Vorwort
Unsere Welt ist in vielerlei Hinsicht aus dem Gleichgewicht geraten. Die Kluft zwischen technischem und sozialem Fortschritt, wirtschaftlichem Erfolg und Umweltzerstörung sowie forschungsbasierten Erkenntnissen und politischer Entscheidungsfindung wird immer größer. Hinzu kommen ein rapider Verlust an biologischer Vielfalt, ein zunehmender Trend zur Privatisierung und Kommerzialisierung von Gemeingütern und nicht zuletzt eine wachsende Ungleichheit, Unsicherheit und Komplexität der vor uns liegenden Herausforderungen.
Angesichts der aktuellen Lage, der sich zuspitzenden Krisen und neuerdings des russisch-ukrainischen Krieges mit all seinen Gräueltaten haben wir sicherlich viele Gründe, pessimistisch und verzweifelt zu sein. Die Abwärtsspirale negativer Entwicklungen scheint unsere Wahrnehmung zu dominieren. Und doch können wir als Wissenschaftler und besorgte Bürger nicht länger ignorieren, dass es in der Verantwortung unserer Generation liegt, neue Ideen und tragfähige Konzepte zu entwickeln, um den Weg für eine dringend notwendige Umgestaltung unseres Lebensstils, unserer Produktionsweisen und unserer Gesellschaft insgesamt zu ebnen.
Indem sie mutig, kritisch und kreativ über verschiedene Ungleichgewichte und ihre Ursachen nachdenken und versuchen, tragfähige Lösungen für zumindest einige der uns bedrängenden Probleme zu finden, können Wissenschaftler und Praktiker aus allen Lebensbereichen dazu beitragen, den Kurs in Richtung einer gerechteren, ökologisch vernünftigen und wirtschaftlich nachhaltigen Zukunft zu ändern. Das setzt allerdings voraus, dass sie sich gemeinsam auf eine Reise begeben, bei der sie die gegenwärtigen Praktiken gründlich überdenken und umgestalten.
Vor diesem Hintergrund hat sich eine erste Gruppe von Fellows unseres Instituts im Rahmen des Programms ›Foundations of Value and Values‹ darangemacht, einen konzeptionellen und strategischen Rahmen für den ambitionierten Versuch zu entwickeln, die Geisteswissenschaften in den breiteren Kontext der Herbeiführung eines Systemwandels zu stellen. Trotz aller fachlichen Vielfalt innerhalb dieser Gruppe ist es den Teilnehmenden gelungen, sich vor allem auf ihre Gemeinsamkeiten zu konzentrieren – insofern ist bereits der vorliegende Diskussionsbeitrag selbst ein Beweis für die Integrationsfähigkeit der Geisteswissenschaften. Dennoch werden sie, auf ihre epistemischen Grundlagen und ihr spezifisches Fachwissen bauend, Umfang und Reichweite ihrer Aktivitäten über die Analyse vergangener und gegenwärtiger Phänomene hinaus auf zukunftsorientierte Fragestellungen ausweiten müssen.
All dies erfordert einen Perspektivwechsel – nicht allein in den Geisteswissenschaften, sondern vielmehr in den jeweils relevanten Ökosystemen der Wissensproduktion insgesamt. In manchen Debatten über Forschungs- und Innovationsagenden wird den Geisteswissenschaften auch heute noch eine geringere Bedeutung im Hinblick auf die Gestaltung der Zukunft beigemessen. Während die Natur- und Ingenieurwissenschaften als die wichtigsten Triebkräfte des wirtschaftlichen und technologischen Fortschritts gelten, scheint es den Geisteswissenschaften noch an einer klaren Ausrichtung auf die vor uns liegenden Herausforderungen zu fehlen. An der Vorstellung einer Reihe entkoppelter Wissensbereiche muss sich jedoch angesichts der vielen ineinandergreifenden Krisen, mit denen wir uns gegenwärtig konfrontiert sehen, dringend etwas ändern.
Um ihr Potenzial an Reflexivität, Multiperspektivität und Normativität ausschöpfen zu können, müssen sich die Geisteswissenschaften proaktiv einen konzeptionellen und strategischen Rahmen geben, der sie in den Mittelpunkt stellt, wenn es darum geht, die für unsere gemeinsame Zukunft entscheidenden Fragen in Angriff zu nehmen: Wie sieht ein nachhaltiges Wertesystem für das 21. Jahrhundert aus? Wie lässt sich ein gemeinsamer Weg in Richtung einer Neuen Aufklärung gestalten? Wann und warum sind die Menschen bereit, ihr Verhalten und ihren Lebensstil zugunsten einer nachhaltigen Zukunft für die Menschheit und unseren Planeten zu ändern? Um diese Fragen angemessen beantworten zu können, bedarf es vor allem eines tatkräftigen Engagements für eine interdisziplinäre, transsektorale und generationsübergreifende Zusammenarbeit.
Dies war denn auch der Geist, in dem unsere Fellows – Markus Gabriel, Christoph Horn, Anna Katsman, Corine Pelluchon und Ingo Venzke – auf höchst kreative Weise am nunmehr vorliegenden Diskussionsbeitrag gearbeitet haben. Ihnen allen sowie Anna Luisa Lippold und Barbara Sheldon vom Organisationsteam gilt mein tiefer Dank für ihr beeindruckendes und unermüdliches Engagement in unserem gemeinsamen Tun.
Darüber hinaus haben viele namhafte Kolleginnen und Kollegen eine frühere Fassung mit hilfreichen Kommentaren versehen oder ausgewählte Passagen mit uns diskutiert. Zu nennen sind hier insbesondere Ruth Chang, Lorraine Daston, Nikita Dhawan, Rainer Forst, Hans-Ulrich Gumbrecht, Geoff Mulgan sowie Martin Adjei, Harald Atmanspacher, Isabel Feichtner, Tobias Müller, Vladimir Safatle und Christiane Woopen. Ihre kritischen Anmerkungen und ergänzenden Hinweise haben unser Manuskript erheblich verbessert, insbesondere im Hinblick auf die Erläuterung unserer Forderung nach einer stärkeren Zukunftsorientierung der Geisteswissenschaften sowie möglicher Optionen auf dem Weg zu einer Neuen Aufklärung. Des Weiteren danken wir den Teilnehmenden des von Markus Gabriel organisierten TNI@Stanford-Treffens am 3. und 4. März 2022, die uns ebenfalls wertvolle Anregungen gegeben haben: Andrea Capra, Amir Eshel, Roland Greene, Hans-Ulrich Gumbrecht, Robert Pogue Harrison, Courtney Blair Hodrick, Paul Kottman, Teathloach Wal Nguot und Laura Wittman.
Unser Dank gilt auch Karin Werner und dem ganzen Team des transcript Verlags, sowohl für ihre Begeisterung für unsere Bestrebungen im Allgemeinen und unser Projekt im Besonderen als auch für ihre unschätzbare Unterstützung bei der Herstellung und dem Vertrieb dieses Buches. Ein besonderer Dank gilt Joachim Milles, der den Text ins Deutsche übertragen hat.
Und nicht zuletzt möchte ich unserem großzügigen Stifter Erck Rickmers danken – für seine Freundschaft, sein Einfühlungsvermögen, seine Fürsorge und seinen Mut in allen Belangen, die unsere gemeinsame Arbeit im THE NEW INSTITUTE und darüber hinaus betreffen.
Wilhelm Krull
Gründungsdirektor, THE NEW INSTITUTE
Hamburg, im Oktober 2022