4. Die Geistes- und Sozialwissenschaften müssen ihre integrative Kraft entfalten
Die Dynamik innerhalb der Disziplinen und die Organisation der Forschung haben die Entstehung integrativer Ansätze behindert. Im Zuge der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft ist es auch in der Wissenschaft zu einer starken Spezialisierung und einer bemerkenswerten Akkumulation von Fachwissen gekommen. Dies hat jedoch auch die Nachteile von Silos mit sich gebracht: tiefe, aber enge Sichtweisen auf die soziale Welt. Disziplinäre Identitäten und professionelle Zugehörigkeiten wurden in negativer Abgrenzung zu den jeweils anderen konstruiert. Die Entwicklung der angeblich wertfreien Mainstream-Ökonomie mit ihrem kläglichen Versuch, sich ihrer normativen Grundlagen zu entledigen, ist da nur ein besonders abschreckendes Beispiel.
Ähnliches gilt für jene Teile der Geisteswissenschaften, die in bemerkenswerter Distanz zu den Tatsachen theoretisiert haben. Eine praktische Philosophie ohne Praxis ist ebenso fragwürdig wie eine Rechtstheorie, die schlecht auf die Funktionsweise des Rechts abgestimmt ist. Beispiele für beides gibt es zuhauf. Zu den Faktoren, die eine disziplinäre Selbstisolierung begünstigen, gehört neben persönlichen Karriereplanungen auch die Bedeutung der in einschlägigen Rankings führenden wissenschaftlichen Fachzeitschriften, die durch hohe methodologische Anforderungen die Kreativität unterdrücken können. Bahnbrechende inter- oder multidisziplinäre Studien waren natürlich auch bisher möglich, sind aber immer noch allzu selten.
Die Geisteswissenschaften werden nur dann in ihren Bemühungen erfolgreich sein, wenn es ihnen gelingt, Brücken zwischen Kulturen und Kontinenten zu bauen – Brücken, die auf der Überzeugung beruhen, dass wir uns der anderen, der Vergangenheit und der Pfadabhängigkeiten unseres gegenwärtigen Lebens bewusst sein müssen, wenn wir die Zukunft verantwortungsvoll gestalten wollen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sollten in den historischen Zeiträumen, in die wir als situierte Subjekte eingebettet sind, miteinander verbunden sein.57
Philologische, historische oder philosophische Ansätze sind oft durch enge Wechselwirkungen zwischen Subjekt und Objekt charakterisiert, also zwischen denjenigen, die zu verstehen und zu interpretieren versuchen, und den Dingen, die interpretiert werden sollen. In einem seiner klassischen Bücher unterstreicht Theodor Litt die Bedeutung des Willens, die Zukunft mitzugestalten, wenn es um die Analyse der Gegenwart und ihrer historischen Voraussetzungen geht.58 Litt zufolge ist es unerlässlich, dass der Geisteswissenschaftler unvoreingenommen, unparteiisch, vielleicht sogar objektiv an die Untersuchungsgegenstände herangeht, also »voller Selbstverleugnung« (Litt 1926: 413). Die Fähigkeit und die Bereitschaft, mehr über den Untersuchungsgegenstand zu erfahren, müssen eng mit einer festen Basis im gegenwärtigen Leben verbunden sein. Andernfalls werden wir mit einer Unmenge sinn- und bedeutungsloser Notizen enden.
Angesichts der Möglichkeiten, aber auch der Grenzen und Beschränkungen geisteswissenschaftlicher Forschung ist es dringend geboten, deren interpretierende, erklärende und provokative Kraft zu nutzen. Die meisten Fragen, mit denen wir in unserer globalisierten Welt konfrontiert sind, lassen sich ohne inter- oder transdisziplinäre Ansätze gar nicht lösen. Doch eine solche Herangehensweise ist nicht einfach zu planen, schwer zu finanzieren und bereitet den Verantwortlichen in den Universitäten und Förderinstitutionen oft viel Kopfzerbrechen. Dennoch müssen wir alles daransetzen, die Voraussetzungen für solche ambitionierten Projekte zu schaffen, um die komplexen Gegebenheiten einer zunehmend multipolaren und vernetzten Welt in den 2020er Jahren und danach zu meistern.
Die Erfahrung lehrt uns, dass sich die Integrationskraft der Geistes- und Sozialwissenschaften am besten entfalten kann, wenn das Projekt in einem mittleren Rahmen durchgeführt und gewissermaßen von der Problematik selbst angetrieben wird. Nur wenn das zu lösende Problem selbst die Forscher dazu bringt, ihr diesbezügliches Fachwissen zu bündeln, werden sie ihre integrativen Fähigkeiten in vollem Umfang entfalten und zu Einsichten gelangen können, die zu radikal neuen Perspektiven und herausragenden Veröffentlichungen führen.59
Unsere akademischen Institutionen sind noch immer weitgehend nach Disziplinen organisiert. Doch dieser institutionelle Rahmen ist längst selbst Gegenstand einer wertgeladenen Auseinandersetzung; denn es gilt, einige der begrifflichen Grenzen zwischen den Disziplinen zu überwinden, um ihre jeweiligen Wertfundamente in den Blick zu bekommen. Dieses reflexive Manöver ist für die Bewältigung der sozialen Komplexität, zu der auch die institutionelle Neuverortung der Geisteswissenschaften gehört, von entscheidender Bedeutung.60
Wenn es darum geht, zumindest einige der anstehenden Herausforderungen in Angriff zu nehmen, kann man zwischen fünf verschiedenen Ebenen oder Versuchen der Integration unterscheiden:
- Die bloße Akkumulation von Methoden und Techniken ist die häufigste Form der Kombination verschiedener Perspektiven bei der Betrachtung ein und desselben Objekts. Diesen Weg beschreiten vor allem multidisziplinäre Ansätze, und in der Regel können alle beteiligten Forscher so ihre jeweiligen disziplinären Gemeinschaften ansprechen. Im Hinblick auf die weitere Karriere wird von den beteiligten Nachwuchswissenschaftlern oft sogar verlangt, dass sie sich an eben diesen autarken disziplinären Modus einer eher mäßig integrierten Vorgehensweise halten.
- Die Integration von Kompetenzen aus anderen Disziplinen ist eine der wichtigsten Möglichkeiten, wenn es um Forschungsfragen globaler Natur geht. Für viele Bereiche der Geistes- und Sozialwissenschaften (etwa bei Untersuchungen über das moderne China oder Indien) ist sie sogar unabdingbar, um fundierte Erkenntnisse über die jeweilige Region oder Thematik zu gewinnen, insbesondere wenn es um kulturübergreifende und vergleichende Studien geht.
- Verschiedene Methoden und disziplinäres Know-how in ein und derselben Person zu bündeln, ist vielleicht der ambitionierteste (und wohl auch mühsamste) Weg, um das notwendige Maß an intimer Kenntnis über den zu untersuchenden Gegenstand zu erlangen. Wird dieser Ansatz mit Kompetenz und Ausdauer verfolgt, kann er zu herausragenden und weltweit anerkannten Forschungsergebnissen führen, aus denen Bücher des Typs opera magna hervorgehen, die dann in viele Sprachen übersetzt werden.
- Die inter- oder transdisziplinäre Bündelung von Kompetenzen in einer mittelgroßen Forschungsgruppe ist eine komplexe Angelegenheit, doch wenn sie sowohl thematisch als auch methodisch und organisatorisch integriert ist, erweist sie sich in den meisten Fällen als die beste Vorgehensweise. Der von der Danish National Research Foundation verfolgte Ansatz ist vermutlich der bisher erfolgreichste.
- Problemorientierte Kompetenzbündelungen sind die häufigsten Ansätze in groß angelegten Projekten und Programmen. Sie sehen sich allerdings oft mit enormen Spannungen konfrontiert: (1) zwischen der Heterogenität der zu untersuchenden Phänomene und dem Streben nach methodischer Kohärenz im gesamten Projekt, (2) zwischen der oft mikroskopischen Detailversessenheit auf der einen und dem Streben nach einer umfassenden Erklärung auf der anderen Seite, und nicht zuletzt (3) zwischen der Tendenz aller Beteiligten zur disziplinären Selbstgenügsamkeit und der gleichzeitigen Neigung zu epistemischer Unbescheidenheit hinsichtlich der Wissensansprüche gegenüber den übergeordneten Zielen. Clusteransätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften sind Paradebeispiele für diese großen Diskrepanzen zwischen den angestrebten Zielen und der Alltagswirklichkeit der Arbeit.
Gleichzeitig ist es für die Geisteswissenschaften von größter Bedeutung, sich auch an der von Neugier getriebenen Grundlagen- oder ›Blue Sky‹-Forschung zu orientieren – schon um nicht Gefahr zu laufen, zu einer ›Dienstleistungsindustrie‹ für Problemlösungen in Wissenschaft und Technik zu werden. Stattdessen müssen sie ihre eigenen, originären Forschungsfragen entwickeln, mit denen sie einen wichtigen Beitrag zu sozialen, kulturellen oder wirtschaftlichen Problemlösungen leisten können. In unserer digitalisierten und globalisierten Welt mit all ihren Vernetzungs- und Interaktionsmöglichkeiten ist es geradezu unabdingbar, dass die Geisteswissenschaften deutlich machen, wie sehr uns diese Begegnungen bei der Entfaltung unserer Persönlichkeiten und der Kultivierung unserer Tugenden helfen. Denn letztlich ist es doch immer der andere, der mir hilft, mich selbst und meine Umwelt besser zu verstehen als zuvor. Eine solche Kontextualisierung der Geisteswissenschaften verbindet nicht nur die Gegenwart mit der Vergangenheit, sondern setzt auch große Hoffnungen in die Zukunft.