3. Die Methoden der Geistes- und Sozialwissenschaften
Vor diesem Hintergrund möchten wir das bereits vorhandene Potenzial der Geistes- und Sozialwissenschaften aufzeigen, wichtige Beiträge zur transsektoralen Forschung über die drängenden Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu leisten. Indem wir die Geistes- und Sozialwissenschaften in einen neuen Kontext stellen, wollen wir die in den aktuellen Debatten entwickelten Lösungsansätze sowohl verändern als auch erweitern. Die wissenschaftliche Forschung braucht grundlegend neue Ideen und Konzepte, um sich selbst, ihre Methoden, die Interaktion zwischen den Disziplinen sowie ihre Verbindung zu anderen gesellschaftlichen Bereichen (Politik, Wirtschaft, Kunst, Zivilgesellschaft) mit ihren spezifischen Bedürfnissen besser reflektieren zu können. Die Übernahme von Verantwortung für die Mitgestaltung tragfähiger Lösungsansätze setzt voraus, dass die Gesellschaftskritik (ohne deren analytisches Instrumentarium zu vernachlässigen) durch konstruktive Beiträge ergänzt wird, die ebenso positive wie mitreißende Zukunftsbilder entstehen lassen. Letztere müssen immer von einer kritischen Analyse und Hinterfragung der bisherigen Problembeschreibungen ausgehen. Und wenn es um die Entfaltung innovativer Perspektiven geht, ist die Etablierung einer vertrauensvollen Kultur der Kreativität der Schlüssel – sowohl auf individueller wie auf institutioneller Ebene.
Für einen weiten Begriff von Geistes- und Sozialwissenschaften
Historisch gesehen haben sich die Geistes- und Sozialwissenschaften auf der Grundlage gesellschaftlich akzeptierter Formen der Charakterbildung entwickelt. Sie gehen auf den Versuch zurück, deren Prinzipien in Gestalt von Weisheitsregeln, Tugendkatalogen sowie literarischen und künstlerischen Darstellungen gesellschaftlich wichtiger Angelegenheiten zum Ausdruck zu bringen.
Natürlich ist das, was wir als ›Geistes- und Sozialwissenschaften‹ bezeichnen, je nach historischen Gegebenheiten und Wertvorstellungen vor Ort auf unterschiedliche Art und Weise entstanden und fortentwickelt worden. Es gibt also ebenso viele Geschichten dieser Disziplinen wie systematische Versuche, die grundlegenden Werte einer bestimmten sozialen Ordnung durch symbolische Repräsentation zum Ausdruck zu bringen. Wir müssen jedoch anmerken, dass einige dieser alternativen Wissensbestände in einem Maße übergangen worden sind, dass den Schlechtergestellten die Mittel – die Kategorien der Repräsentation – verweigert wurden, um zu Wort kommen und gehört werden zu können,6 was wiederum zu ›hermeneutischer Ungerechtigkeit‹ geführt hat.7
Die Idee, dass es so etwas wie Werterkenntnis und Weisheit gibt, die sich von physikalischem oder naturwissenschaftlichem Wissen über anonyme, materiell-energetische Prozesse im Kosmos unterscheiden (›Antireduktionismus‹), war für die Entwicklung der Geisteswissenschaften von entscheidender Bedeutung. Als in der athenischen Demokratie des 5. Jahrhunderts v. Chr. das Bedürfnis nach Erziehung gut informierter Bürger aufkam, begannen Philosophen und politische Denker, über geeignete Bildungsprogramme zu debattieren. So förderte die athenische Demokratie Lernen und Innovation in einem bis dahin unbekannten Ausmaß.8 Die diskutierten Lehrpläne beschränkten sich nicht auf intellektuelle Fähigkeiten, sondern umfassten auch das, was als ›Charaktertugenden‹ bezeichnet wurde.9 Das Persönlichkeitsideal, das der Einzelne anzustreben hatte, war kalokagathia, ein Begriff, der herausragende intellektuelle Fähigkeiten mit weiteren wünschenswerten Charaktereigenschaften verbindet. In diesem ursprünglichen Kontext erfüllten die Geistes- und Sozialwissenschaften (etwa die Wirtschafts- und Politikwissenschaften, wie sie von Aristoteles konzipiert wurden) also die Funktion, Tugenden zu entwickeln und dadurch das ethische Leben der Gesellschaft zu fördern. Das gilt aber nicht nur für die Geistes- und Sozialwissenschaften im sogenannten ›Westen‹. Systematische Wege zur Erlangung von Weisheit, sozialer Stabilität und Wohlstand wurden im chinesischen und indischen Kontext ebenso entwickelt wie in der komplexen Geschichte des afrikanischen Kontinents, die wiederum – über das ägyptische Paradigma – die Entwicklung einer wissenschaftlichen Haltung zu Mensch und Natur stark beeinflusst hat.
Die Tugendethik und ihre Bildungsprogramme führten später zu Modellen einer ›umfassenden Bildung‹ (enkyklios paideia, ein Ausdruck, der in unserem Wort ›Enzyklopädie‹ überlebt hat) und ›freier Künste‹ (artes liberales). Bestimmte Disziplinen galten als ›frei‹ in dem Sinne, dass sie für freie Bürger und ihr Glück wertvoll waren; wie Aristoteles sie beschreibt, zählt die sophia (Weisheit) zu dieser Art von Wissen, denn da sie von ›ersten Prinzipien‹ handelt, ist sie für sich genommen und nicht nur für andere Zwecke wertvoll. Sie wird damit gleichsam zum Prototyp der Idee des Selbstzwecks, also eines Wertes an sich.
Eine bestimmte Form von Werterkenntnis, die sich nicht auf jene Art von objektivem Wissen zurückführen lässt, das wir über die Natur besitzen, steht im Mittelpunkt jeder emanzipatorischen Bewegung, die sowohl die persönliche Autonomie als auch die soziale Freiheit fördern will. In der sogenannten westlichen Tradition können wir von einer ›griechischen Aufklärung‹ als Quelle der Geisteswissenschaften sprechen. Während Aristoteles und viele seiner Zeitgenossen noch glaubten, die Sklaverei sei ein unvermeidlicher Aspekt einer freien Gesellschaft und Frauen seien moralisch minderwertig, hat sich das emanzipatorische Wissen über die Jahrtausende hinweg weiterentwickelt. Eine der Triebkräfte des moralischen und menschlichen Fortschritts ist gerade das emanzipatorische Wissen, das aus den Geistes- und Sozialwissenschaften stammt – in jüngster Zeit vor allem durch den Hinweis auf die Notwendigkeit, viele unserer Annahmen über das menschliche Werden zu dekolonisieren, was ein wichtiges Element für die Entwicklung tragfähiger Konzepte der Universalisierung im 21. Jahrhundert ist. Natürlich war der moralische Fortschritt nie stetig, linear oder unzweideutig, und er ist noch lange nicht am Ziel. Dass die Erträge der emanzipatorischen Vorstellungskraft noch nicht in vollem Umfang realisiert werden konnten, zeigen die laufenden geisteswissenschaftlichen Debatten und sozialwissenschaftlichen Forschungen über systemischen Rassismus, versteckte Sklaverei, explizite Frauenfeindlichkeit und soziale Gewalt im Kontext von ›Rasse‹, Sex, Gender, Klasse und nationaler Identität nur allzu deutlich.10
Von Aristoteles bis Hannah Arendt sind in den Geisteswissenschaften Überlegungen zur praktischen Vernunft (phronesis) angestellt worden. Phronesis ist ein Begriff für die kontextsensible Fähigkeit der Zielsetzung und Zielverfolgung, die ein breites Spektrum von Werten und Tatsachen, Lebensbedingungen und zufälligen Umständen berücksichtigt und sie mit der Idee des guten oder glücklichen Lebens des Menschen (eudaimonia) in Verbindung bringt. Die falsche Ideologie des modernen homo oeconomicus präsentiert sich heute in Gestalt des ›rationalen Narren‹,11 der seine tieferen und umfassenderen Lebensinteressen missachtet – eine in der Ökonomie weithin akzeptierte Einsicht, hat diese doch erkannt, dass das menschliche Handeln zutiefst von moralisch relevanten Wertvorstellungen geprägt ist, die sich nicht auf die Artikulation individueller Präferenzen reduzieren lassen. Phronesis hingegen wird als die Fähigkeit verstanden, nach umfassender rationaler Orientierung zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und dann die richtigen Prioritäten zu setzen. Der Kluge (phronimos) entwickelt dabei einen umfassenden Überblick über das, was für die Stadt als kollektivem Ort sozialer Selbstbestimmung und Autonomie gut ist.
In einem eher technischen Sinne begannen die Geisteswissenschaften in der hellenistischen Periode, spezifische Methoden zu entwickeln, die es ihnen ermöglichen sollten, ihr erworbenes Wissen objektiv zu teilen. Die Methode, die angewandt wurde, um die homerischen Epen zu verstehen, basierte auf dem von Aristoteles entwickelten Konzept des ›epistemischen Pluralismus‹. Es gehört zur Genealogie hermeneutischer Methoden zum Verständnis kultureller und mentaler Unterschiede, die sowohl in mündlichen als auch in schriftlichen Ausdrucksformen kodiert sind. Wie Aristoteles behauptet, sind wir nicht berechtigt, alle kognitiv wertvollen Verfahren auf einen einzigen methodologischen Standard zu reduzieren (etwa auf jenen Standard, den man heutzutage mit der dominanten anglophonen Bedeutung von ›science‹ als Technowissenschaft verbindet). Vielmehr sollten wir anerkennen, dass die epistemischen Standards beispielsweise für mathematische Beweise, logische Argumente, poetologische Analysen literarischer Kunstwerke und moralisch gültige Normen höchst unterschiedlich sind. So muss man etwa bei Textinterpretationen eine Methode anwenden, die sprachliche Abweichungen, historische Vielfalt und die Natur des Menschen (Emotionen, Wünsche, Bedürfnisse, Einstellungen, Tugenden und Laster usw.) sorgfältig berücksichtigt.
Im modernen deutschsprachigen Kontext prägten Friedrich Schleiermacher und Wilhelm Dilthey die begriffliche Dichotomie von Erklären und Verstehen, die als Unterscheidung zwischen zwei komplementären Formen des Wirklichkeitsbezugs verstanden werden kann.12 Während Ersteres wissenschaftliche Methoden charakterisiert, die darauf abzielen, nomologische Regelmäßigkeiten in der ›natürlichen‹ Wirklichkeit – unabhängig von Geist, Sprache und Theorie – zu identifizieren, kontextualisiert Letzteres historische Dokumente, indem es sie in ihrer ursprünglichen Sphäre verortet. Einer der wichtigsten Beiträge Diltheys zur Hermeneutik (der Theorie des Verstehens und Selbstverstehens) besteht in seiner Beschreibung der kulturell geteilten Sphäre, in die Individuen von ihrer frühesten Kindheit an eingebettet sind. Die Details eines historischen Textes zu verstehen bedeutet, diese Sphäre zu erfassen und ihre Details in ein kohärentes Narrativ zu integrieren.
Dieser hermeneutische Ansatz der Geisteswissenschaften wurde von Max Weber weiterentwickelt. Weber formulierte eine Handlungstheorie, die besagt, dass man etwas nur dann versteht, wenn man es in einen ›Sinnzusammenhang‹ stellt. Die Geistes- und die Sozialwissenschaften sind insofern eng miteinander verwoben, als sie Wertvorstellungen und Werturteile berücksichtigen, ohne sie dabei gleich als objektiv gültig zu akzeptieren.13
Edmund Husserl prägte dann in den späten 1920er Jahren den Begriff der ›Lebenswelt‹, der im zeitgenössischen sozialen Denken eine herausragende Rolle spielt.14 Auf dessen Grundlage konnte er seine phänomenologischen Theorien über die Erfahrung des Bewusstseins von Raum, Zeit, Körper usw. miteinander verbinden. Und schließlich haben wir bei Heidegger, Gadamer und Ricœur vollständig ausgeformte philosophische Positionen, die auf der hermeneutischen Idee des Verstehens der menschlichen Existenz basieren. Diese Philosophen lassen die Husserl’sche Idee der transzendentalen Subjektivität hinter sich und übernehmen ein konsequent historisches Paradigma. Damit wenden sie sich gegen eine Beschreibung der menschlichen Existenz, die eine theoretische Haltung gegenüber der Welt als unsere primäre Sichtweise annimmt.15
All diese Standpunkte schreiben den Geisteswissenschaften eine privilegierte Rolle zu, wenn es um unsere Fähigkeit geht, unser Leben im Lichte eines Selbstkonzepts zu führen.16 Ihnen zufolge können nur die Geisteswissenschaften ein nicht-reduktives Bild von unserem Leben und vom menschlichen Werden vermitteln, das auf spezifischen Methoden beruht, die es uns ermöglichen, unsere menschliche Sinngebung in ihrem jeweiligen sozialen und historischen Kontext zu verstehen.
Natürlich gibt es eine Vielzahl von Entwicklungsgeschichten der Geistes- und Sozialwissenschaften, die alle miteinander verwoben sind. Geisteswissenschaftliche Konzepte wandern über Kontinente und Disziplinen hinweg – oftmals in einer Weise, die auch Machtverhältnisse spiegelt. Dies herauszuarbeiten, gehört ganz wesentlich zu den Methoden der Geisteswissenschaften.17 Alle intellektuellen Traditionen, die aus der Achsenzeit und ihren Voraussetzungen in den mündlichen Überlieferungen der longue durée hervorgegangen sind, bieten uns Möglichkeiten, existenzielle Fragen des menschlichen Lebens zu diskutieren.
Notwendigkeit wertorientierter Ansätze
Wenn wir die geisteswissenschaftlichen Methoden in den normativ geleiteten sozialen Wandel einbeziehen wollen, so geschieht dies in der Überzeugung, dass sie einen Beitrag zur Ermittlung von Werttatsachen leisten können. Vom menschlichen Standpunkt aus ist Subjektivität unerlässlich für jede Darstellung von Erfahrung, die den Anspruch auf politische Teilhabe untermauert.
Eine strenge ontologische Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten ist ein Fehler. Max Weber zählte zu den prominenten Verfechtern einer solchen Unterscheidung, weil er die empirischen Sozialwissenschaften von wertenden Urteilen frei halten wollte, die seiner Ansicht nach immer bestimmte subjektive ideologische, politische oder religiöse Standpunkte voraussetzen. In seinen einflussreichen Schriften ›Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis‹18 und ›Wissenschaft als Beruf‹19 plädiert Weber für eine wertfreie Forschung, die der Politik in einem zweiten, unabhängigen Schritt den Weg zu wertorientierten Entscheidungen ebnen sollte. Die Aufgabe des Sozialwissenschaftlers beschränkt sich demnach auf die Ermittlung von Tatsachen; er soll keine konkreten Ratschläge geben, indem er bestimmte normative Empfehlungen ausspricht. Weber betrachtete es als unmöglich, von moralischen Werten in einem objektiven und neutralen Sinne zu sprechen – während wir davon ausgehen, dass wertgeleitete Formen der Forschung in den Natur- und Geisteswissenschaften deren Objektivität nicht untergraben, sondern letztlich nicht vermieden werden können (und sollten).
Die strenge Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten wird gewöhnlich auf David Hume zurückgeführt. Wie Hume behauptete, kann aus einer Reihe von Tatsachenprämissen keine gültige normative Schlussfolgerung gezogen werden. Lange Zeit wurde Humes ›Sein-Sollen-Problem‹ (auch bekannt als ›Humes Guillotine‹) so verstanden, als würde es die Wirklichkeit in zwei ganz und gar unzusammenhängende Bereiche aufteilen. Dieser Auffassung zufolge gibt es keine Möglichkeit, von Tatsachen zu Werten oder von Werten zu Tatsachen zu gelangen. Tatsachen werden von einer Welt-zu-Geist-Haltung abgeleitet, während Werte aus unserem Geist stammen und in einer Geist-zu-Welt-Haltung auf Objekte bezogen werden.
Doch bereits in den frühen 1980er Jahren griff Hilary Putnam in seinem einflussreichen Buch Reason, Truth, and History die Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten scharf an. Er widersprach der Auffassung, dass wertende Aussagen, da sie Werte voraussetzen, nur subjektiv sein können.20 Vielmehr vertrat er sehr nachdrücklich die These, dass Werte durchaus Gegenstand einer objektiven Debatte sein können, insbesondere im Hinblick auf Fragen, die sich aus der Idee des ›menschlichen Gedeihens‹ ergeben.
Die Behauptung, dass normative Ansätze den empirischen überlegen sind, ist ebenso falsch wie die des Gegenteils. Normative Ansätze sind voll von Tatsachenannahmen und impliziten Kausalbehauptungen. Und umgekehrt ist keine empirische Untersuchung wertneutral, schon allein deshalb nicht, weil sie darlegen können muss, wonach zu suchen ist und warum. Auch Fragen zur Durchführung empirischer Untersuchungen sind voll von normativen Entscheidungen und Annahmen – und damit meinen wir keineswegs nur offensichtliche Fälle von ethischen Grenzen für Experimente. Tatsachen tragen niemals »ihre Bedeutung mit sich auf dem Gesicht herum« (Dewey 1954: 3). Sie bedürfen der Interpretation – und der Geisteswissenschaften zur Reflexion und Sinngebung. Reduktionismus muss in jeder Hinsicht vermieden werden: Tatsachen sprechen nicht für sich, und doch sind sie mehr als Projektionen von Vorurteilen und normativen Präferenzen. Die Vermeidung von Reduktionismus ist eine Forderung der wissenschaftlichen Forschung, der Multidisziplinarität und der Notwendigkeit eines radikalen gesellschaftlichen Wandels angesichts sich überlagernder Krisen.
Die Unvermeidbarkeit von Werturteilen ist nicht nur für die Geistes- und Sozialwissenschaften charakteristisch. Sie gilt auch für die Natur- und Ingenieurwissenschaften. Wenn wir uns hier auf die Geistes- und Sozialwissenschaften konzentrieren, dann nicht, um die Natur- und Ingenieurwissenschaften auszuschließen, sondern um die Beobachtungs- und Handlungsebene vom Bereich technologischer Eingriffe in natürliche Prozesse auf den der Veränderung von Denkweisen zu verlagern. In einem berühmten Telegramm aus dem Jahre 1946 schrieb Albert Einstein: »Lassen Sie die Menschen wissen, dass eine neue Art des Denkens unerlässlich ist, wenn die Menschheit überleben und sich auf höhere Ebenen begeben soll« (Nathan and Hordon 1960: 376). Er sprach zwar von der entfesselten Kraft der Kernphysik, aber die aktuellen Krisen sind nicht weniger bedrohlich (und haben noch immer mit der Frage der Kernkraft zu tun). Wenn wir unsere Denkweisen auf die richtige Art verändern wollen, um unser Verhalten anzupassen und unsere Institutionen umzugestalten, bedarf es jener Form der reflexiven Untersuchung, die für die Geistes- und Sozialwissenschaften charakteristisch ist.
Pluralismus der Methoden und Ansätze
Den Geistes- und Sozialwissenschaften wird manchmal nachgesagt, dass sie einem ›schwächeren‹ theoretischen und methodologischen Paradigma folgen als die Technowissenschaften. Diese Einschätzung beruht jedoch auf einem frühneuzeitlichen Vorurteil hinsichtlich der Rolle von Mathematik und experimentellen Methoden für die Herausbildung der ›exakten‹ Wissenschaften. Gegenüber solchen Vorurteilen sollte man sich die tatsächliche Vielfalt der epistemischen Felder vor Augen halten – eine Vielfalt, die durch geisteswissenschaftliche Disziplinen wie die Wissenschaftsgeschichte oder die Wissenssoziologie zutage gefördert wird. Die Einsicht, dass Methoden nicht einfach von einem Gebiet auf das andere übertragen werden können und dass man sich als Forscher an eine geeignete Methode für einen bestimmten Gegenstandsbereich halten sollte, lässt sich bis zu Aristoteles zurückverfolgen: Er weist darauf hin, dass das von einem Mathematiker angewandte Verfahren nicht auf die Kunst der Rhetorik übertragen werden kann (und umgekehrt).
Es gibt eine alte philosophische Debatte zwischen epistemischem Monismus und Pluralismus: Während Platon, Descartes, Leibniz und die Philosophen und Wissenschaftler der Wiener Schule die Idee vertraten, dass alle epistemischen Methoden letztlich auf einen einzigen Verfahrensstandard zurückgeführt werden können, findet man von Aristoteles bis Nancy Cartwright die Vorstellung, dass sich wissenschaftliche Disziplinen und ihre Methoden nicht vereinheitlichen lassen. Wir sind der Meinung, dass der Monismus eine gefährliche Art von Reduktionismus mit sich bringt, der vermieden werden sollte, da er die Idee der Objektivität in den Geisteswissenschaften untergräbt und die Werterkenntnis an Ausdrucksformen vitaler Präferenzen oder bloßer Ästhetik festmacht. Angesichts des gegenwärtigen State of the Art in den Naturwissenschaften ist die Idee, sie alle unter einer einzigen wissenschaftlichen Sichtweise (›Einheitswissenschaft‹) zu subsumieren, grundlegend verfehlt. Schon allein der Gedanke, geisteswissenschaftliche, historisch und sozial eingebettete Werterkenntnis und Weisheit auf eine Ebene mit natürlichen Prozessen zu stellen, wie sie in den Natur- und Lebenswissenschaften untersucht werden, ist völlig abwegig und ganz sicher nicht wissenschaftlich fundiert.
Dezentrierung und Multiperspektivität
Eine der wichtigsten Lehren aus den verschiedenen Strömungen kritischer Theorien der letzten Jahrzehnte ist die, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften Fortschritte machen, wenn sie Machtpositionen dezentralisieren, die letztlich unhaltbare Formen von Dualismus und Asymmetrie stabilisieren, welche wiederum auf der Privilegierung jeweils eines der polaren Extreme dieser Dualismen basieren. Dekonstruktion, postkoloniale Studien, Disability Studies, Gender-Theorien, Poststrukturalismus, kritische Rassentheorie, Systemtheorie und dergleichen haben deutlich gezeigt, wie sich Wissensfelder in eine Vielzahl von normativen Sphären auffächern, die von Parametern wie Macht, wirtschaftlichen Interessen, potenziell schädlichen Genealogien, Vorurteilen und sozialen Asymmetrien bestimmt werden. Eurozentrismus, Ökonomismus, Ökozentrismus, Anthropozentrismus, Sinozentrismus usw. bezeichnen unhaltbare Formen der Organisation von Beziehungen zwischen hochkomplexen normativen Sphären.21 Wir haben diese Lektionen auf dem Weg zu einem konstruktiven, wertorientierten Selbstverständnis der Geistes- und Sozialwissenschaften gelernt.
Jedes Unternehmen, das ein Projekt verteidigen will, das auf dem basiert, was wir gemeinsam haben und das universalisiert werden kann, muss die Lehren aus der Geschichte gezogen haben und wissen, dass jeder Versuch, das Gute auf dogmatische Weise zu definieren, dazu neigt, zu genau jener Art von Gewalt zu führen, die man eigentlich unbedingt vermeiden wollte. So sind natürlich auch Werturteile und Objektivität der Geistes- und Sozialwissenschaften nicht frei von Fehlbarkeit, sodass Wissensansprüche zuweilen der Korrektur bedürfen. Wissensansprüche müssen ständig ihr Verhältnis zur Macht und deren Manifestation in Glaubenssystemen und Wissensproduktion reflektieren. Die wertgeladene Untersuchung eines bestimmten Sets von Wertvorstellungen führt zu anfechtbaren Behauptungen. Doch diese Anfechtbarkeit von Ansprüchen auf verbindliche Gültigkeit untergräbt ihre Objektivität nicht etwa, sondern stärkt sie vielmehr. Wissensansprüche an sich stellen also noch keinen Dogmatismus dar.
Objektive Behauptungen können sich eben als richtig oder falsch erweisen. Sie müssen sich nicht auf objektive Dinge im Sinne einer geist- und sprachunabhängigen, materiell-energetischen Realität beziehen. Objektive Urteile können subjektive Erfahrungen zum Gegenstand haben. Um Geltungsansprüche beurteilen zu können, brauchen Menschen eine Vielzahl von Perspektiven auf dieselben Sachverhalte, um zu begründeten Schlussfolgerungen darüber zu gelangen, was sie tatsächlich wissen und tun sollten. Die Anfechtbarkeit von Wissensansprüchen in Bereichen, in denen es um Werte geht, läuft also weder auf die dogmatische Verteidigung des jeweils bevorzugten Narrativs oder früherer Verpflichtungen noch auf jene Arten von postmodernem Relativismus und Historismus hinaus, die schon die Idee des Wissens in normativen Bereichen infrage stellen.
Die Art und Weise, wie wir soziale Angelegenheiten darstellen, ist immer schon wertgeladen. Insofern gibt es keinen archimedischen Punkt, keinen wertfreien ›Blick von nirgendwo‹ (Nagel 1989). Einem neueren Vorschlag von Lorraine Daston und Peter Galison folgend, sollten wir die Geistes- und Sozialwissenschaften vielmehr als ein Streben nach einem Blick von überallher betrachten.22 Damit bieten die Geisteswissenschaften eine systematische, methodische Grundlage für die Darstellung von Werten. Denn die Zielsysteme ihrer Untersuchungen sind historisch verortete Ausdrucksformen von Werten, die zu unterschiedlichen Normativitätsebenen gehören. Ihre Formen der Wissensaneignung sind nicht auf eine wertneutrale Beschreibung sozialer Sachverhalte reduzierbar. Um dies zu erreichen, müssen neue Narrative das Ergebnis einer transkulturellen, transsektoralen und interdisziplinären Zusammenarbeit sein. Man könnte auch sagen, dass die Tatsache, dass jeder Ausgangspunkt unweigerlich partiell ist, nicht bedeutet, dass man am Ende wieder dort ankommen muss.23 Das Ziel einer neuartigen Forschungs- und Kommunikationsarchitektur liegt also darin, sich den globalen Herausforderungen unseres Planeten zu stellen und die Geisteswissenschaften dabei mit einzubeziehen.
Mit Multiperspektivität in einem starken Sinne beschäftigen sich die Geisteswissenschaften schon lange: Während die Natur- und Technikwissenschaften ihre Gegenstände auf vielen Ebenen durchaus zu Recht als weitgehend unabhängig von Geist, Sprache, Theorie, Gesellschaft und Bewusstsein betrachten, handelt es sich bei den paradigmatischen Gegenständen der Geisteswissenschaften um Subjekte und deren Einbindung in ihre symbolischen Gemeinschaften. Die Geisteswissenschaften abstrahieren nicht von der Gesamtperspektive des Menschen, sondern versuchen, ihn in seinen sozialen Kontexten zu verstehen. Das bedeutet auch, dass Sinn und Sinngebung selbst zum Gegenstand der Geisteswissenschaften werden. Wenn wir die Sinnhaftigkeit des menschlichen Lebens berücksichtigen, erweist sich die Vorstellung, dass Objektivität darin besteht, die Natur oder die Realität – ungeachtet unserer Eingriffe – einfach so abzubilden, als unzureichend. Wir können den menschlichen Sinn eben nicht untersuchen, ohne uns selbst mitzureflektieren. Die Gegenstände der Geisteswissenschaften sind also größtenteils von Geist, Sprache, Theorie, Gesellschaft und menschlichem Bewusstsein abhängig. Dies hat zu der Einsicht geführt, dass die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur unzulässig ist – eine Einsicht, die für das Thema einer ökologischen Transformation von großer Bedeutung ist.24 Mehr noch: die ökologischen Geisteswissenschaften tragen wesentlich zu einem neuen Verständnis der Geisteswissenschaften und ihrer positiven Rolle bei der Überwindung verschiedener Sackgassen unserer Zeit bei (etwa denen des apokalyptischen und post-apokalyptischen Denkens).25
Universalismus als Universalisierung
Wenngleich die Idee des Universalismus, wie auch die des Menschen, nur allzu leicht mit einer statischen und essenzialistischen Position in Verbindung gebracht werden kann, ist das, was sie zum Ausdruck bringen will, durchaus verteidigenswert. Trotz aller berechtigten Kritik an falschen Universalismen,26 deren Falschheit darin besteht, eine lokale, partikulare Norm des Menschseins mit einem universellen Paradigma zu verwechseln, hat sich der Universalismus an sich keineswegs als eine moralisch unhaltbare Position erwiesen.27 Er bildet vielmehr die Grundlage für legitime Bedenken gegen eurozentrische, anthropozentrische oder sogar rassistische Rechtfertigungen des Kolonialismus und anderer Formen moralisch verwerflicher Ausbeutung. Was sich im Zuge des moralischen Fortschritts als falsch oder gar böse erwiesen hat, ist universell böse, ungeachtet der historischen Tatsache, dass einige Gruppen von moralischem Fehlverhalten und systemischem Übel profitiert haben.28
Um zu betonen, dass vertretbare Formen des Universalismus ein statisches Modell der menschlichen Natur ablehnen – ihm zufolge wären wir bereits mit vollständiger reflexiver Selbsterkenntnis ausgestattet und sogar berechtigt, den als moralisch minderwertig betrachteten Menschen moralische Einsicht aufzuzwingen –, sollte man wohl eher von Universalisierung sprechen. Das bedeutet, dass das ›Wir‹ der ethischen Gemeinschaft ergebnisoffen ist und kontinuierlich weiterentwickelt wird. Wie Xudong Zhang und Zhao Tingyang hervorgehoben haben, ist die Universalisierung als Grundlage für den Anspruch auf Universalität keineswegs auf die europäische Aufklärung beschränkt und daher historisch nicht unbedingt mit einer Unterdrückung des Andersseins verbunden.29
Wiederbelebung der Hermeneutik
Ganz allgemein ist die Hermeneutik die Theorie des Verstehens und des Selbstverstehens. Sie wurde im Zusammenhang mit der Interpretation von Texten und anderen kulturellen Artefakten entwickelt. Ihr geht es insbesondere um diachrone, historische, aber auch um synchrone kulturelle und mentale Unterschiede zwischen Individuen, Kollektiven und Kulturen insgesamt. Die Wiederbelebung der Hermeneutik besteht nun darin, die Methoden zum Verständnis kultureller Andersartigkeit auf die globalen Probleme anzuwenden, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen. Um die Menschheit in der Person eines jeden anderen zu sehen (um eine von Kants Formulierungen des Kategorischen Imperativs aufzugreifen), müssen wir den spezifischen Modus des Menschwerdens verstehen. Menschwerdung besteht aus einer Reihe von Selbstinterpretationen. Menschen realisieren die Form des Menschseins auf unterschiedliche Weise. Eine wiederbelebte Hermeneutik setzt also die Anerkennung des Andersseins als Ausgangspunkt voraus. Ihr Ziel besteht nicht darin, die Andersartigkeit zu überwinden, sondern sie als eine Ressource für das Verständnis der Verflechtung von Universalismus, Humanismus und der Kontextualität ihrer Verwirklichung zu betrachten.
Aus hermeneutischer Sicht sind das Normative und das Deskriptive miteinander verwoben, weil die paradigmatischen Gegenstände der hermeneutischen Forschung (Heilige Schriften, literarische Texte, Kunstwerke, Gesetzestexte) Wertvorstellungen enthalten, die aus einer wertfreien Perspektive – wenn es so etwas überhaupt gibt – nicht zugänglich sind.
Die moderne Hermeneutik war auf verschiedenen Entwicklungsstufen der Aufklärung eine wichtige Triebkraft. Spinozas hermeneutische Kritik an der Bibel zwang die Gelehrten, den verschiedenen Ebenen der biblischen Texte und Subtexte Aufmerksamkeit zu schenken. Paul Ricœur zufolge können wir Marx, Nietzsche und Freud im Sinne einer ›Hermeneutik des Verdachts‹ lesen.30 Ihre genealogischen Methoden erlauben es uns zu verstehen, wie Ideologien soziale in quasi-natürliche Tatsachen verwandeln. Duncan Kennedy hat nachgewiesen, dass eine solche Hermeneutik des Verdachts zumindest im US-amerikanischen Kontext die hauptsächliche Form der Kritik an den juristischen Argumenten der jeweiligen Gegenseite ist.31 Im internationalen Recht ist die Hermeneutik in ähnlicher Weise mit realistischen Kritiken verwoben, die darauf abzielen, Interpretationen zu diskreditieren, die keine schlüssige Selbstreflexion leisten.
Wiederbelebung der Hermeneutik bedeutet heute, dass wir uns der Idee verpflichten, dass Sinnhorizonte, Sinngebung und Verstehen offen und dynamisch sind, sodass die Verschmelzung von Horizonten nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist – zumindest in globalen Kontexten, in denen Dialog und gegenseitige Anerkennung der Legitimität einer Vielzahl von Perspektiven zu komplexen Themen unverzichtbar sind. Dazu gehört, Recht, Kunst und Religionen als Medien der Selbstdarstellung ernst zu nehmen, die nicht auf jene Art von Modellierung und Theoriebildung reduziert werden können und dürfen, die für weitgehend kausal erklärbare Systeme konstitutiv sind.
Die Phänomene, die den Gegenstand der Geisteswissenschaften bilden, sind irreduzibel qualitativer Natur. Deshalb hat die Ethik der Hermeneutik stets auf die aristotelische Idee der Lebensqualität als Grundlage der Ökonomie zurückgegriffen.32 Eine Wiederbelebung der Hermeneutik impliziert, dass quantitative Methoden aus den Wirtschaftswissenschaften und anderen Bereichen der Sozialwissenschaften, die mit Datensätzen arbeiten, sowie Modelle des menschlichen Denkens und Verhaltens aus den Naturwissenschaften in den Horizont der Hermeneutik integriert werden sollten.33 Eine bisher weitgehend ungenutzte Option für die künftige Forschung und transsektorale Zusammenarbeit bestünde darin, den Schwerpunkt auf qualitatives statt quantitatives Wachstum zu legen, sich also bei der konkreten Ausgestaltung wirtschaftlicher Indikatoren und politischer Entscheidungen auf Praktiken der Weisheit und menschliche Selbsterkenntnis zu konzentrieren.
Auch wenn wir die Idee einer Wiederbelebung der Hermeneutik befürworten, hat die Interpretation doch ihre Grenzen. Wie Gumbrecht und andere renommierte Geisteswissenschaftler hervorgehoben haben, ist ein begrenztes Recht auf Interpretation in soziopolitische Zusammenhänge eingebettet.34 Selbst im vermeintlichen ›Elfenbeinturm‹ der akademischen Radikalinterpretation gibt es Regeln für einen ethischen Diskurs, eine gerechte Verteilung von Ressourcen und akzeptable Grenzen der Forschung. Wenn Interpretationen in Worte gefasst werden, müssen sie sich den strengen Regeln der narrativen Darstellung fügen. Kein Bereich der Koordination menschlichen Handelns ist so radikal autopoietisch, dass er alle Formen praktischer menschlicher Subjektivität absolut infrage stellen würde. Das gilt auch für die Interpretation historischer Tatsachen, die unweigerlich aus gegenwärtigen Kontexten, Wünschen und Theorien hervorgehen, aber bestimmten Interpretationen stärkeren Widerstand entgegensetzen. »Objektivität ergibt sich also aus dem Vergleich und der Kritik rivalisierender Deutungsmuster im Hinblick auf anerkannte Tatsachen« (Bevir 1994: 10).
Moralischer Realismus
Ein prominenter Ansatz, den Unterschied zwischen Werten und Wertvorstellungen zu erklären, ist der moralische Realismus, der in der zeitgenössischen Ethik als weitgehend anerkannt gelten darf. Er vertritt die Auffassung, dass es moralische Tatsachen gibt, wobei es sich bei einer moralischen Tatsache um eine richtige Antwort auf die Frage handelt, was wir tun oder lassen sollten – ganz einfach aufgrund unseres gemeinsamen Menschseins, das insofern eine entscheidende Quelle ethischer Einsicht ist. Die Anthropogenese der ethischen Einsicht untergräbt auch keineswegs die Forderungen der Tier- und Umweltethik, sondern gründet sie vielmehr auf unsere Fähigkeit, moralische Tatsachen zu erkennen – eine Fähigkeit, die beim Menschen weiter entwickelt ist als bei jeder anderen bekannten Spezies. Moralische Tatsachen sind objektiv, was allerdings nicht so verstanden werden sollte, dass sie unabhängig vom Verstand wären. Sie betreffen uns vielmehr, weil sie normativ sind. Ihre Normativität kann nicht sinnvoll auf die beobachtbare Konfiguration physischer Entitäten oder beobachtbares menschliches Verhalten zurückgeführt werden, da dies ihren ethischen Status unterminieren würde. Zugleich ist festzuhalten, dass manche Fakten, die eine menschliche Orientierung und soziale Praktiken der Anerkennung einschließen, keineswegs deren Objektivität einschränken, wie viele annehmen, indem sie allzu eilfertig gerade die Idee einer ethischen Objektivität zurückweisen.
Moralischer Realismus in diesem Sinne (der keine metaphysisch verdächtigen Entitäten jenseits der menschlichen Selbstkonstitution postulieren muss) kann mit der Vorstellung einhergehen, dass wir ethische Ansprüche aus der Selbsterforschung menschlichen Handelns und damit der praktischen Subjektivität ableiten können. Thomas M. Scanlon zufolge kann das, ›was wir einander schulden‹, in Form einer Theorie der Güter formuliert werden.35 In diesem Zusammenhang können Güter als Artikulationsformen des Guten betrachtet werden. Das Gute ist eine deontische Notwendigkeit, etwas, das wir unter allen Umständen tun sollten. Soweit menschliches Handeln nur unter bestimmten, verletzbaren Bedingungen erfolgen kann, lässt sich das Gute als ein Modus der Nachhaltigkeit verstehen: Wir sollten die grundlegenden Bedingungen menschlichen Handelns und sozialer Handlungskoordination bewahren, weil dies die Quelle höherer moralischer Einsicht (Ethik) ist, durch die das sozial strukturierte Wohlbefinden menschlicher und nicht-menschlicher Akteure (einschließlich der ökologischen Nische, die wir mit nicht-menschlichen Tieren teilen) gefördert wird.
Ethik als reflexive Disziplin ist also anthropogen – von Menschen geschaffen –, ohne dabei anthropozentrisch, also auf den menschlichen Nutzen beschränkt zu sein. Die Werttheorie geht schon lange nicht mehr davon aus, dass nur Menschen unsere Fürsorge, Zuwendung und Aufmerksamkeit verdienen. Unsere moralischen Erkenntnisse sind keine Illusionen oder bloßer Ausdruck gesellschaftlich geteilter Präferenzen, sondern offenbaren vielmehr Tatsachen über menschliche Kooperation und unsere Integration in die größere Gemeinschaft der Lebewesen. Moralische Erkenntnis spürt also moralischen Tatsachen nach, die keine mysteriösen Gebilde sind, deren ontologischer Status im Vergleich zu messbaren, physikalischen Größen schwach wäre. Jedenfalls wäre es unhaltbar, die Objektivität ethischer Einsicht und die Möglichkeit moralischer Tatsachen aufgrund einer reduktionistischen Metaphysik zu leugnen, der zufolge nur das Physische real ist; denn damit würden alle Arten von Werturteilen untergraben, auch Urteile über Wertvorstellungen, die sich ja gar nicht in die Sprache der mathematischen Physik übersetzen lassen.
Eine dynamische Form von moralischem Realismus ist ein fruchtbarer Ansatz, um ein Gleichgewicht zwischen Universalismus und Historizität zu erreichen,36 das den Kern einer Neuen Aufklärung bildet. Sie geht davon aus, dass es moralische Tatsachen in Bezug auf pflichtgemäße (gute), neutrale und böse Handlungen gibt, die in moralischen Aussagen beschrieben werden und deren Existenz und Wesen teilweise unabhängig von den Überzeugungen der Menschen sind, die sie äußern.37 Diese moralischen Tatsachen bieten Richtlinien, anhand derer man weiß, was zu tun und zu lassen ist.
Allerdings müssen diese teilweise vom Geist abhängigen ethischen Bezugspunkte, die ein starkes Gegengewicht zu Relativismus und Nihilismus darstellen, beim Wechsel von der Theorie zur Praxis kontextualisiert werden, da Konflikte auftreten, wenn man von der Norm zur Anwendung übergeht. Wir sehen uns dann mit jenen Problemen und Dilemmata konfrontiert, die für unsere Zeit der vielfältigen Formen von Unsicherheit so charakteristisch sind.38
Dies lädt zur Diskussion und insbesondere zum kulturübergreifenden Austausch ein, denn viele moralische Tatsachen sind für den Einzelnen und das Kollektiv nicht offensichtlich. Auch die Ethik hat es mit Ungewissheit zu tun, die an den Schnittstellen des komplexen Netzwerks normativer Ordnungen entsteht,39 zu deren Erforschung sie einen entscheidenden Beitrag leistet.
Zusätzlich zu der sozialen Komplexität, die mit der Heuristik von Werten und Wertvorstellungen einhergeht, sind moralische Tatsachen nur teilweise vom Geist abhängig. Sie umfassen auch die menschliche Lebensform als paradigmatischen Ausgangspunkt, die jedoch Teil einer größeren natürlichen Umgebung ist, die wir mit anderen Lebewesen teilen. Moralische Tatsachen sind keine isolierten, rein ›kulturellen‹ Artefakte; sie sind untrennbar mit jener Art von Tatsachen verbunden, die von den Naturwissenschaften zutage gefördert und von der Technik unter wirtschaftlichen Bedingungen realisiert werden. Aus diesem Grund erfordert eine Neue Aufklärung eine umfassende Zusammenarbeit zwischen den Disziplinen und Kulturen. Die Geistes- und Sozialwissenschaften haben die Ethik mit einer Heuristik für Werturteile ausgestattet, die mit Ungewissheit und sozialer Komplexität umgehen kann, ohne den nihilistischen oder relativistischen Fehler zu begehen, die Existenz moralischer Tatsachen zu leugnen.
Moralischer Konstitutivismus
Eine weitere bekannte Strategie zur Überwindung der strengen Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten hat Christine Korsgaard mit ihrer Version des moralischen Konstitutivismus entwickelt.40 Korsgaards Grundgedanke ist der, dass unser Selbstverständnis als Handelnde unumstößliche Normen voraussetzt. Diese konstituieren das menschliche Handeln, das somit als solches wertgeladen ist. Die deskriptiven konstitutiven Elemente unseres Handelns enthalten als ihre Ermöglichungsbedingungen zugleich substanzielle normative Implikationen. Das Handeln ist also eine wichtige Quelle moralischer Einsicht. Es bedarf keiner zusätzlichen transzendenten Normen, um zu Objektivität zu gelangen. Moralische Tatsachen können daher als Widerspiegelung der konstitutiven Aspekte des Handelns und der sozialen Kooperation betrachtet werden. Moralische Konstitutivisten behaupten, dass es uns nicht freisteht, die Grundlagen unseres Selbstverständnisses als Handelnde selbst auszuwählen, und dass es deshalb auch nicht an uns ist, ihre Implikationen zu akzeptieren oder abzulehnen. Die Normativität ergibt sich aus dieser Unausweichlichkeit.
Korsgaard und andere moralische Konstitutivisten (etwa David Velleman oder Paul Katsafanas) behaupten, dass die Kluft zwischen Tatsachen und Werten durch den reflexiven Rückgriff auf das menschliche Handeln auf überzeugende Weise überbrückt werden kann. Daher sind die Geisteswissenschaften mit ihren spezifischen, aber vielfältigen Methoden und Ansätzen besonders geeignet, ethische Untersuchungen durchzuführen.
Ein viel diskutiertes Argument von Korsgaard lautet etwa wie folgt: Praktische Subjektivität stützt sich auf streng verbindliche normative Voraussetzungen. Zu diesen Voraussetzungen gehört, dass wir verpflichtet sind, bestimmte Güter als grundlegend anzuerkennen, da sie sich als Ermöglichungsbedingungen für unser rationales Handeln erweisen.
Wenn wir uns die Frage stellen, welche Güter wir als grundlegend für unsere Handlungsfähigkeit betrachten, so könnten wir in Anlehnung an Korsgaards Überlegungen zu folgenden Punkten kommen:
- Psychophysische Güter: die Grundelemente der physischen und psychischen Gesundheit, etwa der mehr oder weniger vollständige Besitz der körperlichen und geistigen Fähigkeiten und ein Leben ohne ständige Schmerzen
- Geistige Güter: das Vermögen, die eigenen kognitiven, willensmäßigen, imaginativen und emotionalen Fähigkeiten zu nutzen, Werte zu erfassen und zu befolgen, übergeordnete Absichten und Prinzipien zu entwickeln und einen Lebensplan zu verwirklichen
- Soziale Güter: die Teilhabe an sozialen Gruppen, also die Fähigkeit, sich ihnen anzuschließen und von ihnen zu profitieren, ebenso wie enge soziale Beziehungen zu Partnern, Eltern, Kindern, Verwandten, Freunden, Nachbarn, Kollegen usw.
- Politische Güter: Gewährleistung von Grund- und Menschenrechten, Partizipationsmöglichkeiten, Staatsbürgerschaft, Rechtsstaatlichkeit, eine positive politische Entwicklung, eine offene Gesellschaft mit Aufstiegschancen
- Wirtschaftliche Güter: Lebensstandard und Lebensqualität, einschließlich eines funktionsfähigen Bildungs- und Gesundheitssystems
- Natur- und Umweltgüter: sauberes Wasser, saubere Luft, unbelasteter Boden, eine artenreiche Umwelt, Zugang zu gesunden Lebensmitteln
- Kulturabhängige Güter: Güter, die für die soziale Anerkennung in bestimmten soziohistorischen Kontexten von Bedeutung sind (etwa die Lederschuhe und das weiße Leinenhemd in Adam Smiths Wealth of Nations)
Diese Bereiche haben einen objektiven Einfluss auf das Gut der rationalen Autonomie, das ein Individuum erreichen kann. Konstitutivismus und Realismus lassen sich auch miteinander verbinden: Die Bedingungen, unter denen menschliches Handeln möglich ist, sind Teil der Erklärung dafür, warum es moralische Tatsachen gibt. Es ist also nicht unsere autonome praktische Vernunft, die normative Ordnungen entdeckt, sondern der historisch eingebettete Mensch, dessen Werden zum Gegenstand der geisteswissenschaftlichen Untersuchung wird.
Dieser Ansatz zur Dichotomie von Tatsachen und Werten enthält zwei weitere interessante Elemente. Zum einen haben unsere inneren Wünsche und Präferenzen (oder allgemein gefasst: unsere Pro-Einstellungen) nur dann eine normative Kraft, wenn sie vom Handelnden auf der Grundlage ihrer ›reflexiven Bestätigung‹ gebilligt werden. Unser evaluatives Urteil über Handlungen ist also nicht einfach ein Ausdruck unseres psychischen Lebens, sondern beruht auf Reflexionen zweiter Ordnung oder normativen Selbstbildern. Um von einer Handlung sprechen zu können, muss ich bestimmte ›Pro-Haltungen‹ eingenommen und akzeptiert haben, damit sie funktionieren; ich kann sie natürlich auch als unangemessen ablehnen. Unabhängig davon, für welches Motiv ich mich entscheide, muss diese Entscheidung auf Gründen beruhen. Diese Gründe leiten mich bei meinen praktischen Überlegungen, und es müssen ›innere‹ Gründe sein. Im Lichte dieser Gründe müssen mir die Motive, Impulse oder Wünsche, nach denen ich handle, als gerechtfertigt erscheinen. Der zweite Punkt ist folgender: Eine reflexive Bestätigung, die sich auf hinreichende Gründe für das Handeln stützt, wird nicht durch die mögliche Wahrheit dessen aufgehoben, was Korsgaard »die wissenschaftliche Weltanschauung« (Korsgaard 1996: 97) nennt, ja noch nicht einmal durch einen eventuellen kausalen Determinismus des Handelns. Der ›Raum der Gründe‹, an dem ich durch meine reflexive Bestätigung teilhabe, kann nicht sinnvoll auf Ursachen im wissenschaftlichen Sinne reduziert werden. Hier ist eine Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten sehr sinnvoll: Wissenschaftliche Tatsachen (und seien sie noch so real) haben keinerlei normative Kraft. Zudem lässt sich die Praxis der reflexiven Bestätigung nicht angemessen als eine Reihe spontaner Urteile beschreiben. Sie muss als Regel formuliert werden, die für alle Fälle gilt, deren relevante Merkmale ähnlich sind. Sie basiert auf einer praktischen Identität, die auf den biografischen Hintergrund und den soziohistorischen Kontext des Handelnden zurückgeht: Während des Prozesses der Bewertung und reflexiven Bestätigung ist der Akteur aufgefordert, die gegebenen Bedingungen durch ein bewusst gewähltes normatives Selbstbild zu ersetzen. Mein normatives Selbstbild verpflichtet mich somit immer dann zu einem bestimmten Handeln, wenn es durch Untätigkeit oder ein anderes Handeln beschädigt würde. Und das von mir gewählte Selbstbild ist im Lichte eines dynamischen Konzepts der größtmöglichen Gemeinschaft des menschlichen Werdens zu kritisieren: der Menschheit.
Phänomenologie
Ein phänomenologischer Ansatz kann diese Perspektive ergänzen, indem er mit der Suspendierung unserer Überzeugungen (epoché) beginnt und zu den Bewusstseinsakten zurückkehrt, die es uns ermöglichen, die Bedeutung der Dinge und unserer Beziehungen zu ihnen zu beurteilen. Auf unsere Praktiken angewandt, erlaubt uns dies, eine Bestandsaufnahme zu machen: Wir können herausfinden, welche Praktiken wir beibehalten sollten (weil sie den Sinn der betreffenden Tätigkeiten wahren) und welche wir ändern oder ganz aufgeben müssen. Diese Bestandsaufnahme, die auf individueller und kollektiver Ebene zugleich erfolgen muss, ist der Schlüssel zu einem Emanzipationsprozess, der sowohl die Befreiung von kontraproduktiven Mustern und Gewohnheiten als auch die Neuausrichtung unserer Praktiken umfasst, also die Rückgewinnung der Kontrolle über unser Leben, indem wir festlegen, in welcher Art von Welt wir leben und was wir verhindern wollen.41
Die hermeneutische Phänomenologie ist ein wesentlicher Bestandteil der geisteswissenschaftlichen Methodologie. Sie ermöglicht es nämlich, Strukturen der Existenz zu identifizieren, die sich aus der Beschreibung des Menschen ergeben: ein geschichtliches, mit Freiheit ausgestattetes, in seiner Körperlichkeit verletzliches Wesen, das altert, stirbt und der Fürsorge anderer bedarf und das von natürlichen und kulturellen Dingen ›lebt‹ und von der Natur und anderen Lebewesen abhängig ist. Solch eine phänomenologische Anthropologie, die die irdische, leibliche und relationale Dimension des Subjekts zum Ausdruck bringt, verpflichtet uns, den Schutz der Biosphäre und die Gerechtigkeit gegenüber anderen Lebewesen und künftigen Generationen zu neuen Aufgaben des Staates und der Gesellschaft insgesamt zu machen. Letztere kommen zu den Aufgaben hinzu, die herkömmlicherweise dem Politischen zugewiesen werden, nämlich für unsere Sicherheit und den Abbau ungerechter Ungleichheiten zu sorgen.42
Indem die Phänomenologie versucht, die Interaktion zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen und der Welt zu erfassen, die sie jeweils auf ihre Weise gestalten, bietet sie uns die Möglichkeit, die verschiedenen Ebenen der gelebten Erfahrung aufzudecken. Angesichts der Tatsache, dass die menschliche Erfahrung der sozialen und natürlichen Realität höchst wertgeladen ist, erweist sich das phänomenologische, reflexive Verständnis der menschlichen Lebenswelt als wichtiges methodologisches Werkzeug für die Heuristik der Ethik und anderer normativer Bereiche.
Die Betonung der Heterogenität des Zugangs zur Welt hilft uns zu verstehen, dass andere Tiere die Welt auf andere Weise gestalten als wir und somit andere Existenzen sind, wie Maurice Merleau-Ponty sagt. Es gibt eine Welt, einen Planeten, und eine Vielfalt von Möglichkeiten, ihn zu gestalten. Dieser ›laterale Universalismus‹, von dem Merleau-Ponty spricht, ist das Versprechen eines nicht-hegemonialen Rationalismus.43 Letzterer begrüßt die Vielfalt nicht nur, sondern macht auch deutlich, dass sie wesentlich ist, da niemand direkten Zugang zu ihrer Totalität haben kann; der Prozess der Entdeckung der Welt ist ergebnisoffen.44
Narrative und Werte
Nach den Tragödien des 20. Jahrhunderts ist die Vernunft selbst unter Beschuss geraten: Sie kann sowohl dem Guten als auch dem Bösen dienen und nahezu jedes Ziel unterstützen, da sie, allein auf ihre funktionale Dimension reduziert und in eine Kraft des bloßen Kalküls verwandelt, nicht mehr dazu in der Lage ist, aus sich heraus das Gute vom Bösen und das Gerechte vom Ungerechten zu unterscheiden.45 Der Fall der Berliner Mauer und der Zusammenbruch des kommunistischen Ideals, das den Menschen einen über ihr individuelles Leben hinausgehenden Horizont gab, haben sogar die politischen Utopien aus der westlichen Politik verbannt.46 Stattdessen haben negative, dystopische und apokalyptische Darstellungsweisen der Zukunft der Menschheit unsere soziale Vorstellungswelt erobert, und genau das ist Teil unserer aktuellen Situation angesichts all der ineinander verschachtelten Krisen, in denen wir uns befinden.
Der postmoderne Diskurs im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts hat dazu geführt, dass die Geisteswissenschaften die Idee der großen Erzählungen aufgegeben haben. Im Namen der verschiedenen Dimensionen der Vielfalt, wie wir es heute nennen würden, begannen die Geisteswissenschaften, vor groß angelegten Versuchen zurückzuschrecken, soziale Systeme zu verstehen oder gar zu gestalten, indem sie positive Narrative beisteuerten. Postmoderne Denker blieben in kritischen Positionen stecken und hatten somit zu wenig zu bieten, um dem rasanten Aufstieg des Ökonomismus entgegenzuwirken und ein ökologisch nachhaltiges und gerechteres Entwicklungsmodell voranzutreiben.47 Die Ablehnung großer Erzählungen als ›metaphysisch‹ vermag den menschlichen Wunsch nach einem sinnvollen Leben freilich nicht zu zerstreuen. Aus diesem Grund haben andere Disziplinen und Akteure die von den Geisteswissenschaften hinterlassene Lücke gefüllt und begonnen, genau jene Art von großen Erzählungen zu entwerfen, die postmoderne Denker angesichts des ›Endes der Geschichte‹, wie Fukuyama (1989) es nannte, für überflüssig oder sogar gefährlich hielten. Die erfolgreichste große Erzählung, die diese Leerstelle zu füllen versucht hat, ist der Neoliberalismus: Die Idee, dass wir keine Narrative brauchen, um die Märkte zu globalisieren, ist selbst zu einem großen Narrativ geworden, das allzu oft unkritisch als politisches Dogma akzeptiert wurde.
Inzwischen ist klar geworden, dass es verfrüht war, das ›Ende der Geschichte‹ und das Ende der großen Erzählungen zu verkünden. Daraus erklärt sich dann auch das gesellschaftliche Bedürfnis nach Narrativen und Werturteilen, die zu einem positiven sozialen Wandel beitragen können. Es hat in den Geistes- und Sozialwissenschaften immer wieder bemerkenswerte Ausnahmen gegeben, die näher an den Anforderungen der Gesellschaft geblieben sind. Das gilt vor allem für einzelne Bereiche der angewandten Ethik und für bestimmte normative Disziplinen, die in der Politikberatung eine Rolle gespielt haben, etwa die Rechts- oder Wirtschaftswissenschaften. Es gibt Anzeichen dafür, dass sich die Situation gerade grundlegend ändert. Die digitale Revolution und die Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz haben den Bedarf an normativer Beratung deutlich gemacht und in vielen Forschungsprojekten zu einer engen Zusammenarbeit zwischen Forschern mit ganz unterschiedlichem Hintergrund geführt. Noch deutlicher wird dies im Fall der ökologischen Krise, die im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht und eine wichtige Quelle für das Gefühl der Dringlichkeit ist, das unser Zeitalter der verschachtelten Krisen charakterisiert.
Während die traditionelle Weisheitslehre auf einer Kosmologie beruhte, die allen ihren Platz zuwies und ihnen sagte, was das Gute ist, verbreitete die säkulare Politik die Überzeugung, dass wir letztlich »allein sind, ohne Ausreden«, wie Sartre (2007: 29) in seinem Buch Der Existentialismus ist ein Humanismus schreibt. Und tatsächlich haben wir heute keine Ausreden mehr, denn unser demografisches Gewicht, unser ökologischer Fußabdruck und unsere technologische Leistungsfähigkeit machen unsere menschliche Verantwortung hyperbolisch. Allerdings ist die säkulare Ethik, wie viele Moralphilosophen betonen, ein noch recht junges Forschungsgebiet; denn die Ethik wurde lange Zeit von verschiedenen theologischen Glaubenssystemen bestimmt, die nicht universell geteilt werden konnten.48 Die säkulare Ethik als Teil der Geistes- und Sozialwissenschaften schließt religiöse Sphären der Normativität nicht von der Betrachtung aus, zumal sich Theologie und Religionswissenschaft (neben anderen Disziplinen) explizit mit religiösen Werten und Wertvorstellungen befassen, die in ethische Werturteile einfließen, ohne sie auf irgendeine Art von göttlicher Offenbarung zu reduzieren.49
Die menschliche Entscheidungsfindung wird immer von Narrativen beeinflusst. Menschen projizieren sich selbst in die Zukunft, und das ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der Struktur menschlichen Handelns. Auf diese Weise produzieren Menschen individuelle und kollektive Narrative, durch die sie ihre historisch und gesellschaftlich bedingten Perspektiven explizit und kommunizierbar machen. Verwirrende Normativitätsebenen führen leicht zu falschen und sozial schädlichen Narrativen. In Zeiten zunehmender sozialer Komplexität und damit einhergehender Unsicherheit ist die Versuchung groß, sich an vereinfachende Narrative zu klammern, also Ideologien zu produzieren. Die kritische Auseinandersetzung mit vorhandenen Narrativen ist daher bereits ein möglicher Beitrag zum positiven sozialen Wandel.
Die humanistische Anerkennung einer Kultur und ihrer sozialen Komplexität ist kein Handlungshindernis, sondern kann in ein nicht-reduktives Verständnis der conditio humana einfließen, das wir dringend brauchen, um die globalen und damit im Wesentlichen multikulturellen Bedingungen der Produktion und Reproduktion von Gütern, Dienstleistungen, Gedanken und Erfahrungen zu bewältigen. Neue globale Lösungen für die vor uns liegenden Herausforderungen verlangen die Überwindung der Idee eines Zentrums gesamtgesellschaftlichen Handelns und eine klare Fokussierung auf Ziele.
Die Erklärung der charakteristischen Merkmale menschlichen Handelns setzt voraus, dass wir auf Erzählungen zurückgreifen. Auf individueller Ebene betrachten die Menschen ihr Leben im Lichte ihrer Biografien, die sie durch ihre Entscheidungen mitgestalten. Auf kollektiver Ebene werden soziale Identitäten als Narrative von Generation zu Generation weitergegeben, und zwar in Form von sozialen Zukunftsbildern, kulturellen Erinnerungen, Mythologien, Ritualen usw., deren Funktion es ist, allgemeine normative Leitlinien bereitzustellen. Narrative konstituieren dynamische Identitäten, die es uns ermöglichen, die Zukunft zu antizipieren sowie Handlungsoptionen und existenzielle Möglichkeiten zu erkennen, die uns in der Gegenwart offenstehen.50
Für die Geisteswissenschaften ist es an der Zeit, ein Selbstverständnis zu entwickeln, das sie in die Lage versetzt, die bereits existierenden und miteinander konkurrierenden Großnarrative kritisch zu hinterfragen und gleichzeitig neue Perspektiven der Sinn- und Bedeutungsgebung zu eröffnen. Das Nachdenken über falsche Narrative zu gesellschaftlich wichtigen Themen (etwa sozialen Ungerechtigkeiten aller Art) kann niemals in einem wertfreien Raum stattfinden.
In Anbetracht der herausragenden Rolle, die der Begriff des Narrativs im gegenwärtigen sozioökonomischen und politischen Diskurs spielt, ist es erstaunlich, dass seine Verwendung noch nicht an bestimmte Ebenen von Normativität gebunden ist. Narrative können besser oder schlechter, mehr oder weniger nützlich sein; sie können überprüft werden, indem man sie mit den Tatsachen abgleicht und so den Wahrheitswert einiger ihrer Behauptungen bewertet und feststellt, wie sich die Behauptungen zu einer plotartigen, narrativen Struktur der Sinnstiftung zusammenfügen.
Wir schlagen vor, die Geisteswissenschaften als konzeptionelle Werkzeuge zu betrachten, die in der Lage sind, den vagen politischen Begriff der Erzählung zu schärfen, indem sie auf mehreren Ebenen konzeptionelle und partizipatorische Instrumente bereitstellen, um Theorie und Praxis miteinander zu versöhnen. Dies bedeutet, dass wir einen Top-Down-Ansatz vermeiden sollten, dem zufolge akademisches Wissen einfach auf andere Bereiche der Gesellschaft übertragen werden muss. Vielmehr müssen die Methoden, Instrumente und Ergebnisse, die in den Geistes- und Sozialwissenschaften entwickelt werden, in andere Kontexte übertragen werden, was eine umfangreiche sektorübergreifende Zusammenarbeit erfordert, die über das ›business as usual‹ hinausgeht:
- Auf der individuellen Ebene ist das Erzählen insofern von Bedeutung, als die erzählerische Darstellung der persönlichen Identität und Subjektivität zu Recht eine entscheidende Dimension des Handelns darstellt. Menschen führen ihr Leben im Lichte einer Vorstellung davon, woher sie kommen, wer sie sind und wer sie sein wollen. In diesem Zusammenhang erzählen sie Geschichten, die ganz konkreten Handlungen einen Sinn verleihen, Geschichten, die einen Sinnhorizont eröffnen. Die Geistes- und Sozialwissenschaften (von der Literatur- und Kunstkritik bis zur politischen Theorie, von der Philosophie bis zur Soziologie, von der Rechtswissenschaft bis zur Geschichtswissenschaft, von der Sinologie bis zu den Medienwissenschaften usw.) bieten in ihrem breitestmöglichen Spektrum an Disziplinen und Aktivitäten ein Verständnis und eine Erklärung dafür, wie Narrative auf individueller Ebene konstruiert werden und welche Maßstäbe wir bei ihrer Beurteilung und Bewertung anlegen sollten. Diese Maßstäbe sind den Gegenständen der Geisteswissenschaften nicht äußerlich. Vielmehr ist die Vorstellung von einem Leben, das im Lichte der Geschichten geführt wird, die man über sich selbst erzählt, als solche wertgeladen; sie bietet ihr eigenes normatives Selbstverständnis. Doch Narrative können auf vielfältige Weise erfolgreich sein und scheitern. Sie können manipuliert werden, aus Ideologie und Propaganda hervorgehen;51 sie können wegweisende und lebensverändernde Formen der Problemlösung anbieten, von Ängsten befreien und auf individueller Ebene wesentlich zur Krisenbewältigung beitragen (wie aus der narratologischen Architektur der Psychoanalyse und anderer psychologischer Behandlungsformen bekannt ist).
- Auf einer kollektiven, sozialen Ebene kommen Narrative ins Spiel, wenn Gruppen sich im Lichte fiktiver Darstellungen ihrer selbst organisieren. Sozial zu
sein bedeutet, in das Geschichtenerzählen, in die kollektive Vorstellungskraft und in Akte gemeinsamer Transzendenz eingebunden
zu sein: Das unmittelbare soziale Umfeld wird von jeder Gruppe im Hinblick auf ein gemeinsames (manchmal konflikthaftes, manchmal
positiv koordiniertes) Verständnis des Schwerpunkts einer sinnvollen Tätigkeit transzendiert.52
Regime und Institutionen sind besonders gute Beispiele für solche Kollektive. In den Sozial- und Politikwissenschaften geht die Vorstellung von Nationen als ›imaginierten Gemeinschaften‹ (Anderson 2016) in eine ähnliche Richtung, und die Präambel einer Verfassung kann als Ausdruck damit verbundener Geschichten über kollektive Vergangenheiten und Zukünfte gelesen werden. Viele transnationale Gemeinschaften können als Regime betrachtet werden, die durch ein legitimierendes Narrativ, das in die Gemeinschaftspraktiken eingebettet ist, geeint und unterschieden werden. - In der hier aus Gründen der Übersichtlichkeit gewählten Reihenfolge ist die Menschheit die höchste Ebene der Bildung sozialer
Identität. Menschen können als jene Art von Tieren betrachtet werden, die ihr Leben grundsätzlich im Lichte unterschiedlicher
Selbstbilder führen. Während sich Individuen und Kollektive hinsichtlich ihrer spezifischen Wertvorstellungen, Narrative und
Ziele unterscheiden (was die Grundlage des liberalen Pluralismus als unverzichtbarem Parameter jeglicher Wertbildung ist),
gibt es doch eine übergreifende, allgemeine Fähigkeit, nämlich die Fähigkeit, die eigenen individuellen oder kollektiven Annahmen
über den Sinn des (menschlichen) Lebens selbst zu spezifizieren. Die Menschen haben ein transkulturelles Verständnis ihrer
Fähigkeit, Individuen zu sein. Markus Gabriel hat dies als »Anthropologie höherer Ordnung« bezeichnet (Gabriel 2021: 65):
Alle Selbstverständnisse niedrigerer Ordnung (wie der homo oeconomicus, der homo metaphysicus, der homo ludens oder der homo pictor) sind in der universellen Fähigkeit begründet, ein menschliches Selbstbildnis zu spezifizieren.
Für unsere Zwecke kann ein Narrativ als »eine diskursive Form betrachtet werden, die einen semantischen Raum für die Integration und Anordnung einer Vielzahl von Repräsentationen eröffnet« (Gumbrecht 2004b: 23). An dieser Stelle muss jedoch ein bekannter Fallstrick vermieden werden. Die geisteswissenschaftliche ›Produktion von Komplexität‹ durch Berücksichtigung multipler Perspektiven auf soziale und ökologische Transformationsprozesse auf der Mikro-, Meso- und Makroebene sollte nicht dazu verleiten, jene Arten von Tatsachen aus den Augen zu verlieren, die sich durch Interpretation nicht verändern lassen. Es wäre ein Fehler, die Natur mit dieser Kategorie von Tatsachen zu identifizieren. Soziale und historische Tatsachen können ebenso ›unabänderlich‹53 und fest sein wie geologische Tatsachen, was ein wesentlicher Bestandteil jeder Erklärung der Kraft von Normativität ist. Die Normativität und damit die Quelle der Werte ist untrennbar mit den Tatsachen der menschlichen und nicht-menschlichen Natur sowie mit den genealogischen Tatsachen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der sozialen Sphären verbunden.
Recht und Rechtskritik
Ähnlich wie die Kunst spielt auch das Recht eine wichtige Rolle in der Gesellschaft; denn es ermöglicht und begrenzt nicht nur das Regieren, sondern auch die alltägliche Interaktion. Zudem prägt es die Gesellschaften in ihrem jeweiligen Selbstverständnis – sei es durch Verfassungen, durch die Bekräftigung von Werten, durch öffentliche Debatten oder durch viele übergreifende Konzepte wie das der Souveränität, der Gewaltenteilung oder der Staatsbürgerschaft. Ohne das Wissen um die integrative Kraft des Rechts wäre es beispielsweise schwierig, die europäischen Gesellschaften zu verstehen.54 Das Recht beeinflusst die umfassenderen Prozesse der gemeinschaftlichen Sinnstiftung, und wenn es um die Auslegung von Gesetzen geht, formt es die Gesellschaft und wird von ihr geformt. Wie Robert Cover bemerkte, ist das Recht »nicht nur ein System von Regeln, die zu beachten sind, sondern eine Welt, in der wir leben« (Cover 1983: 4 f.).
Die liberalen Demokratien haben das Recht als Mittel der individuellen und kollektiven Selbstbestimmung zur Verwirklichung privater und öffentlicher Autonomie geschaffen, vor allem durch Verträge und Gesetze. Es wäre jedoch ein Fehler, ein einmal niedergeschriebenes Gesetz als etwas Statisches zu betrachten, das mit einer Bedeutung ausgestattet ist, die sich gewissermaßen selbst offenbart. Man sollte ein Gesetz besser in Analogie zu einem Kunstwerk mit offener Textur betrachten und ein Rechtsurteil mit der Ästhetik in Verbindung bringen. Das Recht bietet den Boden für Kämpfe um seine Bedeutung, in denen subjektive Urteile um Objektivität konkurrieren. Im operativen juristischen Diskurs strukturieren Auslegungsregeln die Rechtfertigung eines jeden Urteils auf unterschiedliche Weise, und in einem institutionalisierten System können juristische Kontroversen oft durch autoritative Gerichtsentscheidungen gelöst werden. Doch zum einen ist keine Auslegung und kein Gerichtsurteil vollständig durch das Gesetz vorgegeben, und zum anderen ist jede Gerichtsentscheidung wiederum in einer Weise interpretierbar, die zu keinem Ende führt.
Unter solchen Voraussetzungen kann die Rechtskritik viele verschiedene Formen annehmen.55 Einige Rechtsauslegungen sind im Sinne des Gesetzes immer auch besser als andere. Der offene Prozess des juristischen Diskurses fördert eine nicht-reduzierbare Form von rechtlicher Normativität. Gleichwohl können und sollen Annahmen über die Legitimität des Rechts selbstverständlich kritisiert und widerlegt werden, sei es im Lichte der praktischen Moral, im Sinne einer Hermeneutik des Verdachts, als Ideologie oder auf andere Weise. Die Tatsache, dass das Recht so eng an die Mechanismen der Macht und das Streben nach Gerechtigkeit gebunden ist, trägt zu seiner zentralen Rolle in der Gesellschaft bei. Das Recht zeigt Spuren des Besten und des Schlimmsten; denn es ist eine Bestandsaufnahme von Herrschaftsmustern und Emanzipationsbestrebungen auf nationaler, subnationaler und internationaler Politikebene. Jede Kritik wirft Fragen nach dem Standpunkt des Kritikers, seiner sozialen Position und seinem Streben nach Objektivität auf. Aber damit steht weder der Rechts- noch der Kunstkritiker alleine da, und die Tatsache, dass jeder Ausgangspunkt der Kritik spezifisch ist, bedeutet noch lange nicht, dass die Kritik auch dort enden muss.56