1. Die Geistes- und Sozialwissenschaften müssen sich enger an die Gesellschaft koppeln
Die Menschheit sieht sich gerade mit einem komplexen Geflecht ineinander verwobener Krisen konfrontiert: der ökologischen Krise; verschiedenen Wirtschaftskrisen (von Finanzkrisen bis hin zu wachsenden Ungleichheiten); der geopolitischen Krise; der Energiekrise; der durch geopolitische Katastrophen drohenden Flüchtlingskrise; der Krise des Gesundheitswesens; und der immer noch andauernden Coronavirus-Krise. Diese Krisen sind systemisch und global und werden von den verschiedenen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren auf sehr unterschiedliche Weise wahrgenommen. Sie bringen ökologische, wirtschaftliche, gesundheitliche, soziale und politische Risiken mit sich, die grundsätzliche Fragen zu den derzeit maßgeblichen Modellen aufwerfen, die definieren, was als erfolgreiche und normativ wünschenswerte Entwicklung betrachtet werden soll.
Eine Krise bedeutet nicht nur, dass irgendetwas nicht stimmt, dass es ein allgemeines oder gar sehr großes Problem gibt. Krise, vom griechischen krisis, meint Entscheidung; eine Krise ist ein Wendepunkt, der ein Eingreifen erfordert, um eine Katastrophe zu vermeiden. Eine Krise ist also ein normativ aufgeladener Wendepunkt. Ihr Ausgang hängt von der menschlichen Entscheidungsfindung unter den Bedingungen sozialer und natürlicher Komplexität ab. Deshalb können wir nur dann vernünftig mit Krisen umgehen, wenn wir eine Reihe von normativen Prinzipien aus verschiedenen Bereichen übernehmen, um eine Katastrophe zu verhindern, indem wir die richtigen Entscheidungen treffen.
Die aktuellen Krisen sind allesamt ineinander verwoben, und sie sind mit verschiedenen Arten von Normativität verbunden: militärische und ethische, ökologische und ökonomische, rechtliche und ästhetische, kulturelle und universelle, lokale und globale, individuelle und kollektive Normen sind sowohl bei der Beschreibung wie auch bei der Lösung jener Probleme im Spiel, die zunächst zu einer Krise führen und sich in eine Katastrophe verwandeln, wenn sie nicht bewältigt werden.
Eine wichtige Triebkraft für die Dynamik der oben genannten ineinander verwobenen Krisen ist die Abkopplung der naturwissenschaftlichen, technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung von den weiter gefassten Fragen der menschlichen Werte, des guten Lebens und des Wohlergehens.1 Zur Erläuterung dieses Gedankens mögen einige Beispiele genügen:
- Die enorme Macht der modernen Informations- und Kommunikationstechnologie (in jüngster Zeit: der künstlichen Intelligenz) in großen sozialen Systemen restrukturiert das menschliche Miteinander auf bisher unbekannte Weise. Aus rein technologischer Perspektive kann keine Antwort auf die Frage gegeben werden, zu welchen Zwecken diese Technologien eingesetzt werden sollten und wer dazu berechtigt ist, solche Entscheidungen zu treffen.2 Dies birgt die Gefahr, dass menschliche Werte, kollektive Entscheidungsfindung und Wohlbefinden auf der Strecke bleiben. Deswegen drängen Regierungen aus guten Gründen auf eine rechtliche und ethische Regulierung sozial disruptiver Informations- und Kommunikationstechnologien, und so erfreut sich die neuere Disziplin der ›Ethik der künstlichen Intelligenz‹ großer Beachtung. Ihre Aufgabe besteht darin, sozial disruptive Technologien mit der Erforschung rechtlicher und ethischer Werte und Wertvorstellungen zu verbinden, um Leitlinien für die Neugestaltung der betreffenden Technologie im Lichte menschlicher Bedürfnisse, Rechte und Pflichten zu entwickeln.
- Die digitale Transformation, die von vielen Regierungen als Teil der Lösung für die ökologische Krise propagiert wird, wirft wiederum neue Fragen der Nachhaltigkeit auf, die sich aus den materiellen Ressourcen ergeben, welche für die Produktion und Aufrechterhaltung der materiellen Dimensionen scheinbar rein symbolischer Daten benötigt werden. Die Geisteswissenschaften sind besonders gut geeignet, diese ideologische Ebene und die Illusionen, die im Kontext rasanter gesellschaftlicher Transformation entstehen, kritisch zu beleuchten. Unter Recoupling versteht man in diesem Zusammenhang die Einbindung geistes- und sozialwissenschaftlicher Kompetenzen in den Diskurs zur digitalen Transformation, und zwar mit dem Ziel, zwischen erwünschten und unerwünschten Fällen der Automatisierung von Arbeit und der Ersetzung menschlicher Interaktionen und Praktiken durch digitale Systeme unterscheiden zu können.
- Lebensmittelproduktion und -konsum werden von nicht-nachhaltigen Wünschen, Erwartungen und Denkmuster geleitet. Unangemessene Denkweisen beeinträchtigen die Fähigkeit, die komplexen Beziehungen zwischen Menschen, nicht-menschlichen Tieren und unserem gemeinsamen Lebensraum zu gestalten, sodass ein systemischer Wandel auf der Ebene der Denkmuster und ihrer materiellen Bedingungen notwendig ist. Die Geisteswissenschaften befassen sich mit unserem Selbstverständnis als Menschen. Da der Mensch das, was er tut, vor dem Hintergrund umfassender Vorstellungen darüber tut, wie er sich in die Natur einfügt, wie er bestimmte Eigenschaften mit nicht-menschlichen Tieren teilt und sich dennoch grundlegend von ihnen unterscheidet, ist die geisteswissenschaftliche Erforschung solcher Vorstellungen und Denkweisen eine wesentliche Voraussetzung für eine sinnvolle, systemische Veränderung unserer Wertvorstellungen.
- Herkömmliche Wirtschaftsmodelle, die sich immer noch vorwiegend auf quantitatives Wachstum konzentrieren, sind zu eng gefasst, um menschliches Wohlbefinden zu messen. Dies führt zu einer Auffassung der sozioökonomischen Sphäre, die weitgehend blind für jene Konzepte ist, die die Unzulänglichkeiten im eigentlichen Zielsystem der Wirtschaftsmodelle, nämlich in unseren Volkswirtschaften, zu erklären und zu überwinden suchen. Ausgerechnet jene Disziplin, die für wirtschaftliche Lösungen zuständig ist, schafft neue Probleme, indem sie bei ihren Bemühungen, den wirtschaftlichen Erfolg zu messen, die wertgeladenen menschlichen Erfahrungen außer Acht lässt. Unrealistische Vorstellungen von uns als Menschen, von unseren Präferenzen, Nutzenerwägungen, Einstellungen, Bedürfnissen und Denk- und Kooperationsweisen wirken sich auf konkrete Politikvorschläge aus, die dann in die Gesellschaft als umfassendsten Bereich sozioökonomischer Interaktion hineinwirken. Sozioökonomische Interaktionen als Zielsysteme der Ökonomie enthalten Werte und Wertvorstellungen in Form von Kunst, Religion, kulturellen Dynamiken, lokalen und globalen Vergangenheiten sowie von Belastungen, Hoffnungen und Interessen auf individueller und kollektiver Ebene, die in die ökonomische Theorie integriert werden müssen. Die Geisteswissenschaften können und sollten daher zu einem Paradigmenwechsel im ökonomischen Denken beitragen, der das Konzept der Lebensqualität, die Ich-Perspektive der menschlichen Akteure und ihre Einbindung in größere natürliche und soziale Prozesse berücksichtigt.
Ein falsches Selbstbild hat negative Folgen für unser Handeln. Der positive Beitrag der geisteswissenschaftlichen Erforschung der Art und Weise, wie wir uns auf den verschiedenen Ebenen des individuellen Handelns und der sozialen Interaktion selbst begreifen, besteht also darin, falsches Bewusstsein zu korrigieren. Dies erfordert eine transdisziplinäre Zusammenarbeit, also akademische Forschung über Fächergrenzen hinweg, die in einem Kontext sozioökonomischer Interaktion mit Interessengruppen und Praktikern aus allen relevanten Bereichen stattfindet.
Die global zusammenhängenden, ineinander verwobenen Krisen – die in den einzelnen Nationen, Regionen und Sektoren auf unterschiedliche Weise erzeugt und erlebt werden – erfordern einen Wandel der Wertstrukturen und Wertvorstellungen, die zu den Ursachen dieser Krisen gehören. Indem Menschen ihr Handeln an einem bestimmten Selbstverständnis ausrichten, produzieren sie Wertvorstellungen. Denn Menschen führen ihr Leben auf der Grundlage dessen, was sie als wertvoll betrachten. Diese Wertvorstellungen sind keine natürlichen, in unsere DNA eingeschriebenen Gegebenheiten, sondern Produkte der Geschichte. Die Geisteswissenschaften untersuchen solche Wertvorstellungen und sind in der Lage, sie im Lichte normativer Prinzipien zu erörtern, die – um nur einige Beispiele zu nennen – in der Ethik, der Ökonomie, der Theologie und dem Recht entwickelt werden.
Wertvorstellungen können also im Lichte konkreter Werte beurteilt werden, und zwar unabhängig davon, ob sie durch menschliches Handeln konstruiert oder produziert (wie die Wertkonstruktivisten annehmen) oder aber aufgrund der besonderen menschlichen Fähigkeit erkannt werden, unserer wertgeladenen Erfahrung der Lebenswelt einen Sinn zu geben (wie einige Wertphänomenologen und moralische Realisten behaupten).
Jene Werte, die ökologisch nicht-nachhaltige und sozial ungerechte wirtschaftliche und politische Praktiken und Entscheidungen implizit rechtfertigen, müssen ans Licht gebracht, infrage gestellt und gegebenenfalls verändert werden. Wenn der Übergang zu einer nachhaltigeren Lebenswelt ohne die Integration von Wertstrukturen und Wertvorstellungen in ihr Ethos erfolgt, werden sich die Entkopplungsprobleme, die uns überhaupt erst in die gegenwärtige missliche Lage gebracht haben, wahrscheinlich noch verschärfen.
Die gravierenden Veränderungen, die der Mensch als Spezies im Zuge des Klimawandels gerade zu erfahren beginnt, werfen neue Fragen auf – nach der Wertschätzung von Naturgütern, Umwelt und Tieren sowie nach dem Status unserer ethischen Verpflichtungen, die wir als Bewohner eines Planeten mit begrenzten natürlichen Ressourcen untereinander haben. Wie die Verantwortung für die Produktion und Lösung von Problemen bestimmt und zugeordnet wird, hängt unter anderem von gesellschaftlichen und historischen Parametern ab, die auf unterschiedlichen Vorstellungen von der conditio humana und ihrer Einbindung in den Kosmos beruhen. Das bedeutet, dass zukunftsorientierte geisteswissenschaftliche Forschung in andere Wissens- und Praxisfelder integriert werden kann und sollte, die sich bereits mit der Bewältigung systemischer Krisen befassen, aber aufgrund der oben beschriebenen institutionellen Entkopplung geisteswissenschaftliche Erkenntnisse häufig vernachlässigen.
Der unausweichliche und bereits im Gang befindliche sozioökologische Wandel bedarf daher dringend einer geisteswissenschaftlichen und sozialen Untermauerung. Insofern plädieren wir für eine zukunfts- und zielgerichtete Positionierung der Forschung, um konzeptionelle Instrumente zu entwickeln, die zu einer neuen »Vision des Guten« (Leiter 2013: 121) beitragen können.
Dies geht über eine Kultur der individuellen praktischen Weisheit hinaus. Denn in komplexen Krisen steht die soziale und nicht bloß die individuelle Freiheit auf dem Spiel. Soziale Freiheit betrifft die Gestaltung sinnvoller Aktivitäten, die nur vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Verständnisses Sinn ergeben. Wo es um soziale Freiheit geht, bedingen sich Gemeinschaft und Individuum wechselseitig. Die individuelle Selbstbestimmung muss im Lichte der kollektiven Verantwortung neu ausgestaltet werden. Deshalb sollten wir die moralischen Anforderungen an das individuelle Handeln mit der kollektiven Architektur eben jenes Problembereichs in Einklang bringen, innerhalb dessen unsere individuellen Entscheidungen einen Sinn ergeben. Beides muss berücksichtigt werden, und das erfordert eine neue Form der intellektuellen Zusammenarbeit zwischen den Geistes- und den Sozialwissenschaften sowie Rückkopplungsschleifen zu beziehungsweise von nicht-akademischen Akteuren. Interdisziplinärer Austausch allein reicht nicht aus; wir bedürfen der transsektoralen Zusammenarbeit und Integration, um unsere Denkweise zu ändern und den sozialen Wandel im Lichte unserer »besten Darstellung« (Rosa 2021: 151) dessen zu gestalten, was es bedeutet, im 21. Jahrhundert Mensch zu sein.3