob und unter welchen Bedingungen Sie sich entschließen würden, Ihren Besitz an die Regierung des Kaisers abzutreten. (PH: 314f.)

Als der Marchese ebenso umstandslos erwidert, dass er unter keinen Umständen gesonnen sei, das Kastell zu veräußern, ist die Mission des Hauptmanns im Kern bereits gescheitert. Er hat allerdings eine Rückzugsoption, die darin besteht, nur das Umfeld für eine Befestigung durch kaiserliche Truppen zu erkunden und seinem Gastgeber zu versichern, dass dessen Anwesen wohl nicht unter das Expropriationsgesetz falle, das es dem Staat erlaube, Hand auf seinen Besitz zu legen. Der Deutsche bleibt also und entdeckt von einem Saal neben seinem Turmzimmer aus eine junge, von einem alten Weib versorgte, offenbar kränkliche Frau. Damit setzt die eigentliche Handlung ein. Der Protagonist meint nämlich, diese Frau schon einmal andernorts zu einer Zeit gesehen zu haben, in der sie, wie es wörtlich heißt, »noch in Lebensfreude blühte« (PH: 320), und kann sich ihren Zustand nicht anders als mit dem Eintritt eines großen Unglücks erklären. Er wähnt daher, sie werde gegen ihren Willen auf dem Kastell festgehalten.

Immer mehr verdichtet sich die Szenografie des abgelegenen Kastells daher im Fortgang der Erzählung auf das Drehbuch der Befreiung dieser Dame – ein Skript, das nicht nur an einen Topos der vormodernen Ritter- und Abenteuerliteratur anknüpft, sondern auch den Gattungskonventionen des Unterhaltungsromans entspricht, an dem sich das bürgerliche Publikum des 19. Jahrhunderts delektierte – vorzugsweise, wenn das Lesevergnügen mit einem Einblick in die moralischen Abgründe höhergestellter Persönlichkeiten oder in die Lebensumstände zivilisatorisch tieferstehender, vermeintlich ›wilder‹ Völker verbunden war. Die Figurenkonstellation in Heyses Novelle – ein jedweder Geselligkeit abholder Marchese, ein zwielichtiges Faktotum, eine junge Personifikation der verfolgten Unschuld und eine Alte, deren Vertrauen der ritterlich gesinnte kaiserliche Offizier gewinnt – unterstützt diese melodramatische Lesart der vorliegenden Szenografie und birgt in sich den virtuellen Text einer Flucht, auf der sich die Dame und ihr Retter klischeegerecht ineinander verlieben müssen.

Heyse legt diese Fährte mit Hilfe der Alten sorgsam aus, die dem Protagonisten die Vorgeschichte der Novelle enthüllt. Demzufolge hatte die junge Frau geahnt, dass ihre Verheiratung mit dem Marchese zu einem Unglück führen würde, da es mit ihrem Vetter Gino einen ernst zu nehmenden Nebenbuhler gab. Die Erzählung der Alten legt die Vermutung nahe, dass der Dieb, der eines Nachts in die Stadtvilla des Marchese eingedrungen war und von Taddeo unter Verlust eines Auges vertrieben wurde, eben jener Gino war und dass die Schwermut seiner Cousine der Vereitelung ihrer Liebe und dem Rückzug in das uneinnehmbare Kastell geschuldet ist, wo sich ihr Zustand dann noch einmal durch den Empfang eines Briefes verschlechtert habe. »[D]arin stand, daß Gino in Paris leichtsinnige Streiche gemacht und sich mit einem Franzosen duelliert habe, weil beide einer Tänzerin den Hof machten, und Gino habe eine Kugel in die linke Schläfe bekommen und sei augenblicklich tot geblieben.« (PH: 336)

Vordergründig betrachtet, passt diese Wendung zum erwartbaren Plot, denn das Duell ist eine Standardsituation des melodramatischen Liebes- und Abenteuerromans. Zudem wird durch Ginos Tod der Weg für den kaiserlichen Offizier frei, könnte man denken. Genau besehen, wird diese Lesart jedoch durch Ginos Interesse an einer Tänzerin irritiert. Sein Techtelmechtel in Paris wirft ein bedenkliches Licht auf seine Liebe zu der Frau des Marchese und die Lauterkeit seiner Motive. Tatsächlich wird denn auch der Protagonist argwöhnisch, als ihn die Alte bittet, der Mutter der Unglücklichen heimlich einen Brief zukommen zu lassen, sofern die Frau Marchese endlich einwillige, diesen zu schreiben, was sie bislang nicht getan habe. »Wer weiß, ob ich damit das Unglück nicht ärger machte? Denn daß die Frau Marchese selbst nie daran denkt, die Mutter zu Hilfe zu rufen, ist mir verdächtig. In Händel zwischen Eheleuten soll man sich nicht mischen ohne höchste Not.« (PH: 338)

Bevor er sich weiter in die Sache verwickeln lässt, will der Deutsche die Frau des Marchese daher persönlich treffen. Bei dieser Lage der Dinge wechselt der Fokus der Erzählung. Die Leserinnen und Leser erfahren nun, wie Taddeo, der alles mitbekommen hat, seinen Herrn informiert. Doch der Marchese weigert sich, das Treffen zwischen seiner Frau und dem Deutschen zu verhindern. Als es somit zustande kommt, verlangt sie entschieden, dass er nicht länger in ihr Leben eingreife (vgl. PH: 345). Dennoch dringt der Offizier in einem Brief auf sie ein, ihr Leben nicht verloren zu geben. Diesen Brief händigt die Adressatin ihrem Gatten aus, der sich anschickt, das Kastell für eine Weile zu verlassen, und sagt über den Absender:

Nun hat eine törichte, fast wahnsinnige Teilnahme an meiner Lage, die er doch nur von außen kennt, ihn so kühn gemacht, mir zu schreiben – diesen Brief. Lest ihn, mein Gemahl. Er wird Euch überzeugen, daß ich mich hier nicht sicher fühlen würde, wenn Ihr mich mit diesem überspannten Mann allein ließet. (PH: 354)

So wird aus dem vermeintlich edlen Ritter ein Agent der romantischen Fantasie, die Heyses Leserinnen und Leser womöglich hegen, die sein Text jedoch nachdrücklich düpiert. Aus dem Gespräch zwischen dem Marchese und seiner Frau geht unmissverständlich hervor, dass die Ursache ihrer Ehekrise »ein kindischer Trotz« (PH: 355) war, den sie gegen seine Güte hegte. Der Trotz ist ein in Heyses italienischen Novellen, angefangen bei L’Arrabbiata, beständig wiederkehrendes Motiv, das auch in Auferstanden zur Begründung jener Entfremdung herhalten muss, welche die einander wahrhaft Liebenden überwinden müssen. Als ihnen dies gelungen ist, kehrt die Erzählung zu dem Deutschen zurück, der nunmehr einen klaren Entschluss fasst:

Sein nächstes Geschäft in dieser Gegend war mit der Weigerung des Marchese, seinen Besitz zu verkaufen, so gut wie erledigt, denn die Rekognoszierung, die er gestern angestellt, hatte seinem geübten Blick bald gezeigt, daß jede Befestigung des Passes, die das Kastell nicht in ihren Plan aufnähme, eine vergebliche Arbeit sei. (PH: 358)

Von der Alten erfährt der Deutsche noch, dass der Marchese und seine Frau erneut den Segen der Kirche erhalten haben, und von seinem Gastgeber selbst erhält der Offizier die schriftliche Mitteilung: »Ihr seid ein Ehrenmann. Ihr werdet wissen, was Ihr der Gastfreundschaft schuldig seid. Lebt wohl!« (PH: 360)

Diesem Appell entspricht der Deutsche, als er am Ende der Geschichte in einem See bei Riva die Uhr versenkt, die er unterhalb des Kastells in den Klippen gefunden hat. Es ist Ginos Uhr, die der Marchese dorthin geworfen hatte. Hier soll es aber nicht um dieses Dingsymbol, den Falken in Heyses Novelle, sondern um die Frage nach der interkulturellen Bedeutung der Geschichte und das kritische Potential von Heyses szenografischem Schreiben gehen.

Ausschlaggebend für die Verknüpfung der beiden Funktionen, die sich aus dem Zusammenspiel von Schauplätzen, Verständnisrahmen und Drehbüchern in der diegetischen Welt und in der Interaktion von Text und Leser ergibt, ist der Umstand, dass der Protagonist mit einer Aufgabe betreut ist, in der sich die Rolle der Leserinnen und Leser von Heyses Novelle reflektiert. Der Rekognoszierungsoffizier ist ein lector in fabula – allerdings ein solcher, der das zentrale Drama nur von außen in der Version der Alten kennt; genauso wie empirische Leserinnen oder Leser. Der Offizier denkt sich in dem Maße in die Geschichte der Kastellbewohner ein, in dem sie der Legende der Alten zu folgen scheint, und erkennt erst, als er sich bereits tief in diese Lesart verstrickt hat, dass die Geschichte einer anderen Auslegung bedarf. Strukturanalog verhält es sich mit dem virtuellen Text der melodramatisch motivierten, romantisch grundierten Befreiungsaktion, die sich in der Fantasie einer empirischen Leserin oder eines empirischen Lesers entspinnt, bis die Frau des Marchese, ihre Passivität bzw. ihren Trotz überwindend, die Initiative ergreift und sich ihrem Gatten anvertraut, was wiederum die Voraussetzung für die Erneuerung der Ehe bildet. Auch die Szenen, die sich zwischen dem Marchese und seiner Gattin abspielen, sind melodramatisch und tief romantisch. Nur kommt es eben auf die Pointe an:

Wenn der deutsche Protagonist eben noch rechtzeitig erkennt, worin seine Pflicht und Schuldigkeit als Gast und Ehrenmann besteht, so kann die deutsche Leserschaft der italienischen Novelle bemerken, wie sehr ihr eine Zurückhaltung im moralischen Urteil über Fremde und ein Verzicht auf alle Überspanntheiten geziemt, die bei näherer Betrachtung auf Fehl- und Kurzschlüssen von außen beruhen. So anmaßend wie das Expropriationsgesetz, mit dem sich ein Habsburger Herrscher die Gewalt über das Kastell oder die Lombardei zu verschaffen versuchte, so anmaßend ist die Deutungshoheit über Verhältnisse, die man nicht ausreichend erkundet hat. Zielt die Interaktion von Text und Leser dergestalt auf eine Rekognoszierung der Verhältnisse, läuft das Drehbuch, das der Autor für seine Rezipienten vorgesehen hat, statt auf die Bestätigung der üblichen Verständnisrahmen, aus denen die Vorurteilsstruktur des Publikums besteht, wenn nicht auf ihre Widerlegung, so doch zumindest auf ihre Infragestellung hinaus. Bedingung hierfür ist, dass die empirische Leserin oder der empirische Leser zu jenem Part des lector in fabula, der anhand einer fiktiven Figur durchgespielt, auf – letztlich selbstkritische – Distanz gehen.

Weiterführende Überlegungen

Wie steht es nun mit den übrigen italienischen Novellen Heyses? Andrea Delfin (1859), seine vielleicht bekannteste, ist dem Umfang nach ein kleiner historischer Roman, der im Jahre 1762 in Venedig spielt und die Geschichte einer Racheaktion schildert, die an der Verwechslung eines Schuldigen mit einem Unschuldigen scheitert. Insofern dieses Opfer ein junger, allzu leutseliger Mann aus Österreich ist, findet auch in der diegetischen Welt dieser Novelle eine interkulturell kodierte Begegnung statt – allein der Akzent der Erzählung liegt ganz und gar auf der Inszenierung und Problematisierung des Vergeltungsplanes und seiner moralischen Fragwürdigkeit. Die Frau Marchese und Die Strickerin von Treviso wurden bereits kurz angesprochen. Diese beiden Texte sind für die literaturwissenschaftliche Interkulturalitätsforschung insofern ergiebiger, als in der ersten dieser beiden Novellen ein aus Deutschland stammender Ich-Erzähler auftritt und die zweite eine Rahmenhandlung bietet, die von einer Hotelgemeinschaft handelt, aus deren Gesprächen sich die titelgebende Binnengeschichte entwickelt. Hier wie dort wird also eine Erzählposition der Außerhalb-Befindlichkeit etabliert, die sich – das ist das Entscheidende – weder auf der Ebene der Diegese noch auf der Ebene der Interaktion von Text und Leser uneingeschränkt aufrechterhalten lässt. Wie so häufig bei Heyse beginnt Die Frau Marchese mit einem Landschaftstableau: »An der schönen östlichen Küste des Ligurischen Meeres, ziemlich genau in der Mitte zwischen Genua und La Spezia, tritt ein steiles Vorgebirge, von herrlichen Pinien überschattet, in die blaue Seeflut hinaus, das niemand, der vorzeiten diese Straße zog, unbesucht ließ.« (PH: 436)

Der Ich-Erzähler dieser Novelle wird durch seine Distanzierung von den üblichen Italien-Touristen profiliert, die keine Muße und keine Antenne für das haben, was jenseits der üblichen, vorgespurten Reiserouten liegt:

Seitdem ein Schienenweg längs dieser berühmten Riviera di Levante hinführt, mit zahllosen Tunneln, zwischen denen man nur auf kurze Strecken einen fast traumhaften Blick auf die vielzerklüfteten Ufer mit weißen Städtchen und grauen Schlössern zu werfen vermag, ist das Vorgebirge von Sestri verödet und verschollen. Die hastigen neuen Menschen, die ›Italien in fünfzig Tagen‹ kennenzulernen wünschen, haben kaum für das Zeit, was sie die Hauptpunkte nennen. (PH: 436)

Von diesen neuen Menschen, die immerhin noch fünfzig Tage zum Kennenlernen von Italien hatten – wer könnte sich heute so lange Urlaub nehmen? –, hebt sich der Ich-Erzähler mit der Bemerkung ab: »Mich hatte, außer meinen Jugenderinnerungen, gerade die tiefe Einsamkeit dieser Stätten gelockt, da ich vor Jahr und Tag als ein ruhebedürftiger Mensch mich in den Süden flüchtete.« (PH: 437)

Der Erzähler wird also durch Alter, Einstellung und intime Landeskenntnisse von der umtriebigen Touristenschar abgegrenzt und dadurch für eine Erfahrung freigesetzt, die jenen entgeht, die sich nur auf die allseits bekannten Sehenswürdigkeiten Italiens stürzen. Er lernt auf seinen einsamen Erkundungsgängen jenseits der üblichen Reiserouten eine alte Frau kennen, durch die er vom tragischen Schicksal ihrer Tochter erfährt. Ohne hier näher auf dieses Schicksal einzugehen, lässt sich sagen, dass die Erzählung ganz und gar auf eine empathische Lesart des Liebesunglücks geeicht ist, von dem sie handelt, und dass es für diese Lesart im Grunde keine Rolle spielt, ob die Geschichte in Italien oder andernorts angesiedelt ist. Diese Feststellung soll aber nicht negativ verstanden werden. Dem Schauplatz nach ist Die Frau Marchese zwar eine italienische Novelle, ihrem Sinn nach jedoch eine allgemein gültige Problematisierung jener Bereitschaft zur Entsagung, die im 19. Jahrhundert ungerechterweise Frauen stärker als Männern abverlangt wurde. Entscheidend mit Blick auf ihre interkulturelle Bedeutung ist die Überwindung der Außerhalb-Befindlichkeit des homodiegetischen Erzählers, der sich bemüht, Italien von innen her kennenzulernen.

In der Novelle Die Strickerin von Treviso versucht der Binnenerzähler mit seiner Geschichte insbesondere jene Dame unter seinen Zuhörern zu beeindrucken, die es ihm mehr als andere angetan hat. Die Ausgangslage spielt von Ferne auf die Erzählsituation in Boccaccios Decamerone an. Hat sich dort eine adlige Gesellschaft vor der Pest aus Florenz auf einen Landsitz zurückgezogen, um sich die Zeit bis zur Rückkehr in die Stadt mit zum Teil tragischen, zum Teil komischen oder frivolen Novellen zu vertreiben, wird bei Heyse eine kleine Schar von Fremden durch schlechtes Wetter dazu gezwungen, mehrere Tage in einem Landhaus zu verbringen. Schon am dritten Tag dieser vergleichsweise harmlosen Verbannung »beschlich die Herzhaftesten in der Arche eine zaghafte Ahnung, daß die Sintflut einen längeren Atem haben möchte, als ihr Humor« (PH: 475). Umso begieriger lauscht die Gesellschaft jener Geschichte von der blonden Giovanna, der Strickerin von Treviso, die ein gewisser Eminus, angeblich aus einer alten Chronik vorlesend, zum Besten gibt. Da er sich als »Mann des ungemütlichen Mittelalters, wenn auch nicht im Sinne der Romantik« (PH: 478), bezeichnet, liegt allerdings die Vermutung nahe, dass er selbst die Erzählung in altertümlichem Stil verfasst hat und aus seinem eigenen Manuskript vorträgt. Man kann darin ein Bekenntnis Heyses zu der Vorstellungswelt sehen, die seine Novellistik stärker als die Gegenwart inspiriert hat, deren Darstellung sich der von Fontane sogenannte Zeit-Roman im Realismus und Naturalismus verschrieben hatte. Heyses Vorstellungswelt war der eines C.F. Meyer und insofern dem Historismus näher als der Moderne. Jedenfalls erkennen die Zuhörer, worauf Eminus mit seiner Erzählung abzielt. Zum einen will er – wie wohl auch Heyse selbst – »einmal ein Bild mit ganzen Farben neben unsere gebrochenen Färbchen stellen« (PH: 499); zum anderen will er vor allem Frau Eugenie aus ihrer Reserve locken und fragt daher, was sie von der Sittlichkeit der Geschichte halte. »Die Angeredete sann einen Augenblick nach, dann sagte sie: Ich weiß nicht, ob man überhaupt davon reden kann, einen so merkwürdigen Fall als Muster und Vorbild aufzustellen. Und haben nicht auch andere Zeiten andere Sitten und andere Völker ein anderes Gemüt?« (PH: 499)

Dann geht sie kurz, aber verständig auf die Geschichte der blonden Giovanna ein, die hier nicht zur Debatte steht. In ihrer Einlassung kann man die Quintessenz von Heyses Literatur-Italien sehen. Es ist die Erkenntnis einer Alterität, die sich den eigenen (moralischen) Maßstäben entzieht, gleichwohl jedoch eher merkwürdig als befremdlich wirkt und von daher, vermittelt durch die empathische Lesart, die durch melodramatische Affekte angebahnt wird, die Ausbildung oder Weiterentwicklung spezifischer Sensibilitäten ermöglicht. Voraussetzung hierfür ist, dass die interkulturelle Szenografie wie in Auferstanden selbstkritisch auf den vertrauten Blickpunkt von außen bezogen wird. Dort, wo dies geschieht, geht die Interaktion von Text und Leser über das oberflächliche Vergnügen an der mediterranen Atmosphäre des Schauplatzes und den melodramatischen Drehbüchern hinaus, denen die Ereignisschilderung verpflichtet bleibt, kommt es zu jener Infragestellung der üblichen Verständnisrahmen, die der Interaktion von Text und Leser epistemologische Relevanz verleiht.

Es ist, mit anderen Worten, die Relation zwischen den interkulturellen Begegnungen in der diegetischen Welt und der Rolle, die für den lector in fabula vorgesehen ist, dank der sich eine nähere Beschäftigung mit Heyses italienischen Novellen lohnt, zumal diese Relation vermutlich auch in Texten anderer Autorinnen und Autoren gefunden werden kann, die Fremdheitserfahrungen behandeln. Entscheidend ist dabei der sich in der Interaktion von Text und Leser vollziehende Übergang von der vorurteilsbefangenen Außerhalb-Befindlichkeit zur einfühlsamen Erkundung der szenografisch dargebotenen Verhältnisse und Verhaltensweisen.

Anmerkungen

1 Heyse erhielt den Literaturnobelpreis 1910. 1902 hatte man diese Auszeichnung dem Historiker Theodor Mommsen für seine Römische Geschichte und 1908 dem Philosophen Rudolf Eucken zuerkannt; 1912 folgte auf Heyse dann als zweiter Verfasser fiktionaler Texte in deutscher Sprache Gerhart Hauptmann.

2 Alle Seitenangaben unter der Sigle PH beziehen sich auf Heyse 1980.

Literatur

Bauer, Matthias (2019): Paul Heyse. In: Ders./Harald Hohnsbehn/Iulia-Karin Patrut (Hg.): Fontane und die Realisten. Weltgehalt und Eigensinn. Würzburg, S. 137–166.

Eco, Umberto (1987): Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. Übers. v. Heinz-Georg Held. München/Wien.

Goffman, Erving (1977): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Übers. v. Hermann Vetter. Frankfurt a.M.

Heyse, Paul (1980): Werke. Bd. 1: Gedichte. Spanisches Liederbuch. Italienisches Liederbuch. Italienische Novellen. Troubadour-Novellen. Mit einem Essay v. Theodor Fontane. Hg. v. Bernhard Knick, Johanna Knick u. Hildegard Korth. Frankfurt a.M.

Moissy, Sigrid von (1981): Paul Heyse. Münchner Dichterfürst im bürgerlichen Zeitalter. Ausstellung in der Bayerischen Staatsbibliothek 23. Januar bis 11. April 1981. Unter Mitarb. v. Karl Heinz Keller. München.

Pleschinski, Heinz (2021): Am Götterbaum. Roman. München.

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