8.Radikal-revolutionäre Politik
Marx’ Vision
8.1Die Zuspitzung des Gegensatzes als Möglichkeit und Notwendigkeit
Marx erkennt in der Geschichte der menschlichen Entwicklung ein Gesetz, wonach unterschiedliche Entwicklungsstadien der Produktionsverhältnisse aufeinanderfolgen. Doch obgleich auch die Entwicklung der bürgerlichen Klassengesellschaft nach dem Gesetz der Geschichte verläuft, also durch eine der Gesellschaft bisher unbewusste ökonomische Eigendynamik und -gesetzlichkeit bestimmt ist, sieht Marx darin doch eine Besonderheit. Er erkennt in den Verhältnissen der bürgerlichen Klassengesellschaft erstmalig Möglichkeiten, die historische Zwangsläufigkeit zu überwinden1 und damit Gestaltungsfreiheit zu erreichen. Das Bewusstsein der Kontingenz der gesellschaftlichen Entwicklung bedarf eines weiteren Schrittes.
Im Folgenden soll nun Marx’ Vorstellung einer modernen Gesellschaft erläutert werden, die sich der tatsächlichen Kontingenz bewusst wird und damit Gestaltungsfreiheit erreicht. Diese kann allerdings nur ein Ergebnis einer bestimmten Form von Politik sein, nämlich einer radikal-revolutionären Politik als bewusste Überwindungstat des historischen Widerspruchs zwischen angehäufter und unmittelbarer Arbeit und der bisherigen Geschichte insgesamt. Radikal-revolutionäre Politik daher, weil sie auf das fundamental andere abzielt. Ziel der radikal-revolutionären Politik ist die kommunistische Gesellschaft, worunter allerdings kein fixer Zustand zu verstehen ist, wie sich zeigen wird. Es werden zunächst die Grundlagen dargestellt, welche Marx für diese radikal-revolutionäre Politik in der bürgerlichen Klassengesellschaft erkannte. Möglichkeit und Notwendigkeit der Überwindung sind für ihn ein Ergebnis der bisherigen Entwicklung des historischen Widerspruchs, als solche allerdings historisch erstmalig und daher spezifisch. Auch die Entwicklung des Widerspruchs in der bürgerlichen Klassengesellschaft ist damit ein besonderer Prozess, um den es in einem ersten Schritt geht. Sodann wird auf den Akteur der radikal-revolutionären Politik eingegangen. Auch diesen und dessen Bewusstsein beschreibt Marx als spezifische Folge der bisherigen Entwicklung. Dieser Akteur, so wird deutlich werden, zielt nicht nur auf die Überwindung der bürgerlichen Klassengesellschaft, sondern auf eine fundamental andere Gesellschaftsformation. Grundlage dafür ist die Bewusstwerdung der bestehenden Kontingenz der gesellschaftlichen Entwicklung, als die Bewusstwerdung der bereits bestehenden radikalen Alternative.
Dem Gegensatz von angehäufter und unmittelbarer Arbeit ist grundsätzlich eine Intensivierungsdynamik immanent. Darin besteht geradezu das Herzstück des Historischen Materialismus. Die Menschheitsgeschichte hat demnach bisher immer neue Spitzen der Intensivierung erreicht, denen immer die revolutionäre Überwindung der vormaligen Gesellschaftsformation folgte. Die bürgerliche Klassengesellschaft ist innerhalb dieser Entwicklung der letzte Schritt. Ihr und ihrer Entwicklung kommt eine besondere, eine historisch spezifische Bedeutung zu. Die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse beschreibt Marx als spiralförmig.2 Sie läuft, wie bisher alles, auf einen bestimmten, diesmal aber besonderen Punkt zu.
Antrieb dieser spiralförmigen Entwicklung ist, dass das Kapital ständig verwertet und neuer Mehrwert generiert werden muss. Es ist ein
»Effekt des einmal entstandenen Kapitals und seines Prozesses, sich alle Produktion zu unterwerfen und überall die Scheidung zwischen Arbeit und Eigentum, zwischen der Arbeit und den objektiven Bedingungen der Arbeit zu entwickeln und durchzuführen«3.
Marx erkennt die historische Leistung der kapitalistischen Produktionsweise darin, erstmals eine große Anzahl von Arbeitskräften zu einer Zeit und an einem Ort für eine einheitlich intendierte Produktion einzusetzen. Es war dies die Grundlage, worauf sich die Möglichkeiten der Produktion in historisch bisher nicht gekanntem Maße ausdehnen konnten und womit erstmals die Grundlage der Emanzipation der modernen Gesellschaft überhaupt gelegt wurde. Im Manifest der Kommunistischen Partei erklingt Marx’ Analyse als eine sarkastische Hommage an die Bourgeoisie:
»Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose, ›bare Zahlung‹. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.«4
Erst die kapitalistische Produktionsweise hat menschliche Kräfte hervorgebracht, die zu ganz anderen Gewerken in der Lage sind als alle und fürwahr beeindruckenden historischen Bauten etwa des ägyptischen Pharaonenreichs oder des Römischen Reiches. Es ist eine neue, eine »brutale Kraftäußerung«5. Wenn es einen Denker gibt, der in der technologischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung seiner Zeit große Potenziale für und als Fortschritt in eine bessere Welt sah, dann ist das Marx. In der Entwicklung der Produktivkräfte besteht für ihn überhaupt die »historische Aufgabe und Berechtigung des Kapitals«6.
Dementsprechend leistet die Entwicklung der kapitalistischen Produktion laut Marx durchaus einen zentralen Beitrag für die gesellschaftliche Entwicklung hin zu einem guten Leben aller Individuen. Aus dem kapitalistischen »Zwang und […] [der] Monopolisierung der gesellschaftlichen Entwicklung«7 ergibt sich demnach überhaupt erst die Möglichkeit der Überwindung dieser Produktionsweise. Die kapitalistische Produktionsweise ist für Marx die »letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses. […] Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab«8. Die bürgerliche Klassengesellschaft ist insofern so etwas wie eine letzte Entwicklungsstufe. Neben der Systematik der historischen Entwicklung wollte Marx insbesondere diese letzte Stufe verstehen und dadurch »revolutionäre Konsequenzen«9 hervorrufen, wie Harald Bluhm bemerkt.
Hinter den Schleiern der kapitalistischen Handlungszusammenhängen wird immer deutlicher, dass die isoliert produzierenden Menschen durch ihre Tätigkeit »das menschliche Gemeinwesen, das gesellschaftliche Wesen«, nicht als »abstrakt-allgemeine Macht« hervorbringen, sondern als jedem einzelnen Menschen zugehörig und insofern konkret, als »eigne Tätigkeit, sein eignes Wesen, sein eigner Geist, sein eigner Reichtum«.10 Alles drängt durch die Intensivierung des Gegensatzes in der bürgerlichen Klassengesellschaft immer stärker vor den Vorhang, wird ersichtlicher.
Die gesamte kapitalistische Produktionsweise hebt die bürgerliche Gesellschaft auf ein Niveau, auf dem die gesellschaftliche Produktion als solche die Möglichkeit bietet, unvermittelt und direkt füreinander zu produzieren. Die »göttliche Kraft des Geldes« als Intermediär in der kapitalistischen Produktion liegt – zur Erinnerung –, »in seinem Wesen als dem entfremdeten, entäußernden und sich veräußernden Gattungswesen der Menschen.«11 Es eröffnet sich die Möglichkeit, den Fetisch der Warenform und damit auch den Geldfetisch als diesen bewusst zu erkennen, hinter die Erscheinung zu schauen und damit das eigentliche Wesen – die unverschleierte Realität, also das menschliche Gattungswesen – zu sehen. Die entwickelte kapitalistische Produktionsweise ermöglicht, dass in der planmäßigen Kooperation verschiedener Arbeiten, »der Arbeiter seine individuellen Schranken« ablegt, die in den kapitalistischen Verhältnissen selbst bestehen und steht damit für die Chance, dieses »Gattungswesen« direkt und unvermittelt zu entwickeln.12 Ausdruck des Gattungswesen ist laut Marx, die arbeitsteilige Produktion zum Ziel des gesellschaftlichen Genusses. Im Gattungswesen vervollkommnen sich die Individuen gegenseitig durch ihre Unterschiedlichkeit.13 Im Gattungswesen ›bejahen‹ sich die Individuen doppelt, einmal zu sich selbst und einmal zum anderen als bedürftigem Wesen.14
Es gibt einen begrifflichen Konnex zwischen dem Arbeiter als Menschen und dem Arbeiter als Gattungswesen. Gattungswesen bedeutet somit die gemeinschaftliche Produktion und Reproduktion, welche durch die kapitalistischen Verhältnisse als vermeintlich eigenständiger Markt den Individuen als etwas Fremdes gegenübertritt. Die Individuen können sich in der bürgerlichen Gesellschaft mit der Vergegenständlichung des Gattungswesens nicht mehr identifizieren. Insofern tritt im Laufe der Entwicklung der Produktivkräfte immer deutlicher das Missverhältnis von produziertem Gattungswesen und den gesellschaftlichen Verhältnissen auf, weil die Individuen das Gattungswesen als solches nicht mehr erkennen, ist es doch durch den oder als Markt oder Geld verkleidet. Auf den Markt und dessen Bedingungen lässt sich der Arbeiter nicht aus der Erkenntnis seiner selbst als Gattungswesen ein. Er lässt sich auf den Markt ein, weil dieser das verschleierte Gattungswesen ist und das Individuum darin als egoistisches Wesen operiert, das für sich selbst Tauschwerte produziert, um es gegen andere einzutauschen. Als Gattungswesen jedoch wüsste das Individuum nicht nur um die eigenen Bedürfnisse, sondern auch um die der anderen. Daher bedeutete dann individuelle Produktion zugleich Produktion zur Bedürfnisbefriedigung aller. Dabei wäre nicht die Befriedigung fremder Bedürfnisse nur Mittel der eigenen Bedürfnisbefriedigung, sondern tatsächlicher ›Selbstzweck‹. Im Austausch also bestätigte sich das Gattungswesen der Menschen.15 Das Gattungswesen zeigt sich in der bürgerlichen Gesellschaft verzerrt, ist aber als solches durchaus schon vorhanden. Je weiter es sich entwickelt, desto mehr engen sich die kapitalistischen Verzerrungen ein und desto stärker werden die Reibungen zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Das verschleierte Gattungswesen kämpft gegen die Schleier und strebt immer mehr danach, vor den Vorhang zu kommen.
Die kapitalistische Entwicklung stößt offensichtlich im Verlauf auf Grenzen in ihrer spiralförmigen Entwicklung, wie sich hier zunächst exemplarisch anhand des Gattungswesen zeigte. Hinsichtlich der spiralförmigen Entwicklung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse schreibt Marx:
»Alle Fortschritte der Zivilisation […] bereichern nicht den Arbeiter, sondern das Kapital; vergrößern also nur die die Arbeit beherrschende Macht; vermehren nur die Produktivkraft des Kapitals.«16
Alle Steigerungen der gesellschaftlichen Produktivität gehen allerdings zulasten des Arbeiters.
Sie »verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine, vernichten mit der Qual seiner Arbeit ihren Inhalt, entfremden ihm die geistigen Potenzen des Arbeitsprozesses im selben Maße, worin letzterem die Wissenschaft als selbständige Potenz einverleibt wird; sie verunstalten die Bedingungen, innerhalb deren er arbeitet, unterwerfen ihn während des Arbeitsprozesses der kleinlichst gehässigen Despotie, verwandeln seine Lebenszeit in Arbeitszeit, schleudern sein Weib und Kind unter das Juggernaut-Rad des Kapitals«17.
Die gesamte kapitalistische Entwicklung der Produktivkräfte endet in einem »Opferfest der Arbeiterklasse, maßlosester Vergeudung der Arbeitskräfte und den Verheerungen gesellschaftlicher Anarchie«18. Es ist dies die
»vollständigste Anarchie, innerhalb deren der gesellschaftliche Zusammenhang der Produktion sich nur als übermächtiges Naturgesetz der individuellen Willkür gegenüber geltend macht«19.
Dort wo der Arbeiter schlicht Opfer von verheerender Ausbeutung ist, steht der Kapitalist unter dem Zwang des Profits. Beides ist den Individuen als Naturgesetz, jedochnicht als kontingente Entwicklung bewusst. Das wurde bereits erläutert.
Fraglich ist dann, ob die Möglichkeit radikal-revolutionärer Politik dennoch selbst an ein bestimmtes Entwicklungsstadium der kapitalistischen Produktivkräfte gebunden ist.20 Ohne die hinreichende Entwicklung der Produktivkräfte wäre jede neue Gesellschaftsformation nur die Verallgemeinerung des »Mangels« und »mit der Notdurft [würde] auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße« von Neuem beginnen, wie Marx bildlich notiert.21
Widersprüche bezeichnet Marx als »einzig geschichtliche[n] Weg ihrer Auflösung und Neugestaltung«22. Auf der einen Seite schafft die kapitalistische Produktionsweise als Spitze der Entwicklung überhaupt erst die Bedingungen radikal-revolutionärer Politik, auf der anderen Seite bedeutet diese Entwicklung wachsendes Elend. »Ohne Gegensatz kein Fortschritt«, ist Marx’ Kommentar dazu: »Bis jetzt haben sich die Produktivkräfte auf Grund dieser Herrschaft des Klassengegensatzes entwickelt.«23 Das ist das »Gesetz«24 der Geschichte, das im Historischen Materialismus von Marx wie folgt formuliert wird:
»Daß diese Entwicklung der Fähigkeiten der Gattung Mensch, obgleich sie sich zunächst auf Kosten der Mehrzahl der Menschenindividuen und ganzer Menschenklassen macht, schließlich diesen Antagonismus durchbricht und zusammenfällt mit der Entwicklung des einzelnen Individuums, daß also die höhere Entwicklung der Individualität nur durch einen historischen Prozeß erkauft wird, worin die Individuen geopfert werden, wird nicht verstanden, abgesehn von der Unfruchtbarkeit solcher erbaulichen Betrachtungen, da die Vorteile der Gattung im Menschenreich wie im Tier- und Pflanzenreich sich stets durchsetzen auf Kosten der Vorteile von Individuen, weil diese Gattungsvorteile zusammenfallen mit den Vorteilen besondrer Individuen, die zugleich die Kraft dieser Bewegung bilden.«25
Darin liegt die Besonderheit der Marx’schen Analyse. Der entkoppelte Fortschritt, diese unbewusst vonstattengehende Entwicklung der Gesellschaft, führen letztlich zu einem Punkt, ab dem erstens ein Bewusstsein über die tatsächlichen Umstände und zweitens darauf aufbauend deren bewusste Gestaltung erstmalig möglich sind. Insofern ist diese Entwicklung die Bedingung dafür, dass die Individuen die Möglichkeit erhalten, wirklichen Zugriff auf ihr Schicksal und die gesellschaftliche Entwicklung zu bekommen.
Es wird deutlich, dass auch die Entwicklungen der kapitalistischen Produktionsweise, wie bisher alle vorhergehenden, laut Marx aus sich selbst heraus an Grenzen stößt. In der Deutschen Ideologie schreibt Marx, dass die Entwicklung der Produktivkräfte irgendwann eine Stufe erreicht, auf der sie zu »Destruktivkräfte[n]«26 werden. Destruktiv sind sie dabei in vielfacher Hinsicht. Zum einen wird mit der Zeit immer offensichtlicher, dass die Produktivkräfte nicht nur das kapitalistische Verhältnis hervorbringen, sondern die Möglichkeit der Überwindung. Zum anderen drücken die Produktivkräfte das Proletariat immer stärker hinab und an den Rand menschlicher Existenz. Ferner überhitzt sich die kapitalistische Produktion regelmäßig und bringt immer wieder tiefgreifende Wirtschaftskrisen hervor. Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, wo die Widersprüche am intensivsten sind, das Elend des Proletariats und der Reichtum einiger Kapitalisten am größten, wo tiefgreifende Wirtschaftskrisen passieren, die Produktivität immer neue Höhen erreicht und die kapitalistische Produktion ständig an ihre eigenen Grenzen stößt, ergibt sich laut Marx Analyse ein ›window of opportunity‹ der Überwindung,27 für eine Befreiung der Gesellschaft aus den unbewussten (ökonomischen) Sachzwängen. Ausgerechnet hier sind die Bedingungen gleichzeitig am schlimmsten und am günstigsten dafür, dass die Gesellschaft ein Bewusstsein für und Zugriff auf ihre eigne Entwicklung bekommt. Die ›Reife‹ des Zeitpunkts bemisst sich gleichzeitig an der Unerträglichkeit und den Möglichkeiten. Ist das Elend am unerträglichsten, die Entfremdung am stärksten und der Widerspruch zwischen Individual- und Gemeininteresse am größten, dann scheint der Zeitpunkt der radikal-revolutionären Politik gekommen zu sein. Der Widerspruch ist irgendwann unüberbrückbar und nicht mehr zu verbergen. Diese Dialektik ist der Entwicklung der Produktivkräfte inhärent und entsprechend auch die Zuspitzung der Widersprüche.28 Daraus ergibt sich jedoch nicht einfach ein Automatismus der Überwindung.29 Das Verhältnis von Kapitalismus, radikal-revolutionärer Politik und Kommunismus stellt sich für Alex Callinicos so dar, »dass der Kapitalismus den Kommunismus historisch möglich und notwendig zugleich macht«30. Folgen dieser spiralförmigen Intensivierungsdynamik sind damit nicht nur fortschrittlichere Produktivkräfte, sondern erstmalig die Chance der Überwindung durch die radikal-revolutionäre Politik des historischen Gegensatzes. Die Zuspitzung des historischen Widerspruchs zwischen angehäufter und unmittelbarer Arbeit zu den kapitalistischen Verhältnissen ist die Voraussetzung der Überwindung selbiger.31 Darin unterscheidet sich die bürgerliche Klassengesellschaft von vorherigen Gesellschaftsformationen.
Die Lage, dass die kapitalistischen Verhältnisse erstmals die Möglichkeit der Überwindung schaffen, ist die Negation des bürgerlichen Fortschrittsdiskurses überhaupt. Erstmals ist Fortschritt dann kein rein ökonomisch forciertes Phänomen mehr, sondern ein Totalphänomen. Die Entwicklung kann zu einer gesellschaftlichen Entwicklung werden, die durch die Gesellschaft selbst bewusst und frei gestaltet wird. Durch die radikal-revolutionäre Politik tritt die Menschheit in eine Zeit, in der es nicht mehr des historischen Widerspruches als Treiber der Entwicklung bedarf.32 Doch bevor es um die tatsächliche radikal-revolutionäre Politik geht, muss noch erörtert werden, wer allein diese laut Marx ausführen soll oder überhaupt nur kann.
8.2Das Proletariat als politischer Akteur
Die Möglichkeit und Notwendigkeit radikal-revolutionärer Politik ist ein von Marx erkannter Entwicklungsstrang der bisherigen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Doch Möglichkeit und Notwendigkeit sind nur hinreichende Bedingungen. Notwendig hingegen ist ein Akteur. Dieser geht laut Marx auch aus der Entwicklung der Produktivkräfte hervor. Nach Marx ist radikal-revolutionäre Politik »nur möglich, wo mit der kapitalistischen Produktion das industrielle Proletariat wenigstens eine bedeutende Stellung in der Volksmasse einnimmt«33. Der Akteur ist laut Marx also das Proletariat, welches neben der Bourgeoisie als eine von zwei Klassen aus der Zuspitzung der bürgerlichen Klassengesellschaft hervorkommt.34 Es ist die Klasse, »welche alle Lasten der Gesellschaft zu tragen hat, ohne ihre Vorteile zu genießen«35. Im Manifest kommt dies noch deutlicher zum Ausdruck:
»Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst weggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihre eigenen Totengräber [Herv. FB]. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.«36
Der Begriff der Unvermeidlichkeit darf hier allerdings nicht fehlgedeutet oder überbewertet werden, denn es ist das radikal-revolutionäre politische Handeln des Proletariats, das zwischen der bürgerlichen und der kommunistischen Gesellschaft steht. Ein rein zahlenmäßig großes Proletariat reicht nicht aus, sondern es braucht ein Bewusstsein und das sich daraus ergebende aktive Handeln dieser Klasse. Es ist das Proletariat, das die Befreiung der gesamten Gesellschaft von der Despotie des Kapitals erkämpft.
»Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.«37
Die ganze bisherige Geschichte ist laut Marx geprägt durch Klassenkämpfe.38 Das Proletariat war in einer frühen Form Voraussetzung der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise. Als Klasse für sich ist es auch ein Ergebnis der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise. Der Widerspruch zwischen Kapital und Lohnarbeit liegt dem ebenso wie die sich intensivierende seelische und ökonomische Entfremdung durch Lohnarbeit zugrunde. Im Proletariat als Klasse manifestiert sich in zunehmenden Maßen die gesamte Zuspitzung der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise. Das Proletariat als Klasse erscheint »mit radikalen Ketten«, als
»Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, welche in keinem einseitigen Gegensatz zu den Konsequenzen, sondern in einem allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen« der kapitalistischen Produktion steht«39.
Das Proletariat steht einmal für den tatsächlich »völlige[n] Verlust des Menschen« in der bürgerlichen Klassengesellschaft und zugleich für die mögliche »völlige Wiedergewinnung des Menschen« durch die radikal-revolutionäre Politik. Dies ist ein Punkt, an dem die Radikalität des Bruches deutlich wird. Zusammenfassend ist das Proletariat als Klasse also selbst ein, durch die industrielle Entwicklung, künstlich entstandenes gesellschaftliches Phänomen und nicht naturwüchsig, weil es nicht die natürliche, sondern die künstlich produzierte und im Kapital entfremdend produzierende Arbeit ist, die es hervorbringt.40
»Weil die Abstraktion von aller Menschlichkeit, selbst von dem Schein der Menschlichkeit, im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist, weil in den Lebensbedingungen des Proletariats alle Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft in ihrer unmenschlichsten Spitze zusammengefaßt sind, weil der Mensch in ihm sich selbst verloren, aber zugleich nicht nur das theoretische Bewußtsein dieses Verlustes gewonnen hat, sondern auch unmittelbar durch die nicht mehr abzuweisende, nicht mehr zu beschönigende, absolut gebieterische Not – den praktischen Ausdruck der Notwendigkeit – zur Empörung gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen ist, darum kann und muß das Proletariat sich selbst befreien.«41
Das Proletariat selbst als gesellschaftliche Kraft verkörpert für Marx demnach die historische Möglichkeit der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise und der bürgerlichen Klassengesellschaft. In ihm zeigt sich die Entwicklung und die Folgen der kapitalistischen Produktionsweise unmittelbar und mehr und mehr unverschleiert. Im Proletariat liegt die Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft und zur ganzen bisherigen Geschichte überhaupt; es ist selbst die einzig mögliche Kraft radikal-revolutionärer Politik. Das Proletariat erkennt und erkämpft laut Marx fundamental andere gesellschaftliche Grundlagen gegen die bestehenden Verhältnisse.
Ausgerechnet das Proletariat, welches bis zu diesem Moment laut Marx primäre Sichtfläche allen Übels der Geschichte war, an dem sich die kapitalistischen Widersprüche am deutlichsten abzeichneten, deren Mitglieder in nahezu vollendeter Isolation voneinander lebten und das entsprechend am weitesten weg von irgendeiner politischen Macht zu existieren schien, übernimmt nun die zentrale Rolle im letzten Akt der Geschichte. Im Proletariat manifestiert sich demnach auch die Notwendigkeit der Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse. Gerade diejenigen, die durch ihr fortwährendes Tun die entfremdete Gesellschaft immer wieder aufs Neue reproduzierten, deren Existenz unmittelbar verbunden ist mit Entfremdung überhaupt, eignen sich nun die Gesellschaft stellvertretend für alle Individuen an, erkämpfen Bewusstsein und Gestaltungshoheit über die Verhältnisse. Es ist für Marx nur folgerichtig, dass dem Proletariat diese zentrale Rolle zukommt. Denn in ihm manifestiert sich das Elend, welches das Funktionieren der kapitalistischen Produktionsverhältnisse automatisch begleitet und das sie antreibt. Auch ist es das Proletariat, welches durch die Lohnarbeit das Gattungswesen zunächst als etwas ihm Fremdes und Äußeres überhaupt hervorbringt. Nur dem Proletariat kann daher für Marx durch Bewusstwerdung ein Interesse an radikal-revolutionärer Politik erwachsen, denn gerade die Bourgeoisie ist die Kraft, welche durch Ideologie versucht, die bestehenden Alternativen zu verschleiern. Wer, wenn nicht das Proletariat, könnte es also heißen.42 Im Denken von Marx bleibt am Ende der Entwicklung der bürgerlichen Klassengesellschaft keine andere Klasse übrig, die sich gegen die Kapitalisten und damit eigentlich gegen die kapitalistischen Verhältnisse selbst aufrichtet und sich das durch es selbst hervorgebrachte Gattungswesen aneignet.
Die Organisierung des Proletariats als Klasse ist Ergebnis eines Prozesses. Eine gewisse »previous organisation«43 der Arbeiter sei für ihre revolutionäre Funktion unerlässlich, so Marx in einem Brief an Friedrich Bolte. Diese Organisation ist bereits Ergebnis von proletarischer Organisierung. Jede vermeintlich schon politische Handlung von Arbeiter-Bewegungen, ob Parteigründungen oder gewerkschaftlicher Kampf macht das Proletariat zum politischen Akteur, und zwar weil es sich der Kontingenz der gesellschaftlichen Entwicklung bewusst wird. Diese Organisierung ist insofern Ausdruck erster Risse des kapitalistischen Verhältnisses und erster Bewusstwerdung fundamental anderen Möglichkeiten. Die Organisierung des Proletariats ist so gesehen noch keine Politik, denn damit ist die radikal-revolutionäre Politik noch nicht tatsächlich in Angriff genommen. Organisierung bedeutet demnach Politisierung beziehungsweise Bewusstwerdung des Proletariats. Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Solidarität in den verschiedenen Organisationen und Aktionen sowie die allmähliche Herausbildung eines Klassenbewusstseins sind Schritte auf dem Weg zur politischen Revolution. Dies alles bildet die Voraussetzung dafür, bildet die Basis des radikal-revolutionären politischen Handelns aus. Durch die gemeinsamen Aktionen, so notiert es Domenico Losurdo, »findet eine ganze Klasse zu ihrer Würde, noch ehe [Herv. FB] sie konkrete Ergebnisse erzielt«44. In dieser Hinsicht befürwortet Marx die Organisierung der Proletarier durch Aktionen jeder Art. Auch gewerkschaftliche Organisation, gemeinsame Lohnkämpfe und sonstige Räume der Erfahrbarkeit von Solidarität sind aus dieser Perspektive zu begrüßen. Damit relativiert sich auch das scharfe Urteil von Marx bezüglich sozialdemokratischer Unternehmungen.45 Zielen diese auf die Politisierung und Bewusstwerdung des Proletariats und radikal-revolutionäre Politik ab, dann steht er diesen deutlich offener gegenüber.
Essenzieller Bestandteil der Bedingungen des Proletariats als politische Klasse ist laut Marx die allmähliche Herausbildung eines Bewusstseins davon, wie sich die Situation der bürgerlichen Gesellschaft tatsächlich darstellt. Neben der Möglichkeit und dem Akteur braucht es also noch etwas Drittes, das wiederum das Proletariat erst vollends zum wirklichen Akteur macht: »das theoretische Bewußtsein«46 um die kapitalistischen Verhältnisse. Die Proletarier, so drückt Marx es in seiner Ansprache der Zentralbehörde an den Bund 1850 aus,
»selbst müssen das meiste [Herv. FB] zu ihrem Siege dadurch tun, daß sie sich über ihre Klasseninteressen aufklären, ihre selbständige Parteistellung sobald wie möglich einnehmen, sich durch die heuchlerischen Phrasen der demokratischen Kleinbürger keinen Augenblick an der unabhängigen Organisation der Partei des Proletariats irremachen lassen«47.
Um als Klasse für sich organisiert zu sein, reicht es nicht aus, allein theoretischer Akteur eines rein theoretischen Klassenkampfes zu sein. Die Klasse für sich ergibt sich somit nicht nur aus der allgemein gesellschaftlichen Konstitution der gegeneinander gerichteten und kämpfenden Gesellschaft. Als Klasse für sich müssen sich die Proletarier ihrer gemeinsamen Situation bewusstwerden, sich über die tatsächlichen Bedingungen aufklären. So hat das Proletariat zwar immer schon ein gemeinsames Klasseninteresse, ist sich dessen allerdings nicht bewusst. Doch nur über das Bewusstsein kann nicht nur dieses gemeinsame Interesse bewusst gemacht werden, sondern auch ein Lernprozess einsetzen, an dessen Ende eine Erkenntnis der Notwendigkeit radikal-revolutionäre Politik steht.48 Die Proletarier als »Majorität aller Gesellschaftsmitglieder« eignen sich laut Marx über gemeinsame Aktionen und über die Zeit an »Bewußtsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution« an: das »kommunistische Bewußtsein«.49
Bedingung dieses Bewusstseins ist allerdings, dass überhaupt schon eine revolutionäre Klasse existiert. Das Proletariat als diese revolutionäre, also potenziell politische Klasse geht selbst aus der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise hervor. Das Aneignen des Bewusstseins durch das Proletariat ist also ein Prozess, der parallel mit der Bildung des Proletariats als Klasse für sich verläuft. Ein organisiertes Proletariat als Klasse für sich ist sich der gemeinsamen Lage im Klassenkampf und in der bürgerlichen Gesellschaft bewusst.50 Genauso ist es sich über die Zusammenhänge und Alternativen der gesellschaftlichen Entwicklung bewusst.
Dies »Bewußtsein ist eine Sache, die sich [das Proletariat, FB] aneignen muß«51. In diesem Zitat von Marx klingt an, dass dieses Bewusstsein ebenfalls schon in den kapitalistischen Verhältnissen existiert; es ist gleichsam mit allen anderen Bedingungen der Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse darin produziert worden.52 So gesehen besitzt »die Welt«, hier besonders das Proletariat, »längst den Traum von einer Sache«; es fehlt schlicht noch das Bewusstsein dessen, »um sie wirklich zu besitzen«.53 Das Proletariat muss verstehen lernen, was sich in ihrer Zeit bereits hinter Schleiern und Fetischen verbergen. Es muss die Zeichen der kapitalistischen Entwicklung verstehen lernen, um den Zeitpunkt der Überwindung zu erkennen. Bevor es sich die Gesellschaft im Akt der Revolution aneignet, muss es sich das Bewusstsein über deren Funktionsweise und die Möglichkeit radikal-revolutionärer Politik überhaupt aneignen.
Zu diesem Bewusstsein gehört auch, dass die Individuen die bürgerliche Gesellschaft als historisches Produkt ihrer eigenen kapitalistisch geprägten Handlungen verstehen. Sie müssen sich selbst als gesellschaftliche Individuen und als historische geprägte Wesen verstehen, denn als solche sind auch sie Ausdruck einer bestimmten Entwicklungsstufe der Produktionsverhältnisse.54 Sie müssen verstehen, dass die bürgerliche Gesellschaft auf Ideen und Vorstellungen beruht und die »Ewigkeit dieser Ideen, d.h. jener sachlichen Abhängigkeitsverhältnisse«, welche sich im Geld oder in der Warenform zeigen, »von den herrschenden Klassen […] in jeder Weise befestigt, genährt, eingetrichtert wird«.55 Nur auf der Basis eines solchen Bewusstseins über die Bedeutung und tatsächliche Realität der die Verhältnisse stabilisierenden Ideologien und die eigene Position dazu ist es möglich, dass der »Wahn« aufhört, die kapitalistischen Verhältnisse »als Naturgesetze der Produktion zu betrachten.«56 Die Individuen müssen sich, so Marx, darüber bewusst werden, dass die ihnen bisher als fremde und äußere entgegengetretenen Mächte eigentlich schon immer Ausdruck der allgemeinen Abhängigkeit der Individuen in arbeitsteiligen Gesellschaften waren und dem »Aufeinander-Wirken der Menschen«57 entsprangen. Die Macht der kapitalistischen Produktionsweise war schon immer die Macht der aufeinander bezogenen Individuen.
Die essenzielle Bedeutung eines Bewusstseins zeigt sich vollständig anhand folgender Feststellung von Marx:
»Die Erkennung der Produkte als seiner eignen und die Beurteilung der Trennung von den Bedingungen seiner Verwirklichung als einer ungehörigen, zwangsweisen — ist ein enormes Bewußtsein, selbst das Produkt der auf dem Kapital ruhenden Produktionsweise, und so sehr das knell to its doom, wie mit dem Bewußtsein des Sklaven, daß er nicht das Eigentum eines Dritten sein kann, seinem Bewußtsein als Person, die Sklaverei nur noch ein künstliches Dasein fortvegetiert und aufgehört hat, als Basis der Produktion fortdauern zu können.«58
Ferner ist dieses Bewusstsein nicht willkürlich oder Ergebnis irgendeines kontemplativen Prozesses, sondern entspringt vielmehr der Praxis der Gegenwart:
»Es wird sich zeigen, daß es sich nicht um einen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, daß die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewußtsein ihre alte Arbeit zustande bringt.«59
Essenzielle Bedeutung für das Bewusstsein des Proletariats bekommt die Kritik an den bestehenden Verhältnissen. In den Manuskripten schreibt Marx: »Um den Gedanken des Privateigentums aufzuheben, dazu reicht der gedachte Kommunismus vollständig aus.«60 Um allerdings an den kapitalistischen Verhältnissen, am Bestehen von Privateigentum und der Stellung des Geldes wirklich etwas zu ändern, »dazu gehört eine wirkliche kommunistische Aktion [Herv. FB]«61. Zu Beginn und zur Schaffung eines gemeinsamen Bewusstseins braucht es die Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Auch in frühen Texten von Marx kommt diese Ansicht zum Ausdruck. An Arnold Ruge schreibt er 1843, dass sie beide nichts daran hindert, ihre
»Kritik an die Kritik der Politik […] anzuknüpfen […]. Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien«62.
Aus der Kritik am Bestehenden, so die Idee, wird die bereits inhärent existente Alternative und Kontingenz deutlich, aber noch nicht erreicht. Auch an anderer Stelle verdeutlicht Marx diesen Zusammenhang. Der Gegenstand der Kritik »ist ihr Feind, den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will«; die Kritik ist also nicht »Selbstzweck, sondern nur Mitte«.63 Die Bedeutung der Kritik erweitert sich. Mithilfe der Kritik soll die Untragbarkeit der kapitalistischen Verhältnisse noch deutlicher und damit die kritisierten Umstände unerträglicher gemacht werden. »Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen.«64 So schließt Marx diesen Gedanken ab. Der Kritik, wenn auch anfänglich nur theoretischer Natur, kommt von dieser Seite her eine praktische Relevanz zu. Durch Erhellung der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse durch die Gesellschaftskritik will Marx die Gesellschaft, vor allem aber das Proletariat über sich selbst und die eigene Position ›erschrecken‹ und damit für die radikal-revolutionäre Politik bereit machen. Die Gesellschaftskritik wird so zu einem wesentlichen Teil des Politisierungsprozess. Es ist daher durchaus möglich, Marx’ Gesellschaftstheorie, wie etwa Hannah Meissner es fasst, als ein »Projekt der Kritik« zu bezeichnen, »das darauf abzielt, praktisch-materielle Veränderungen der Welt zu ermöglichen [Herv. FB]«.65 Für Marx folgt der Gesellschaftskritik die Erkenntnis der Wirklichkeit der bürgerlichen Klassengesellschaft. Daraus ergibt sich das Bewusstsein über die Verhältnisse und über die wirkliche Ursache und Funktionsweise der kapitalistischen Produktionsweise. Die Kritik sensibilisiert nicht nur für die Möglichkeit und Notwendigkeit radikal-revolutionärer Politik, sondern deutet auch bereits das Ziel dieser an. Geschichte endigt nicht im theoretischen Bewusstsein von Kontingenz,
»sondern daß in ihr auf jeder Stufe ein materielles Resultat, eine Summe von Produktionskräften, ein historisch geschaffnes Verhältnis zur Natur und der Individuen zueinander sich vorfindet, die jeder Generation von ihrer Vorgängerin überliefert wird, eine Masse von Produktionskräften, Kapitalien und Umständen, die zwar einerseits von der neuen Generation modifiziert wird, ihr aber auch andrerseits ihre eignen Lebensbedingungen vorschreibt und ihr eine bestimmte Entwicklung, einen speziellen Charakter gibt – daß also die Umstände ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen«66.
Das Bewusstsein eröffnet dem Proletariat demnach nicht schlicht irgendeine Utopie, sondern auf der Basis des Verständnisses über das Funktionieren der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft ein Wissen um die kontingenten Möglichkeiten der eigenen Zukunft, so das Proletariat diese selbst aktiv ergreift und gestaltet. Sobald
»die Arbeiter hinter das Geheimnis kommen, wie es angeht, daß im selben Maß, wie sie mehr arbeiten, mehr fremden Reichtum produzieren und die Produktivkraft ihrer Arbeit wächst, sogar ihre Funktion als Verwertungsmittel des Kapitals immer prekärer für sie wird; sobald sie entdecken, daß der Intensitätsgrad der Konkurrenz unter ihnen selbst ganz und gar von dem Druck der relativen Überbevölkerung abhängt; sobald sie daher durch Trade’s Unions usw. eine planmäßige Zusammenwirkung zwischen den Beschäftigten und Unbeschäftigten zu organisieren suchen, um die ruinierenden Folgen jenes Naturgesetzes der kapitalistischen Produktion auf ihre Klasse zu brechen oder zu schwächen, zetert das Kapital und sein Sykophant, der politische Ökonom, über Verletzung des ›ewigen‹ und sozusagen ›heiligen‹ Gesetzes der Nachfrage und Zufuhr«67.
Die apologetischen Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft sind hingegen gegenüber diesen Prozessen der Konstituierung des Proletariats zum politischen Akteur nicht machtlos. Marx lässt dazu wissen, dass die Politisierung des Proletariats zur politischen Klasse »jeden Augenblick wieder gesprengt« wird, und zwar einmal »durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst«68 und zum anderen durch die ökonomische Macht sowie den Einsatz staatlicher beziehungsweise politischer Macht des Kapitals. Aus dem Interesse der Kapitalisten am produzierten Mehrwert heraus wird die Politisierung des Proletariats torpediert.69 So schreibt Marx, dass das Proletariat zunächst nur »[v]on Zeit zu Zeit« Siege davontragen wird, aber das »eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter«.70 Die Despotie des Kapitals besteht in drei Dimensionen: Ökonomisch, ideologisch und politisch.71 Daher mahnt Marx, dass der Prozess der Politisierung des Proletariats kein kurzweiliger sein wird. Das Proletariat müsse wissen, dass die »eigne Befreiung und mit ihr jene höhere Lebensform« der »Arbeiterklasse lange Kämpfe, eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse« abverlangt, »durch welche die Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden«.72
Das Bewusstsein um die bestehenden Verhältnisse und um die darin liegenden Möglichkeiten radikal-revolutionärer Politik ist laut Marx also ebenfalls Ergebnis der Entwicklung der bürgerlichen Klassengesellschaft. Die kapitalistische Produktion schafft also nicht nur die materielle Grundlage jeder Möglichkeit der historischen Weiterentwicklung, erzeugt mit dem Proletariat nicht nur die menschlichen ›Totengräber‹ der kapitalistischen Produktionsweise, sondern bringt überhaupt ein Bewusstsein der Chance und Notwendigkeit der Überwindung der kapitalistischen Produktion hervor. Das eigene und individuelle Bewusstsein ist insofern nur Ausdruck oder »theoretische Gestalt« des »reellen Gemeinwesens« – »[d]as Individuum ist das gesellschaftliche Wesen«.73 Das einzelne Individuum als solches und das Individuum als Gattungswesen sind nur scheinbar verschieden, eigentlich aber zwei Seiten einer Medaille – auch wenn beide notwendigerweise besondere Ausdrücke voneinander sind. Dieses Rätsel ist im vollständigen proletarischen Bewusstsein um die Triebkräfte der bisherigen Geschichte, um die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktion und um die darin liegenden Möglichkeiten vollständig gelöst.
8.3Ein zwangsläufiges Ziel
Aus dem Verlauf der Geschichte gehen laut Marx Möglichkeit und Notwendigkeit, der Akteur und das Bewusstsein radikal-revolutionärer Politik hervor. Kern des Bewusstseins ist, wie bereits erwähnt, die Erkenntnis der fundamentalen Alternative, deren Ansätze sich in der bürgerlichen Klassengesellschaft bereits andeuten, die bisher aber verschleiert war. Diese Alternative ist also nicht irgendeine naive Vorstellung eines Protosozialismus. Die historische Bedeutung dieses Bewusstseins liegt allerdings primär nicht in sich selbst, sondern in dem, was es begründet. Aufgrund dieses Bewusstseins wird das Proletariat nämlich aktiv und beginnt die gesellschaftliche Entwicklung bewusst zu gestalten. Die fundamental andere Entwicklung beziehungsweise die Kontingenz der gesellschaftlichen Entwicklung wird in dem Moment manifest, wo das Proletariat radikal-revolutionär politisch handelt.
Dass es Marx tatsächlich um eine historische Tat geht und dass darin eine Notwendigkeit liegt, und zwar nicht nur hinsichtlich der Überwindung, sondern auch der Vervollständigung des Bewusstseins sowie damit auch des Ziels, wird hier deutlich:
»[Z]ur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewußtseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst [ist, FB] eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig […], die nur in einer praktischen [Herv. FB] Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; [d]ie Revolution [ist, FB] nicht nur nötig […], weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden«74.
Marx Vorstellung beinhaltet eine wesentliche praktische Note, denn die Überwindung radikal-revolutionäre Politik ist nur als praktische Tat denkbar. Die kommunistische Gesellschaft erhält, wie István Mészaros bemerkt,
»[e]rst durch ihren Bezug auf politische und moralische Fragen […] ihren Marxschen Sinn – im scharfen Gegensatz zur möglichen korporativen Interpretation und Verwendung des Ausdrucks«75.
Es geht Marx nicht um theoretische Überlegungen, sondern sein Ziel ist die praktische Überwindung der bisherigen Geschichte. Erst im Moment der radikal-revolutionären Politik ist das Proletariat vollends bewusst und in der Lage, die bestehenden Verhältnisse umzustürzen. Indem das Proletariat politisch handelt, die Gunst der Stunde also selbst ergreift, geht es sich selbst gewissermaßen voraus und wird in der Aktion erst vollständig zum Subjekt. Erst dieser Prozess lässt das Proletariat erstens die klaffenden Widersprüche der bürgerlichen Klassengesellschaft vollends erkennen und zweitens auch den Kommunismus als fundamentale Alternative entdecken und damit drittens gewahr werden, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse durch sie selbst gestaltet werden können.
Die Entwicklung der bürgerlichen Klassengesellschaft legt alles bereits zugrunde, doch die Individuen müssen die »Gunst«76, wie George Lukács notiert, dieses Augenblickes auch aktiv ergreifen. Das Bewusstsein über die bestehenden Verhältnisse und die darin liegenden Möglichkeiten sind zwar vorhanden, die Individuen müssen es nun »handelnd ergreifen«77, wie Gregor Schäfer ergänzt. Marx äußert sich dazu in einem Artikel in der Daily Tribune:
»Erst wenn eine große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche […] gemeistert und sie der gemeinsamen Kontrolle […] unterworfen hat, erst dann wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte.«78
Es wird hier klar, dass für Marx die Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse und Gestaltungsfreiheit nicht einfach natürliche Folgen der Geschichte sein können, sondern vielmehr durch die radikal-revolutionäre Politik des Proletariats hervorgebracht werden müssen. Die kapitalistischen Verhältnisse entwickeln sich nicht einfach kaputt, sondern bilden den Hintergrund, vor dem sie bewusst überwunden werden können. Es braucht entsprechend nicht nur eine bestimmte Entwicklungsstufe der Produktivkräfte, sondern eben auch die »Organisation, [das] Bewusstsein und [die] Aktivität der Arbeiterklasse«79, wie Alex Callinicos zusammenfasst. Die kapitalistischen Verhältnisse bringen zwar die Möglichkeit ihrer eigenen Überwindung hervor, diese muss aber auch durch das Proletariat bewusst in Angriff genommen werden. Die Individuen können sich nur selbst befreien; sie können nur selbst die Gesellschaft politisieren. Sie müssen es aber auch tun. Es wird dies weder von außen kommen noch sich als schlichte Entwicklungsfolge einfach zeigen. Marx ist in dieser Hinsicht unmissverständlich: »Die Emanzipation der Arbeiterklasse [muss] durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden.«80 So heißt es in den Statuten der Internationalen Arbeiterassoziation. Dadurch, dass sich die Arbeiterklasse selbst von den kapitalistischen Verhältnissen emanzipiert, erobert sie für die gesamte Gesellschaft das Primat über die Verhältnisse und die Entwicklung.
Dennoch muss die Entwicklung der Produktivkräfte laut Marx, auch das sollte deutlich geworden sein, eine bestimmte Stufe erreicht haben.81 So sind die Entwicklung der Produktivkräfte und die »Geschichte« zwar »der Richter«, allerdings ist »ihr Urteilsvollstrecker [Herv. FB] der Proletarier«.82 Der oftmals kausal verstandene Zusammenhang von der Entwicklung der Produktivkräfte, dem revolutionären Bewusstsein und der Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft verliert vor diesem Hintergrund deutlich an Schicksalshaftigkeit. Angesichts der Bedingungen der Revolution stellt sich die Frage, ob es grundsätzlich und sozusagen unabhängig eines gewissen Entwicklungsstadiums der bürgerlichen Gesellschaft möglich ist, diese Gesellschaft durch die Revolution direkt zu einer sozialistischen zu machen oder es vielmehr einer Zwischenstufe der ausgebildeten bürgerlichen Republik bedarf? Marx selbst liefert dazu zwei Aussagen, die in der Folge zu kontroversen Debatten führten. In Die Klassenkämpfe in Frankreich bemerkt er dazu:
»Dieser Sozialismus ist die Permanenzerklärung der Revolution, die Klassendiktatur des Proletariats als notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt, zur Abschaffung sämtlicher Produktionsverhältnisse, worauf sie beruhen, zur Abschaffung sämtlicher gesellschaftlichen Beziehungen, die diesen Produktionsverhältnissen entsprechen, zur Umwälzung sämtlicher Ideen, die aus diesen gesellschaftlichen Beziehungen hervorgehen.«83
Ähnlich dazu klingt er in der Kritik des Gothaer Programm:
»Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nicht andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.«84
Ziel dieser Übergangsperiode wäre es, die Gesellschaft auf einen Stand zu bringen, vom dem aus die vollständige Überwindung und die kommunistische Gesellschaft erreichbar sind. Dazu braucht es allerdings, fehlen die Voraussetzungen zunächst, dieser diktatorischen Periode der Permanenzerklärung der Revolution.85 Unabhängig der Notwendigkeit einer Übergangsperiode bleibt der Charakter der Überwindung gleich: Radikal-revolutionäre Politik ist von Marx ganz deutlich als praktische Tat gedacht.
Das Ziel radikal-revolutionärer Politik ist dabei nicht eine Verbesserung auf irgendeinem Politikfeld. Marx geht ihm nicht um eine gerechtere bürgerliche Gesellschaft, sondern um neue, alternative, fundamental andere Grundlagen gesellschaftlicher Entwicklung. Die gesellschaftliche Entwicklung ist dann kein unbewusst zustande gekommenes Ergebnis der Despotie des Kapitals und des historischen Widerspruchs mehr. In allen bisherigen Revolutionen, stellt Marx fest, war die »Art der Tätigkeit stets unangetastet«; es ging immer um eine andere »Distribution dieser Tätigkeit« und erst die kommunistische Revolution stellt sich »gegen die bisherige Art der Tätigkeit«, will erstmals diese Art der »Arbeit beseitig[en]«.86 Emanzipiert sich die Arbeit, wird sie also wieder wirkliche Lebensäußerung der Individuen, so brechen auch alle auf ihr als Lohnarbeit beruhenden kapitalistischen Verhältnisse zusammen.87 In der kommunistischen Revolution erkennt Marx die Möglichkeit, die Menschen und die gesellschaftliche Entwicklung von der kapitalistischen Produktionsweise sowie dem historischen Widerspruch zu emanzipieren. Gleichzeitig darf darunter nicht verstanden werden, dass es um die Befreiung von Arbeit geht, vielmehr bedeutet die kommunistische Gesellschaft die Befreiung der Arbeit als solcher. Es geht Marx um die Befreiung von der Form von Arbeit, die den Menschen seiner Individualität beraubt und ihn zu einer Ware, zu einem Ding werden lässt.
Die bürgerliche Gesellschaft kann nur ganz überwunden werden. Der politische Charakter des revolutionären Handelns, wie Marx es beschreibt, ergibt sich aus dieser Tatsache. Nur als radikal-revolutionäres Handeln kann es die gesellschaftliche Entwicklung von ökonomischen Sachzwängen und Pfadabhängigkeiten befreien und Ausdruck eines wirklichen und kollektiven Kontingenzbewusstseins sein. In dieser Deutlichkeit ist Marx’ Aussage zu verstehen, dass die
»Proletarier […] sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte nur erobern [können, FB], indem sie ihre eigene bisherige Aneignungsweise und damit die ganze [Herv. FB] bisherige Aneignungsweise abschaffen«88.
Die Verwirklichung der kommunistischen Gesellschaft ist, wie István Mészaros notiert, »nur in der Universalität einer gesellschaftlichen Gesamtpraxis [Herv. FB]«89 möglich. Das ist der Hintergrund von Marx berühmter Aussage, dass »[d]ie Proletarier […] nichts […] zu verlieren [haben, FB] als ihre Ketten. Sie haben eine Welt [Herv. FB] zu gewinnen«90.
Diese neue Welt ist dabei nicht einfach, »was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt«, sondern es ergibt sich aus der bisherigen Geschichte selbst und ist in »der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet«.91 Aus der Entwicklung der bürgerlichen Klassengesellschaft ergibt sich allerdings nur »die Aussicht auf eine neue Gesellschaft«92. »›Die menschliche Vernunft schafft nicht die Wahrheit.‹ […] Sie kann sie nur enthüllen.«93 Die kommunistische Gesellschaft bezeichnet Marx daher auch nicht als herzustellenden »Zustand« oder »Ideal«, dass die Zukunft bestimmt, sondern der Kommunismus gilt ihm vielmehr als »die wirkliche Bewegung«, deren Bedingungen »sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung« ergeben und die hinter den Schleiern der bürgerlichen Gesellschaft bereits produziert wurden.94 Als Bewegung ist der Kommunismus kein fixes Konstrukt, sondern die Beschreibung einer Realität, in der erstmals Gestaltungsfreiheit existiert. Das ist das Ziel radikal-revolutionärer Politik.
Marx geht es dabei nicht nur um die Arbeiterklasse, sondern um die Menschheit insgesamt. Das Ziel radikal-revolutionärer Politik ist nicht die einseitige Besserstellung des Proletariats, sondern die Emanzipation der Menschheit insgesamt von der Despotie des Kapitals. Das Ergebnis beziehungsweise die hervortretende Alternative, also die kommunistische Gesellschaft charakterisiert Marx dann wie folgt:
»Der Kommunismus unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch, daß er die Grundlage aller bisherigen Produktions- und Verkehrsverhältnisse umwälzt und alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft.«95
Politik bedeutet für Marx demnach die Aufnahme der gesellschaftlichen Gestaltung durch die Gesellschaft selbst.96 Sie steht für die Befreiung der gesellschaftlichen Entwicklung aus allen unbewussten Zwängen, in denen die Individuen selbst die eigenen Fesseln produzierten und die Entwicklung als naturgegeben und nicht kontingent erschien.
Dass die Gesellschaft durch die radikal-revolutionäre Politik tatsächlich einen neuen Zustand erreichen kann, zeigt sich dadurch, dass dann tatsächlich fundamental andere Prinzipien gelten. Die kommunistische Gesellschaft ist das radikal Andere. Arbeitsteilung, Eigentumsform, Form von Arbeit, Bedeutung des Geldes als Repräsentant des menschlichen Gattungswesen und letztlich Gleichheit beziehungsweise Ungleichheit, alles wird durch die radikal-revolutionäre Politik fundamental und bewusst anders gestaltet. Die kommunistische Gesellschaft als Ziel dieser radikal-revolutionären Politik ist es, die sich in der bürgerlichen Gesellschaft herausgebildet hat.97 Dieser Möglichkeit, die eben auch in der bisher unbewusst und als nicht kontingent wahrgenommenen Entwicklung liegt, sind sich die Individuen bewusst geworden und ergreifen sie nun, und zwar radikal politisch.
Arbeitsteilung liegt jeder komplexen Gesellschaft zugrunde. Ziel radikal-revolutionärer Politik kann entsprechend nicht sein, Arbeitsteilung also solche abzuschaffen oder zu überwinden. Die Arbeitsteilung ist nicht nur grundlegend für die kapitalistische Produktionsweise, weil sie Austausch und somit den Tauschwert von Waren hervorbringt, sondern bildet die Basis jeder komplexen Produktion und Gesellschaft. Aus der Arbeitsteilung entwickelte sich das Geld und damit wiederum alle Möglichkeiten der Produktion von Mehrwert. Arbeitsteilung war auch die Grundlage der Entwicklung der Klassengesellschaft überhaupt und somit auch für die politische Herrschaft einer Klasse über eine andere.
Durch die Arbeitsteilung drückte sich schon immer das Gattungswesen des Menschen aus. Die Individuen ergänzen sich gegenseitig durch und in ihrer Unterschiedlichkeit und erfüllen durch ihr jeweiliges Handeln gegenseitig ihre Bedürfnisse; sie vervollkommnen sich gegenseitig. Dieser Umstand fand in den kapitalistischen Verhältnissen verschleiert statt. Auch die kommunistische Gesellschaft funktioniert arbeitsteilig, allerdings ist diese hier nicht mehr strukturell zementiert, also Ausdruck von ökonomischen Sachzwängen. Arbeit ist nicht mehr »Lebensentäußerung«, also Mittel, um durch den Verkauf der eigenen Arbeitskraft das Überleben zu sichern, und ist auch nicht mehr Ausdruck der egoistischen Vereinzelung des Individuums, sondern bedeutet »freie Lebensäußerung, daher Genuß des Lebens«.98 Die Individuen erhalten in der kommunistischen Gesellschaft »in und durch ihre Assoziation zugleich ihre Freiheit«, weil ihre jeweiligen Entscheidungen nicht mehr Folge der »Fessel[n]« ihrer Klassenzugehörigkeit sind.99 Die gegenseitige Erfüllung von Bedürfnissen ist demnach nicht angewiesen auf eine durch den Intermediär Geld vermittelte Produktion, die auf Eigennutz und Privateigentum basiert. Vielmehr ist überhaupt erstmals und auch unter der Bedingung dieser gegenseitigen Bedürfnisbefriedigung möglich, dass die Individuen sich frei nach eigenen Maßstäben und Vorstellungen entwickeln.100 Erst in der kommunistischen Gesellschaft ist allen Individuen möglich, sich den eigenen Anlagen entsprechend »nach allen Seiten hin auszubilden«101. In der kommunistischen Gesellschaft sind alle wohlwollend und nicht mehr eigennutzorientiert oder vorteilerheischend aufeinander bezogen. Eine freie Wahl der Tätigkeit ist somit erstmals in der kommunistischen Gesellschaft möglich.102 Erst unter diesen Umständen kann Arbeit wieder Lebensmittel sein und nicht mehr notwendiges Überlebensmittel. Den Unterschied zwischen bürgerlicher Klassen- und kommunistischer Gesellschaft beschreibt Marx wie folgt. In Erster hat
»[j]eder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß [Herv. FB] es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will«103.
Im totalen Gegensatz dazu präsentiert sich die kommunistische Gesellschaft, in der
»[j]eder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust [Herv. FB] habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden«104.
Hier zeigt sich Marx’ Vorstellung des kommunistischen Individuums, das sich das Gattungswesen angeeignet hat. Marx formuliert damit die Vorstellung des Individuums als »Totalität von Produktivkräften«, wie es aus einer zur »Totalität entwickelten und nur innerhalb eines universellen Verkehrs existierenden (sic!) Produktivkräfte« hervorgeht.105 Die Aneignung muss allein aus dieser Perspektive ebenso universell sein, ergo auch ebenso universell entwickelte Individuen hervorbringen, deren Fähigkeiten eine solche Totalität charakterisiert. Marx stellt sich hier tatsächlich universell entwickelte Menschen vor,106 die geistig mindestens grundständig die einzelnen Produktionstechniken und Maschinen verstanden und durchdrungen haben. Der Totalität der Produktivkräfte entspricht also einmal eine »Totalität von Fähigkeiten«107 aufseiten der Individuen und zum anderen eine Aneignung der Produktionsmittel durch die gemeinschaftlich produzierenden Individuen.108 Diese universelle Aneignung ist das zentrale Ansinnen der polytechnischen Ausbildung der Arbeiterklasse. Vormals erschien dem Arbeiter die Wissenschaft im Dienst des Kapitals in Form der Maschine als etwas ihm Fremdes, obschon es eigentlich seine Arbeit verbesserte.109 Diese Entfremdung sucht Marx, durch eine möglichst umfassende Ausbildung der Individuen in eigentlich allen wissenschaftlichen Disziplinen zu überwinden.
Die kapitalistische Form der Arbeitsteilung, das sich daraus ergebende Privateigentum und damit das Klassenverhältnis sind auf ihrer höchsten Entwicklungsstufe der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu Destruktivkräften geworden.110 Der Zwang zu jeder Tätigkeit, also die »Subsumtion« der Individuen unter die »Borniertheit«, »die rein aus der Teilung der Arbeit« herrührte und sich schon in den Berufsbezeichnungen ausdrückte, fällt in der kommunistischen Gesellschaft fort; dort »gibt es keine Maler, sondern höchsten Menschen, die unter Anderem auch malen«.111 Diese wirklich freie Wahl der Tätigkeit, beginnt erst da, wo »das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört«112. Haben sich die Individuen das Gattungswesen angeeignet, sind sie vereint mit dem, was ihnen in der bürgerlichen Gesellschaft noch als Äußeres und Fremdes gegenüber trat, obgleich es doch eigentlich schon immer zur menschlichen Existenz gehörte.113
Grundlage dieser äußeren Zweckmäßigkeit ist in der bürgerlichen Gesellschaft das Privateigentum. Dadurch, dass einige kein Eigentum an Produktionsmitteln außer der eigenen Arbeitskraft hatten, waren sie gezwungen, diese zu verkaufen. Sie mussten sich dabei nach den Regeln oder eben der Zweckmäßigkeit der kapitalistischen Produktionsweise richten. Aufhebung des Privateigentums bedeutet nun Aneignung des Menschen »für und durch den Menschen«, seiner Produkte und das nicht nur um Sinne des Besitzes, sondern im Sinne der Aneignung des menschlichen Wesens auch in den Produkten.114 Es ist dies das bewusste Gegenteil zum Privateigentum, welches nur die sichtbare und unbewusste materielle Inkarnation der durch die entfremdete Arbeit ebenso entfremdeten Individuen war. Alle Bewegungen des Privateigentums bargen in sich alle bisherigen Produktionsverhältnisse und deren Bewegungen, die ja sozusagen der Rohstoff der eigenen Existenz waren.115 Unter den Bedingungen des aufgehobenen Privateigentums entfällt die »Ausbeutung der einen durch die andern«116. Der Mensch kann nun und ohne Privateigentum »den Menschen produziere[n], sich selbst und den andren«117.
Erst durch das Privateigentum entstand die allgemeine Überzeugung, dass Gegenstände erst jemandem gehören können, wenn dieser sie auch tatsächlich hat, sie sein Eigen nennen kann. Damit wurde alles zu einem Lebensmittel und die Entfremdung durch das Privateigentum zur Entfremdung des Habens, worin sich letztlich die Armut des menschlichen Wesens in der bürgerlichen Klassengesellschaft überhaupt ausdrückte. Die Aufhebung des Privateigentums emanzipiert daher das menschliche Wesen umfassend und vollständig. Das menschliche Wesen verhält sich nun zu jeder Sache um der Sache Willen und damit zu etwas, das von Beginn an schon »gegenständliches menschliches Verhalten zu sich selbst und zum Menschen und umgekehrt«118 war und ist. Gleiches gilt für alle anderen menschlichen Wesen, welche darüber auch »meine eigne Aneignung« geworden sind, daher bilden sich tatsächlich »gesellschaftliche Organe« aus, die in der gesellschaftlichen Aktion bewusst tätig sind, welche dann auch unmittelbar eigene Lebensäußerung sind.119 Der gesellschaftliche Produktionsorganismus kehrt zu sich, zu seinen konstituierenden Organen zurück, von denen er durch die Schleier der kapitalistischen Verhältnisse vormals noch entfernt war. Erst unter diesen Bedingungen ist die Natur auf erweiterter Entwicklungsstufe wieder das Band, welches alle Menschen umfasst. Jedes individuelle Dasein ist wechselseitig auf andere Individuen bezogen und dadurch »Grundlage« des individuellen »menschlichen Daseins«.120 Dadurch, dass Menschen mit den vorgefundenen Mitteln und Produkten einfach produzieren können, verliert die individuelle Produktion den noch der kapitalistischen Produktion anhängigen Egoismus. Menschen produzieren nun bewusst füreinander; etwas, dass sie vorher auch schon taten, allerdings unbewusst und verschleiert durch die kapitalistische Produktionsweise selbst sowie ihre eigenen Egoismen.
Damit hängt auch zusammen, dass in der kommunistischen Gesellschaft das Konstrukt Lohnarbeit fortfällt. Dieser Umstand findet seine tiefere Begründung im Gattungswesen, welches sich die Individuen durch das radikal-revolutionäre politische Handeln aneignen. Den Zustand, wenn Menschen als Gattungswesen produzieren und damit als individuelle Wesen arbeiten, beschreibt Marx in einem längeren Part:
»Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert: Jeder von uns hätte in seiner Produktion sich selbst und den andren doppelt bejaht. Ich hätte 1. in meiner Produktion meine Individualität, ihre Eigentümlichkeit vergegenständlicht und daher sowohl während der Tätigkeit eine individuelle Lebensäußerung genossen, als im Anschauen des Gegenstandes die individuelle Freude, meine Persönlichkeit gegenständliche, sinnlich anschaubare und darum über allen Zweifel erhabene Macht zu wissen. 2. In deinem Genuß oder Gebrauch meines Produktes hätte ich unmittelbar den Genuß, sowohl des Bewußtseins, in meiner Arbeit ein menschliches Bedürfnis befriedigt, also das menschliche Wesen vergegenständlicht und daher dem Bedürfnis eines andren menschlichen Wesens seinen entsprechenden Gegenstand verschafft zu haben, 3. für dich der Mittler zwischen dir und der Gattung gewesen zu sein, also von dir selbst als eine Ergänzung deines eignen Wesens und als ein notwendiger Teil deiner selbst gewußt und empfunden zu werden, also sowohl in deinem Denken wie in deiner Liebe mich bestätigt zu wissen, 4. in meiner individuellen Lebensäußerung unmittelbar deine Lebensäußerung geschaffen zu haben, also in meiner individuellen Tätigkeit unmittelbar mein wahres Wesen, mein menschliches, mein Gemeinwesen bestätigt und verwirklicht zu haben. Unsere Produktionen wären ebenso viele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegenleuchtete. Dies Verhältnis wird dabei wechselseitig, von deiner Seite geschehe, was von meiner gesch[ieht].«121
Marx konstatiert hier, dass Menschen, wenn sie nicht mehr entfremdete Lohnarbeit leisten, sondern als Individuen in Arbeit Ausdruck finden, sie nicht nur sich selbst, sondern zugleich auch das menschliche Gattungswesen verwirklichen. Das individuelle und das Gattungsüberleben sind nicht mehr angewiesen auf Löhne, weil die Menschen sich durch ihre bewussten individuellen Tätigkeiten auch als Gattungswesen erhalten. Das individuelle Leben ist dann unmittelbarer Ausdruck des Gattungslebens, welches nicht mehr reiner Zweck des individuellen Überlebens ist. Sie sind sich über ihre Stellung und Verhältnisse zueinander bewusst, und zwar ohne dies in einem Medium wie etwa dem Geld zu externalisieren. Sie sind sich um das eigene abhängige Wesen, in dem sich eben immer auch die Menschheit in ihrer Universalität also in ihrem Gattungswesen zeigt, bewusst. An die Stelle der Lohnarbeit tritt Arbeit als freie Lebensäußerung. Das ist die fundamentale, bisher unerreichte Alternative von Arbeit. Erstmals wird aus Arbeit als Lebensentäußerung die Alternative: Arbeit als wirkliche individuelle Lebensäußerung. Indem Lohnarbeit als entfremdete Arbeit und so als Verbindung von Entfremdung und Geldwesen überhaupt fortfällt, fehlt die Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise.122 Freie Lebensäußerung kann keine Grundlage einer ausbeuterischen Produktionsweise sein.
Ebenfalls erübrigt sich in der kommunistischen Gesellschaft das Geld. In der bürgerlichen Gesellschaft repräsentierte es noch das Gattungswesen, allerdings in entfremdeter Form. Die innere Verbindung der einzelnen Individuen zueinander, ihre Gesellschaftlichkeit und auch die ihrer jeweiligen Tätigkeiten waren ihnen nicht bewusst. Diese Verbindungen waren allerdings immer vorhanden und intensivierten sich. Auf diesen Verbindungen beruhte das Geld als gesellschaftliches Verhältnis. Die grundsätzliche Existenz von Privateigentum machte Geld notwendig, weil alle einzeln produzierten Güter nicht einfach in die allgemeine Konsumtion einfließen konnten, sondern nur vermittelt durch Geld. Produzieren die Individuen allerdings nicht mehr unter dieser Bedingung, sondern als Gattungswesen, brauchen sie dieses Medium nicht mehr. Sie sind sich bewusst darüber, dass ihre Individualität und unterschiedlichen Tätigkeiten als solche schon gesellschaftlich und aufeinander bezogen sind. Es ist dann nicht mehr nötig, die unterschiedlichen Produkte geldvermittelt der gesellschaftlichen Konsumtion zuzuführen, da dies dann auf direktem Wege geschehen kann. Damit wird auch final deutlich, dass das Gattungswesen und die Entfremdung Produkte der historischen Entwicklung der Menschheit sind.
Es besteht damit auch erstmals die Option, Mehrwert zur Reduktion von Arbeitszeit zu nutzen und nicht zur Ermöglichung von zusätzlicher Mehrarbeit und neuem Mehrwert. In der kommunistischen Gesellschaft würde der Widerspruch der Überbeanspruchung der Arbeiter und der erzwungenen Tatenlosigkeit der industriellen Reservearmee fortfallen. Alle Individuen sind persönlich frei und daher ist ihnen Arbeit nicht mehr Zwang, sondern freiwillige Lebensäußerung. Die Gesamtarbeitszeit würde sich dadurch aufteilen und für jedes Individuum insgesamt Zeit frei verfügbar werden. Wieder erscheint das Bildnis, wonach die schon in den kapitalistischen Verhältnissen vorhandenen Möglichkeiten in der kommunistischen Gesellschaft endlich wirkmächtig werden. Plötzlich kann die Entwicklung der Produktivkräfte nämlich genutzt werden, um damit das Leben der Individuen zu erleichtern und nicht, um damit den kapitalistischen Verwertungsprozess selbst anzutreiben. Nach Marx ist diese freiverfügbare Zeit dann nicht mehr Voraussetzung von neuem Reichtum, sondern Reichtum an sich. Hinter diesem Reichtum verbirgt sich, um mit Christoph Henning zu sprechen, ein »equal access to perfection«123. Die nun allen verfügbare und freie Zeit kann freie Verwendung finden, zur Konsumtion, zur individuellen Entwicklung oder ganz anderen Dingen.124 Die kommunistische Gesellschaft ist damit laut Adam Schaff eine Gesellschaft, »in which alienation is abolished, and thereby a full unristricted development of personality is made possible«125. In der kommunistischen Gesellschaft ist insofern allen Individuen Selbstverwirklichung möglich.
Die Individuen der kommunistischen Gesellschaft sind dadurch, dass sie sich das von ihnen produzierte Gattungswesen angeeignet haben, zum wirklichen Menschen geworden. Sie sind vereint mit dem, was in der bürgerlichen Gesellschaft ihnen noch als Äußeres und Fremdes gegenübertrat. Sie haben sich aller Charaktermasken entledigt, alle Schleier gelüftet und leben mit dem historisch produzierten Reichtum, entwickeln diesen weiter, allerdings unter Maßgabe ihrer Ansprüche als Gattungswesen und mit einem Bewusstsein für die vorhandenen Gestaltungsmöglichkeiten. Es ist eine Gesellschaft nicht mehr der modernen Menschen, sondern der modernen bewussten Menschen. In dieser Gesellschaft können Dinge erstmals so genutzt werden, dass die Nutzung sich für alle Mitglieder positiv auswirken und entsprechend alle Individuen sich frei entwickeln sowie sich vervollkommnen können – etwas, das früher durch die kapitalistische Produktionsweise schlicht ins Gegenteil verkehrt passierte. Barg die Maschinisierung etwa die Möglichkeit zur Arbeitszeitverkürzung, sorgte ihre kapitalistische Anwendung für eine Verlängerung des Arbeitstages. Ermöglichte sie theoretisch Arbeitserleichterung, sorgte ihre kapitalistische Anwendung für eine Steigerung der Intensität von Arbeit. Bedeutete die Maschine generell eigentlich den Sieg der Menschheit über die Naturkräfte, unterjochte sie sich in kapitalistischer Anwendung die Menschen als Naturkraft. Schuf sie unendlichen Reichtum, sorgte ihre kapitalistische Anwendung zugleich für unendliches Elend und Verheerungen für die Arbeiter.126 Nachdem also die Individuen »ihre gegenseitigen Verhalten wieder in ihre Gewalt«127 bekommen haben, ist es der Gesellschaft möglich, ohne die kapitalistische Anwendung in den Genuss der Entwicklung der Produktivkräfte zu kommen.
Auch der Formation als Klassengesellschaft stellt sich in der kommunistischen Gesellschaft ihre fundamentale Alternative entgegen. »Die Bedingung der Befreiung der arbeitenden Klasse ist die Abschaffung jeder Klasse.«128 Marx fasst den Zusammenhang von Arbeit und Klassengesellschaft an anderer Stelle eindrücklich zusammen: »Einmal die Arbeit emanzipiert, so wird jeder Mensch ein Arbeiter, und produktive Arbeit hört auf, eine Klassengesellschaft zu sein.«129 Darin drückt sich wiederum das in der kommunistischen Gesellschaft angeeignete Gattungswesen aus. Alle leisten ihren Beitrag bewusst zur gegenseitigen Bedürfnisbefriedigung und arbeiten aus dieser Perspektive füreinander. Dabei geht es nicht darum, dass das Proletariat einfach universal werden soll und andere im Namen der Mehrheit unterdrücken soll. Alex Demirović bringt es auf den Punkt:
»Das Proletariat […] repräsentiert […] eine negative Universalität, es will nicht alles sein und werden, sondern sich selbst auflösen und mit sich selbst zugleich die Bedingungen der Möglichkeit von Klassen und Ständen, mit anderen Worten die Bedingungen, unter denen Individuen und Gruppen genötigt sind, um des eigenen Überlebens willen eine bestimmte Identität anzunehmen und die eigene Partikularität anderen als Allgemeinheit aufzuzwingen.«130
Die Klassengesellschaft basierte auf Arbeit unter bestimmten Bedingungen der Arbeitsteilung. Diese Teilung aufgehoben und damit die Arbeit als Lebensäußerung oder als Äußerung des Gattungswesen Mensch emanzipiert, fällt sogleich auch die Klassengesellschaft in sich zusammen. An die Stelle der bürgerlichen Klassengesellschaft tritt eine »Assoziation […], welche die Klassen und ihren Gegensatz ausschließt«131.
Gleichsam mit der Klassengesellschaft verschwindet damit auch die Notwendigkeit zur politischen Herrschaft der einen Klasse über die andere. Dazu Marx: »[E]s wird keine eigentliche politische Gewalt mehr geben, weil gerade die politische Gewalt der offizielle Ausdruck des Klassengegensatzes innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist.«132 War der bürgerliche Staat zuvor Ausdruck oder »Maschine der Klassenherrschaft«133, so verliert dieser Staat, fällt diese fort, selbst an Bedeutung. Als Unterdrückungsmaschine, geschäftsführender Ausschuss des Kapitals oder dessen gegenseitige Versicherung wird er obsolet.134 Herrschaft über sich selbst und bewusste Gestaltung der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung tritt an die Stelle der Herrschaft einer Klasse über eine andere und an die Stelle unbewussten Voranschreitens einer ökonomisch induzierten Entwicklung.
Zuletzt gilt es noch nach der Gleichheit zu fragen. Der Gehalt der bürgerlichen Gleichheit bestand darin, dass alle Individuen gleichberechtigte Tauschpartner sind. Grundsätzlich präsentierte die bürgerliche Klassengesellschaft im Widerspruch zwischen Kapital und Lohnarbeit allerdings gerade den Gegensatz von produziertem Reichtum aufseiten des Kapitals und verheerendem Elend aufseiten der unmittelbaren Produzenten. Der formellen Gleichheit im Tausch folgte die Ungleichheit bei den materiellen Verhältnissen. Diese Ungleichheit ergab sich einmal aus der ökonomischen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft und zum anderen aus der Abstraktion jedes Individuums in den Charaktermasken. Als solche ist sie eine Notwendigkeit der bürgerlichen Gesellschaft, weil aus ihr beständig auf der einen Seite Individuen hervorgehen, die ihre Arbeitskraft zum Überleben verkaufen müssen (Charaktermaske: Arbeiter) und andere, die genug Kapital besitzen, um diese Arbeit auch zu kaufen (Charaktermaske: Bourgeois). Sie war so Voraussetzung und ist Ergebnis der kapitalistischen Produktion zugleich. An die Stelle dieser Ungleichheit tritt wirkliche Individualität und Verschiedenheit, und zwar laut Marx sowohl hinsichtlich physischer Unterschiede als auch verschiedener Tätigkeiten: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.«135 Die Individualität erhält in der kommunistischen Gesellschaft an neuer Substanz, denn Individuen sind nun nicht mehr ›gleichgemacht‹ hinter irgendwelchen Charaktermasken, sondern treten in ihrer tatsächlichen Individualität auf. Die generelle Bedeutung von Individualität wird überhaupt erstmals wirklich bewusst. Nur durch die individuelle Verschiedenheit können sich die Individuen gegenseitig vervollkommnen. Das Gattungswesen Mensch besteht nur in der Differenz verschiedener Individualitäten. Insofern ist diese Ungleichheit im Ergebnis doch erstmals Gleichheit in der Behandlung. Alle erhalten nach ihren jeweiligen Fähigkeiten, Einbringungen und Bedürfnissen aus dem gemeinsamen Fonds. Niemand wird ob einer besonderen Stellung bevorzugt. Insofern werden alle individuell gleichbehandelt, obschon nicht alle individuell gleich viel erhalten.136
Es sollte deutlich geworden sein, dass das Ziel der radikal-revolutionären Politik nicht im Nihilismus liegt und auch nicht willkürlich ist. Die fundamentale Alternative ist das Ziel, wie sie sich im entstehenden kollektiven Kontingenzbewusstsein
8.4Radikal-revolutionäre Politik und die Folgen
Die radikal-revolutionäre Politik führt in eine neue Welt, und zwar in eine Welt, in der sich die Individuen über die Kontingenz der gesellschaftlichen Entwicklung bewusst sind und damit die Möglichkeit haben, diese ebenso bewusst und nun frei zu gestalten. Durch die radikal-revolutionäre Politik tritt an die Stelle des historischen Widerspruchs die kontingente gesellschaftliche Entwicklung mit ihren eigenen Widersprüchen und Konflikten. Nun sind sich die Individuen dieser allerdings bewusst.
Zeigte sich die bisherige gesellschaftliche Entwicklung und auch die bürgerliche Klassengesellschaft als unbewusst entstandene Folge des Widerspruches von angehäufter und unmittelbarer Arbeit, so bedeutet die Überwindung davon nicht nur dieses, sondern damit wird laut Marx insofern die bisherige Geschichte selbst überwunden. Durch die radikal-revolutionäre Politik ist die Geschichte dann keine Geschichte von Klassenkämpfen mehr. Die Geschichte ist dann auch kein Ausdruck der Entwicklung der materiellen Produktionsbedingungen mehr. Sie wird nun nicht mehr durch einen Handlungszusammenhang hervorgebracht, in den die Individuen zwar eingefügt sind, in dem sie sich vermeintlich frei ausleben, der aber dennoch Ausdruck der Despotie des Kapitals ist. Die gesellschaftliche Entwicklung ist nun Gegenstand von selbstbewusster Gestaltung und Selbstbestimmung der Gesellschaft
Insofern wird auch verständlich, was Seongjin Jeong konstatiert, dass Marx die kommunistische Gesellschaft nämlich als Reich der Freiheit (realm of freedom) sah, im Gegensatz zur bürgerlichen Klassengesellschaft, welche Marx als Reich der Notwendigkeit (realm of necessity) beschreibt.137 Nicht mehr die ökonomischen Verhältnisse herrschen über die gesellschaftlichen, sondern die bewussten Individuen herrschen das erste Mal überhaupt über die gesellschaftlichen Verhältnisse. Die radikal-revolutionäre Politik zeigt also erstmalig die zuvor unbewusste Kontingenz der gesellschaftlichen Entwicklung. Es zeigt sich gleichzeitig, dass es Marx gerade nicht um die Überwindung des Kapitals in den Händen der Bourgeoisie, also um die personale und konkrete Herrschaft der Kapitalisten über die Arbeit geht,138 sondern um die Überwindung der bisherigen historischen Dynamik, die eine Entwicklung bestimmt hat, ohne bewussten Einfluss der Gesellschaft selbst.
Radikal-revolutionäre Politik ist damit gleichbedeutend mit der »Rückkehr« des Menschen aus allen Sphären des Überbaus in seine gesellschaftliche, also menschliche Basis.139 Dies darf allerdings nicht werden als Erfüllung des Lebens falsch verstanden – sie ist vielmehr die Bedingung dafür. Erst im Ergebnis löst sich etwa die Entfremdung auf oder wird die Arbeit von kapitalistischen Sachzwängen befreit.140
Die Grundlagen für diese Form der Politik erschufen die Individuen in der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und durch ihre jeweiligen Tätigkeiten. Wirkmächtig werden sie in dem Moment, wo das Proletariat durch die radikal-revolutionäre Politik die Gesellschaft und die Entwicklung zu einem gestaltbaren Gegenstand macht. Dadurch ist es möglich, die Welt bewusst zu gestalten. Die wirkliche Gemeinschaft, die soziale Freiheit und das vollendete Individuum sind durch diese Politik erreichbar. Die Philosophie findet im Anschluss daran ihr Ende oder wird überflüssig. Es gibt dann keine Differenz mehr zwischen Vorstellung und Realität oder Wesen und Sein, die dadurch oder durch irgendeine Theologie überbrückt werden müsste.141 Die bürgerliche Gesellschaft streift laut Marx durch die radikal-revolutionäre Politik des Proletariats »ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht«142. Insofern hat sie alle Elemente preisgegeben, »die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben«143. Die kommunistische Gesellschaft verliert so den letzten Anschein, reine Utopie zu sein. Sie wurzelt in der Gegenwart und weist zugleich in die Zukunft.144 Sie ist die in der Gegenwart bereits hervorscheinende Zukunft. Nicht das Gestrige ist die Motivation oder der Impuls der radikal-revolutionären Politik. Das meint Marx, wenn er schreibt, dass die »soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts […] ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen [kann], sondern nur aus der Zukunft«145.
Nur durch radikal politische Überwindung der bisherigen Geschichte und die Bewusstwerdung werden auch die Individuen erstmals wirklich frei, womit diese die Bedingung von Freiheit überhaupt ist, denn bisher gab es Freiheit entweder gar nicht, oder nur in einem eingeschränkten Verständnis. In der kommunistischen Gesellschaft tritt eine soziale Freiheit an die Stelle der bürgerlich-formellen Freiheit.146 Die bürgerliche Freiheit war eine Bedingung der kapitalistischen Produktionsweise. Sie bedeutet, dass niemand formell gezwungen ist, seine Waren zu verkaufen oder einzutauschen. Kein Individuum ist demnach formell unfrei, sondern kann selbstbestimmt entscheiden, was in der Marx’schen Analyse schon als Scheinfreiheit demaskiert wurde. Die Freiheit der bürgerlichen Klassengesellschaft ist die liberale Freiheit als Gegenmodell zu ständisch-feudaler Bevormundung und religiösem Dogmatismus. Diese liberale Idee der Freiheit als Schutz vor Eingriffen anderer ist nach Frederick Neuhouser unmittelbar verbunden mit dem »Egoismus und soziale[m] Antagonismus«147 der bürgerlichen Klassengesellschaft. Schon in der Analyse der kapitalistischen Produktionsweise wurde deutlich, dass sich hinter dieser formellen bürgerlichen Freiheit materielle Unfreiheit, ein despotischer Handlungszusammenhang und menschliche Entfremdung verbargen.
An die Stelle dieser liberalen Freiheit tritt nun die »Selbstverwirklichung der Individuen […], ihre reale Freiheit«148, wie Thilo Ramm formuliert. Arbeiten die Individuen nach eigener und freier Entscheidung und mit den Produktionsmitteln, die allen gehören und äußern in ihrer Tätigkeit sich selbst als Individuum und als Gattungswesen, herrscht zwischen ihnen eine soziale Freiheit – sie sind nun »in der wirklichen Gemeinschaft […] in und durch ihre Assoziation«149 frei. Marx fasst Freiheit, sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Gestaltungsfreiheit, als Ergebnis einer Assoziation, »worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«150. Diese Assoziation ist die wirkliche Gemeinschaft, welche nun nicht mehr durch die bürgerlichen Vorhänge verhüllt ist und die sich selbstbewusst bestimmt.
Soziale Freiheit kann für Marx nur darin bestehen,
»daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen«151.
Marx’ Vorstellung von Freiheit basiert, wie Iring Fetscher es treffend notiert,
»auf eine[r] kooperierende[n] Hochzivilisation, in der jeder seine eigene, höchst individuelle Leistung beglückend als Beitrag zur Befriedigung des anderen und die der anderen ebenso als Beitrag zur eigenen Befriedigung versteht und empfindet«152.
Diese Freiheit muss durch praktische Handlungen errungen werden, und zwar nicht durch irgendein ontologisches Statut, sondern durch die Erkämpfung anderer materieller Bedingungen.153 Arbeit ist daher der Schlüsselfaktor, denn in ihr zeigen sich die menschlichen Möglichkeiten und Begrenzungen.
Axel Honneth stellt fest, dass durch die radikal-revolutionäre Politik und in der kommunistischen Gesellschaft alle Individuen »untereinander die Besorgnis um die Selbstverwirklichung aller anderen«154 teilen. Um den in der bürgerlichen Klassengesellschaft immanent angelegten Widerspruch von Freiheit und Solidarität zu entkommen, so Axel Honneth weiter,
»entwirft Marx in groben Umrissen das Modell einer Gesellschaft, in der Freiheit und Solidarität miteinander verschränkt sein sollen; das scheint ihm dann möglich, wenn die Sozialordnung so verfasst ist, daß jeder einzelne die von ihm verfolgten Zwecke zugleich als Bedingung der Realisierung der Zwecke des jeweils anderen begreift, wenn also die individuellen Absichten derart durchsichtig ineinandergreifen, daß wir sie nur im Bewußtsein unserer Abhängigkeit voneinander im wechselseitigen Vollzug realisieren können«155.
Es erfüllt sich damit auch der Anspruch, den Marx in Zur Judenfrage an die menschliche Emanzipation stellt. Der individuelle Mensch muss das abstrakte Mitglied der bürgerlichen Klassengesellschaft und sich selbst als abstraktes Rädchen der kapitalistischen Produktionsweise in sich zurücknehmen. Erst, wenn der Mensch
»als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ›forces propres‹ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht«156.
Erst ab diesem Moment. wenn »alle Verhältnisse« umgeworfen worden sind, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«,157 ist wirkliche Selbstbestimmung und insofern Freiheit im umfassenden Sinn möglich. Es ist dies dann die Phase, in der die Individuen als individuelle Menschen an der Gesellschaft teilhaben können, weil die Gesellschaft erstmals bewusste »Vereinigung der Individuen« ist, »die die Bedingungen der freien Entwicklung und Bewegung der Individuen« unter bewusste individuelle Kontrolle stellt.158 Die Entwicklung ist dann von den Individuen selbst bestimmt und gestaltet. Die kommunistische Gesellschaft ist somit erstmals ein Zustand der bewussten »Selbst-Beherrschung [der] gesellschaftlichen Verhältnisse«,159 wie Ingo Pies festhält. An die Stelle des
»nationalökonomischen Reichtums und Elendes [tritt] der reiche Mensch und das reiche menschliche Bedürfnis […]. Der reiche Mensch ist zugleich der einer Totalität der menschlichen Lebensäußerung bedürftige Mensch. Der Mensch, in dem seine eigne Verwirklichung, als innere Notwendigkeit, als Not existiert. Nicht nur der Reichtum, auch die Armut des Menschen erhält gleichmäßig – unter Voraussetzung des Sozialismus – eine menschliche und daher gesellschaftliche Bedeutung. Sie ist das passive Band, welches den Menschen den größten Reichtum, den andren Menschen, als Bedürfnis empfinden läßt«160.
Die Individuen können in der kommunistischen Gesellschaft und infolge der radikal-revolutionären Politik als wirkliche Individuen teilhaben. In der Nachfolge der radikal-revolutionären Politik sind die Individuen nicht mehr durch die Ordnung selbst vorgegebene Charaktermasken bestimmt, sondern erstmals wirklich frei. Die radikal-revolutionäre Politik zerstört die unpersönliche und despotische Macht der kapitalistischen Verhältnisse und ist die Bedingung wirklicher und sozialer Freiheit sowie von Gestaltungsfreiheit und drückt erstmals ein Kontingenzbewusstseins aus.
Wie die Gesellschaft tatsächlich und konkret in der Nachfolge der radikal-revolutionären Politik aussieht, darüber hat Marx nur wenig an belastbaren Aussagen hinterlassen. In einem kurzen Abschnitt in den Manuskripten verrät Marx etwas über seine Vorstellung einer kommunistischen Gesellschaft, die das bisher Festgehaltende letztlich zusammenfasst:
»Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen.«161
Vielmehr hinterlässt Marx nicht an konkreten Aussagen über die Folgen der radikal-revolutionären Politik. Das ist aber auch wenig wunderlich, denn die wesentlichste Folge ist gerade die Gestaltungsfreiheit. Es ist daher durchaus wahrscheinlich, dass das Fehlen einer konkreten und ausdifferenzierten Idee der kommunistischen Gesellschaft gar kein Mangel des Marx’schen Werkes, sondern vielmehr Ausdruck seines Wissens um die dann erlangte Kontingenz ist.
Sicher hingegen ist, dass unter radikal-revolutionärer Politik kein Zurück in die Zukunft gesehen werden darf – eine Rückkehr etwa zu romantisierten präkapitalistischen Zuständen oder einer urwüchsigen Gemeinschaftlichkeit. Marx beurteilte eine solchen Gedankengang mit den eindeutigen Worten: »Ein Mann kann nicht wieder zum Kinde werden oder er wird kindisch.«162 Seine Vorstellungen greifen bekanntlich viel weiter. Das moderne Gattungswesen des Menschen zeigt sich gerade in der modernen komplexen Arbeitsteilung. Die arbeitsteiligen Individuen bilden insgesamt das Gattungswesen. Damit ist eine rousseauistische Interpretation von Marx, also eine Rückkehr zu kleinen Gemeinschaften unmöglich. Die materialistische Geschichtsvorstellung von Marx ist komplex und reicht ins Globale. Ohne Klassengegensatz »werden die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören, politische Revolution zu sein«163 – oder anders: sein zu müssen. Nicht die Geschichte überhaupt hört für Marx durch die radikal-revolutionäre Politik auf, sondern die bisherige Geschichte wird überwunden und der Anfang einer neuen geschrieben. Akteur dieser neuen Geschichte ist eine komplexe, arbeitsteilige und ihrer Gestaltung bewusste und darin freie Gesellschaft. Es sind neue Strukturprinzipien, die diese prägen, die sie aber – und gerade darin besteht der fundamentale Unterschied – nicht vorprogrammieren, sondern die Grundlage von Gestaltbarkeit bilden.
Ist die kommunistische Gesellschaft als solche erst einmal durchgesetzt, was passiert dann mit der Politik? Frigga Haug stellt diesbezüglich fest, dass nach Marx Politik in der kommunistischen Gesellschaft nicht wieder zu reinem Verwaltungshandeln etwa der gesellschaftlichen Produktion degenerieren kann, denn »[d]a ist noch das Leben selbst, das Zukunft bestimmt und bedeutet«164. Ob nun Politik als Organisierungs- und Gestaltungselement bleibt und wenn ja, wie sie aussähe, diese Frage führte an dieser Stelle zu weit. Hier ging es darum, zu zeigen, dass hinter der radikal-revolutionären politischen Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft ein Kontingenzbewusstsein steht, welches für die bewusste Gestaltungsfreiheit essenziell ist.
1Die Aufklärung reflektiert Marx, so bemerkt es Liu Tongfang, als Rekonstruktion der Entwicklung der kapitalistischen Produktion. Insofern sei Marx’ Kritik der kapitalistischen Produktionsweise auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Aufklärung und deren Folgen. Dabei ziele Marx nicht auf ein romantisches ›Gestern‹ ab, sondern suche nach Wegen, der aufgeklärten Gesellschaft einen wirklichen Fortschritt im Sinne umfassender menschlicher Entfaltung aufzuzeigen. Vgl. Liu Tongfang: »Enlightenment Reason and Modernity. Marx’s Critical Reconstruction«, in: Social Sciences in China 37 (2016), S. 41ff.
2K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (1983), S. 190. Hartmut Rosa erkennt darin eine »steigerungstheoretische Formationsanalyse«, in der die Bewegung des Kapitals selbst zum »Subjekt der Geschichte« wird. Hartmut Rosa: »Klassenkampf und Steigerungsspiel: Eine unheilvolle Allianz. Marx’ beschleunigungstheoretische Krisendiagnose«, in: Rahel Jaeggi/Daniel Loick (Hg.), Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis, Berlin 2013, S. 394ff, hier S. 396. Dazu auch M. Heinrich (2011), S. 314.
3K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (1983), S. 419.
4K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1959), S. 464f. In dieser Hinsicht ist Marx nicht direkt als ›Gegner‹ kapitalistischer Verhältnisse oder gar als ›plumper‹ Kapitalismuskritiker zu verstehen. Weder stellte er sich einfach gegen diese historische Form der Produktion, noch tat er alle Theorien der politischen Ökonomie als Nonsens ab. Er wollte die kapitalistische Produktionsweise vielmehr in ihrem wesentlichen Funktionszusammenhang verstehen und die Gesellschaft dann darüber aufklären. In der Kritik der politischen Ökonomie befasst sich Marx laut Michael Krätke erstens mit der kapitalistischen Produktionsweise als ein »autopoetisches, sich selbst erzeugendes System« und zweitens mit dem Kapitalismus als ein sich auf erweiterter Stufe reproduzierendes System, drittens mit dem Kapitalismus als selbstdestruktives System und viertens mit dem Kapitalismus als Transformationsstadium. Darin sei ergo keine einfache Ablehnung der kapitalistischen Produktionsweise zu erkennen. M. R. Krätke (2017), S. 11. Dazu auch Eric J. Hobsbawm: »Das Kommunistische Manifest«, in: Eric J. Hobsbawm/Samīr Amīn (Hg.), Das Manifest – heute. 150 Jahre Kapitalismuskritik, Hamburg 1998, S. 10ff, hier S. 18.
5K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1959), S. 465.
6K. Marx/F. Engels, Das Kapital (1966), S. 269.
7Ebd., S. 827.
8K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie (1964), S. 9.
9Harald Bluhm: »Bewegungen, Assoziationen und Partei – Elemente einer Theorie kollektiver Akteure bei Karl Marx«, in: Marx-Engels-Jahrbuch (2010), S. 7ff, hier S. 7.
10K. Marx, Auszüge aus James Mills Buch ›Éléments d’économie politique‹ (1968), S. 451.
11K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 (1968), S. 565.
12K. Marx, Das Kapital (1974), S. 349.
13An anderer Stelle notiert Marx: »Der Mensch ist ein Gattungswesen, nicht nur indem er praktisch und theoretisch die Gattung, sowohl seine eigne als die der übrigen Dinge, zu seinem Gegenstand macht, sondern – und dies ist nur ein andrer Ausdruck für dieselbe Sache –, sondern (sic!)] auch indem er sich zu sich selbst als der gegenwärtigen, lebendigen Gattung verhält, indem er sich zu sich als einem universellen, darum freien Wesen verhält.« K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 (1968), S. 515. Insofern präsentiert sich das Gattungswesen tatsächlich als Gegenbegriff zum begrenzten und isolierten Individuum der bürgerlichen Klassengesellschaft. Vgl. Christian Schmidt: »Entfremdung und die Reproduktion der Unvernunft«, in: Marx-Engels-Jahrbuch 2005, S. 86ff, hier S. 95.
14Vgl. K. Marx, Auszüge aus James Mills Buch ›Éléments d’économie politique‹ (1968), S. 462.
15Vgl. M. Quante, Das gegenständliche Gattungswesen (2013), S. 73f. Hier zeigt sich wieder Marx anthropologische Sichtweise, wonach die Entwicklung der Geschichte eine Geschichte der Entwicklung und des schrittweise Aufdeckens des Gattungswesen ist, welche in der kommunistischen Gesellschaft endigt, da das Gattungswesen dort vollends realisiert ist und die Gesellschaft es sich dann vollständig angeeignet hat. Vgl. Helmut Fleischer: Marxism and History, London 1973, S. 11ff.
Im Gattungswesen zeigt sich ein Kontinuum des Marx’schen Denkens. Vgl. A. Chitty, 1993, S. 23. Dazu auch E. Fromm, Das Menschenbild bei Marx (1980), S. 55. Anderer Meinung ist etwa Walter Adamson: »Marx’s Four Histories: an Approach to his Intellectual Development«, in: History and Thought 20 (1981), S. 379ff.
16K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (1983), S. 229. An diesen Punkt schließt sich die Krisentheorie von Marx an, die hier aus Platzgründen nur kurz erwähnt sei: »Aber jede bestimmte historische Form dieses Prozesses entwickelt weiter die materiellen Grundlagen und gesellschaftlichen Formen desselben. Auf einer gewissen Stufe der Reife angelangt, wird die bestimmte historische Form abgestreift und macht einer höhern Platz. Daß der Moment einer solchen Krise gekommen, zeigt sich, sobald der Widerspruch und Gegensatz zwischen den Verteilungsverhältnissen, daher auch der bestimmten historischen Gestalt der ihnen entsprechenden Produktionsverhältnisse einerseits, und den Produktivkräften, der Produktionsfähigkeit und der Entwicklung ihrer Agentien andrerseits, Breite und Tiefe gewinnt.« K. Marx/F. Engels, Das Kapital (1966), S. 891. In der Krisentheorie formuliert Marx einen Zusammenhang der Revolution und einer universellen Wirtschaftskrise: »Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.« K. Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1860 (1960), S. 98.
Dass plötzlich die ökonomische Krise von Marx als essenziell für die Überwindung der bürgerlichen Klassengesellschaft gesehen hat, deutet Jonathan Sperber in seiner Marx-Biografie als eine Reaktion von Marx auf die enttäuschende Ereignisse der verschiedenen Revolutionen rund um 1848. Gerade hinsichtlich dieses historischen Datums, waren die Marx’sche Analyse, insbesondere aber seine Vision gesellschaftlicher Veränderungsprozesse scheinbar entblößt. Jonathan Sperber allerdings bemerkt auch, dass Marx selbst nie wirklich eine ›Krisentheorie‹ minutiös herausarbeitete und sie daher nur bedingt als Voraussetzung einer proletarischen Revolution herangezogen werden darf. Vgl. Jonathan Sperber: Karl Marx, New York, NY 2013, S. 273f.
Auch für Michael Quante ist die Reduzierung von Das Kapitals auf eine Krisentheorie generell eine Verkürzung, weil unter diesem Blick die Kritikelemente des Textes aus dem Blick geraten. Vgl. Michael Quante: »Karl Marx: ein Theoretiker der Gerechtikeit?«, in: Michael Quante (Hg.), Der unversöhnte Marx. Die Welt in Aufruhr, Münster 2018, S. 77ff, hier S. 78.
Thomas Sablwoski hingegen findet im Kapital gleich mehrere solcher Krisentheorien. Vgl. Thomas Sablowski: »Krisentendenzen der Kapitalakkumulation«, in: Das Argument 251 (2003), S. 438ff.
An dieser Stelle kommt eine kontrovers diskutierte Frage auf, die letztlich im Revisionismus ausbricht. Was passiert, wenn die Krisenanfälligkeit der kapitalistischen Produktionsweise endogen gelöst werden kann und sich die Position der Arbeiter etwa durch Gewerkschaftsarbeit und sozialdemokratische Reformen verbessert? Dazu etwa die Beiträge von Alexander Chryssis, Wal Suchting, Jules Townshend, Stuart Wilks-Heeg im Sammelband von Mark Cowling/Terrell Carver (Hg.): The Communist Manifesto, Edinburgh 1998.
Die Debatte über das Marx’sche Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate, dem wesentlichen Fundament der Marx’schen Krisentheorie, ist gut repräsentiert durch die beiden gegensätzlichen Beiträge von Christoph Henning und Michael Heinrich. Vgl. Michael Heinrich: »Begründungsprobleme. Zur Debatte über das Marxsche ›Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate‹«, in: Marx-Engels-Jahrbuch (2006), S. 47ff.; Christoph Henning: »Übersetzungsprobleme. Eine wissenschaftstheoretische Plausibilisierung des Marxschen Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate«, in: Marx-Engels-Jahrbuch (2005), S. 63ff.
17K. Marx, Das Kapital (1974), S. 674.
18Ebd., S. 511.
19K. Marx/F. Engels, Das Kapital (1966), S. 888. Dazu auch W. C. Roberts (2017), S. 228.
20In Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie nennt Marx dieses Entwicklungsstadium ein »passives Element« und konzediert daneben, es genüge nicht, »daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen.« K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1957), S. 386. Die theoretische Erkenntnis einer Gesellschaft erscheint so also abhängig von ihrer materiellen Produktionsgrundlage. Entsprechend muss erst ein bestimmtes Level an Produktivkräften, eine bestimmte Wirklichkeit erreicht werden, sodass diese selbst sich im Bewusstsein zeigt und nicht das Bewusstsein ein bestimmtes Stadium sozusagen hebt.
21K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 34f.
22K. Marx, Das Kapital (1974), S. 512.
23K. Marx, Das Elend der Philosophie (1959), S. 91f. An anderer Stelle bringt er folgendes erhellendes Beispiel: »Auch die feudale Produktion hatte zwei antagonistische Elemente, die man gleichfalls als gute und schlechte Seite des Feudalismus bezeichnen kann, ohne zu berücksichtigen, dass es stets die schlechte Seite ist, welche schließlich den Sieg über die gute Seite davonträgt. […] Hätten zur Zeit der Herrschaft des Feudalismus die Ökonomen, begeistert von den ritterlichen Tugenden, von der schönen Harmonie zwischen Rechten und Pflichten, von dem patriarchalischen Leben der Städte, von dem Blühen der Hausindustrie auf dem Lande, von der Entwicklung der in Korporationen, Zünften, Innungen organisierten Industrie, mit einem Wort von allem, was die schöne Seite des Feudalismus bildet, sich das Problem gestellt, alles auszumerzen, was einen Schatten auf dieses Bild wirft Leibeigenschaft, Privilegien, Anarchie wohin wären sie damit gekommen? Man hätte alle Elemente vernichtet, welche den Kampf hervorriefen, man hätte die Entwicklung der Bourgeoisie im Keime erstickt. Man hätte sich das absurde Problem gestellt, die Geschichte auszustreichen.« ebd., S. 140.
Über die Unterschiede zwischen Hegel und Marx hinsichtlich der Bedeutung von Widersprüchen etwa Wal Suchting: »Marx, Hegel, and ›Contradiction‹«, in: Philosophy of Social Sciences 15 (1985), S. 409ff.
24K. Marx, Das Elend der Philosophie (1959), S. 91f.
25Karl Marx: »Theorien über den Mehrwert II«, in: MEW 26.2, Berlin 1967, S. 7ff, hier S. 111.
26K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 60. Dazu auch M. R. Krätke (2017), 36-37.
27Dazu auch I. Mészaros (1973), S. 95.
28Siehe dazu auch K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie (1964), S. 9.
29Vielfach und sowohl von Gegnern als auch Befürwortern der Marx’schen Theorie wird dies als Determinismus in Marx Denken deklariert. Dieser Interpretation zur Folge sei die tatsächliche Überwindung des historischen Widerspruches deterministisch festgelegte Folge der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise. Dies zeigt sich insbesondere anhand der Debatte um einen technologischen Determinismus. Dazu etwa G. E. Panichas/M. E. Hobart: »Marx’s Theory of Revolutionary Change«, in: Canadian Journal of Philosophy 20 (1990), S. 383ff; Allan E. Buchanan: »Marx, Morality, and History. An Assessment of Recent Analytical Work on Marx«, in: Ethics 98 (1987), S. 104ff; G. A. Cohen: Karl Marx’s Theory of History: A Defence, Princeton 1978; Nathan Rosenberg: »Marx as a Student of Technology«, in: Monthly Review 28 (1976), S. 56ff.
Allerdings verfehlen diese Interpretationen. Peter Gose und Justin Paulson belegen das sehr deutlich. Demnach basiert das Denken Marx’ sicherlich auf Annahmen, inkludiert aber immer die Kontingenz historischer Ereignisse. Vgl. P. Gose/J. Paulson, Capital and its ›Laws of Motion‹ (2017), S. 100. Marx selbst sieht also die Entwicklung der Produktivkräfte nicht isoliert, sondern immer selbst beeinflusst und beeinflussend hinsichtlich etwa dem Natur- oder Sozialverhältnissen oder auch dem gesellschaftlichen Institutionengefüge gegenüber. Die Zuspitzung der Widersprüche als reines Ergebnis der Entwicklung der Produktivkräfte zu sehen, simplifiziert den weitaus komplexeren Gedanken von Marx. Vgl. D. Harvey (2018), S. 112ff.
Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die Beschäftigung mit der Marx’schen ›historischen, sozialen Wissenschaft‹ von Urs Lindner. Vgl. ders., 2013, S. 258ff.
Auch Christoph Henning stellt sich deutlich gegen die Einschätzung, dass das Marx’sche Denken von einem ökonomischen Determinismus geprägt sei. Für ihn gestaltet auch ein Naturgesetz nur einen Möglichkeitsraum, in dem bestimmte Entwicklungen stattfinden. »Die Geltung des Gesetzes der Schwerkraft impliziert eben keineswegs, dass pausenlos Äpfel von den Bäumen auf die Köpfe berühmter Physiker fallen.« Christoph Henning: Philosophie nach Marx, Bielefeld 2005, S. 560.
30A. Callinicos (2005), S. 177.
31Vgl. Gareth S. Jones: Karl Marx, Frankfurt a.M. 2016, 469, 471. Dazu auch A. Callinicos (2005), 104, 121.
32Marx’ Fortschrittsbegriff versteht Denis Mäder als Synonym für ›Verbesserung‹, und zwar in einer formalen als auch in einer ethischen Dimension. Vgl. Denis Mäder: Fortschritt bei Marx, Berlin 2010.
33Karl Marx: »Konspekt des Buches von Bakunin ›Staatlichkeit und Anarchie‹«, in: MEW 18, Berlin 1969, S. 597ff, hier S. 633.
34Daniel Friedman geht hier in seiner Interpretation wesentlich weiter und konstatiert, dass in Marx’ Verständnis eine polarisierte Klassengesellschaft für die proletarische Revolution gar nicht notwendig ist. Vgl. D. J. Friedman, 1974.
35K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 69.
36K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1959), S. 474.
37K. Marx, Das Elend der Philosophie (1959), S. 162.
38K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1959), S. 462.
39K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1957), S. 390.
40Ebd. Laut Karl Löwith bedeutet das Proletariat für Marx universelle Menschlichkeit. Vgl. Karl Löwith: »Marx’s Self-Alienation in the Early Writings of Marx«, in: Social Research 21 (1954), S. 204ff, hier S. 228f.
41K. Marx/F. Engels, Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik (1969), S. 38. Erinnert sei hier daran, dass Abstraktion und Entfremdung durchaus synonym von Marx verstanden werden. Hier erscheint wieder die Verelendungsthese.
42 Für Thomas Rockmore nimmt das Proletariat hinsichtlich der Überwindung der bürgerlichen Klassengesellschaft eine ähnliche Funktion ein, wie der Messias im Christentum: Selbstopferung zugunsten der Errettung der Menschheit. vgl. T. Rockmore (2018), S. 154. Dazu auch Milan Machovec: A Marxist Looks at Jesus, Philadelphia 1976.
43Karl Marx: »Brief an Friedrich Bolte, 23. November 1871«, in: MEW 33, Berlin 1966, S. 327ff, hier S. 332f. In der Ansprache der Zentralbehörde an den Bund 1850 kommt die von Marx betonte praktische Bedeutung einer straffen Arbeiterorganisierung hinsichtlich der Revolution zum Ausdruck. Er bezeichnet diese dort als einen der »wichtigsten Punkte zur Stärkung und Entwicklung der Arbeiterpartei« überhaupt. Karl Marx/Friedrich Engels: »Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850«, in: MEW 7, Berlin 1960, S. 244ff, hier S. 251.
44Domenico Losurdo: »Das eigentliche ›Herz‹ der menschlichen Emanzipation«, in: Eric J. Hobsbawm/Samīr Amīn (Hg.), Das Manifest – heute. 150 Jahre Kapitalismuskritik, Hamburg 1998, S. 150ff, hier S. 152.
45Marx’ Position gegenüber den Organisationsformen des Proletariats, sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften hinsichtlich der Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse sind daher tatsächlich als »janusköpfig« zu bezeichnen. Minsun Ji: »With or without class. Resolving Marx’s Janus-faced interpretation of worker-owned cooperatives«, in: Capital & Class 44 (2020), S. 345ff.
46K. Marx/F. Engels, Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik (1969), S. 38.
47K. Marx/F. Engels, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850 (1960), S. 254.
48Vgl. J. P. Holt (2015), S. 96.
49K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 69. Entsprechend wird hier etwa dem Ansatz von Geoffrey de Ste Croix widersprochen, dass die Klasse für sich ausschließlich aus der gemeinsamen ökonomischen Lage in einer Gesellschaftsformation ergibt. Vgl. Geoffrey d. Ste Croix: »Class in Marx’s Conception of History, Ancient and Modern«, in: New Left Review 146 (1984), S. 94ff; N. Poulantzas: Political Power and Social Classes, London 1973, S. 74ff.
50Vgl. J. P. Holt (2015), S. 57. Insofern beschreibt Edgar Andrew die ›Klasse für sich‹ als ›Klasse gegen das Kapital‹, welche gerade aus dem Bewusstsein um die Quellen ihrer Position und aus der Gegnerschaft gegen die Herrschaft des Kapitals heraus eine Solidarität ausbildet. Vgl. Edward Andrew: »Class in Itself and Class Against Capital. Karl Marx and his Classifiers«, in: Canadian Journal of Political Science/Revue canadienne de science politique 16 (1983), S. 577ff; Edward Andrew: »Marx’s Theory of Classes: Science and Ideology«, in: Canadian Journal of Political Science/Revue canadienne de science politique 8 (1975), S. 454ff, hier S. 463. Er verweist damit auf den durchaus politisch zu nennen Bestandteil des Bewusstseins. Dazu auch G. A. Cohen (1978), S. 73ff; N. Poulantzas (1973), S. 43; Eric J. Hobsbawm: »Class consciousness in history«, in: István Mészaros (Hg.), Aspects of History and Class Consciousness, London 1971, S. 5ff; B. Ollman, 1968, S. 576ff.
51Karl Marx: »Briefe aus den ›Deutsch-Französischen Jahrbüchern‹«, in: MEW 1, Berlin 1957, S. 335ff, hier S. 345. Um so bedeutungsvoller ist dann die Rolle von Intellektuellen und anderen inspirierenden Personen, die das Proletariat in diesem Bewusstwerdungsprozess unterstützen. Das wirft auch ein eigenes Licht auf die Rolle von Marx innerhalb der Arbeiterorganisation seiner Zeit.
Michael Levin nennt entsprechend insbesondere zwei Bedingungen der Herausbildung eines revolutionären Bewusstseins: Widerstand gegen das Kapital und die intellektuelle (durchaus auch von der Bourgeoisie kommende) Aufklärung (intellektuelle Führung) über die Verhältnisse sowie Unterstützung bei der Organisierung. Michael Levin: »Marx and Working-Class Consciousness«, in: History of Political Thought 1 (1980), S. 499ff, hier S. 510.
52M. Quante, Die Philosophie von Karl Marx (2018), S. 38.
53K. Marx, Briefe aus den ›Deutsch-Französischen Jahrbüchern‹ (1957), S. 346.
54Vgl. K. Marx, Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie (1964), S. 616.
55K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (1983), S. 98. Im Manifest beschreibt Marx das Verhältnis der Ideen und den gesellschaftlichen Verhältnissen entsprechend wie folgt: »Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.« K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1959), S. 480. Ähnlich auch K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 46.
56K. Marx, Theorien über den Mehrwert III (1968), S. 422.
57K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 37.
58K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (1983), S. 375.
59K. Marx, Briefe aus den ›Deutsch-Französischen Jahrbüchern‹ (1957), S. 346. Ein bestimmtes notwendiges Bewusstsein geht demnach nicht einfach aus der Geschichte und auch nicht aus der Formierung und Positionierung einer Klasse für sich hervor. Das Proletariat als Klasse für sich muss sich über die bestehenden Verhältnisse aufklären und auf dieser Grundlage kann es beginnen, die Geschichte neu zu schreiben. Sie müssen erkennen, welche Folgen ihr Handeln hinter den Kulissen der bürgerlichen Gesellschaft und der kapitalistischen Schleier bereits zeitigen, um mit diesen Handlungen bewusst eine neue Geschichte zu machen.
60K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 (1968), S. 553.
61Ebd.
62K. Marx, Briefe aus den ›Deutsch-Französischen Jahrbüchern‹ (1957), S. 345.
63K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1957), S. 380f.
64Ebd.
Laut Harald Bluhm zeigt sich darin auch eine »lerntheoretische Annahme«, wonach »breitere Schichten vor allem durch Konflikte Einsichten in die Basisstruktur der Gesellschaft gewinnen können.« Vgl. H. Bluhm, 2010, S. 12.
65Hanna Meissner: »… Es kommt darauf an, sie zu verändern: Gesellschaftstheorie als epistem-onto-logischer Einssatz«, in: Rahel Jaeggi/Daniel Loick (Hg.), Karl Marx – Perspektiven der Gesellschaftskritik, Berlin 2013, S. 249ff, hier S. 253. So ähnlich drücken sich auch Matthias Bohlender und andere aus, wenn sie davon schreiben, dass die Marx’sche Kritik »Teil einer umfassenden revolutionären Bewegung zur Umwälzung« ist und sich darin ihre »raison d’être« zeigt. Vgl. M. Bohlender/A.-S. Schönfelder/M. Spekker, Vorwort (2018), S. 9. Esteban Torres identifiziert drei »motors« in Marx Gesellschaftstheorie, also drei Treiber bewusster gesellschaftlicher Veränderung: Wissenschaft, Kritik und transformatives Handeln, wobei dem rational-wissenschaftlichen Treiber eine übergeordnete Rolle zukäme. Vgl. Esteban Torres: »The three engines in Marx’s social theory. Towards a renewal of the left«, in: Critique 46 (2018), S. 529ff.
Marx’ Diagnosefähigkeit bekommt damit eine besondere Bedeutung. Sie ist dabei aber nur eine Hälfte, die andere findet sich in den praktischen Handlungsvorschlägen oder, um im Bild zu bleiben, den Therapievorschlägen, die Marx macht. Vgl. Ralf M. Damitz/André Koch: »Gesellschaftstheorie reloaded? Anmerkungen zur gegenwärtigen Marxrenaissance«, in: Heinz Bude/Ralf M. Damitz/André Koch (Hg.), Marx. Ein toter Hund?, Hamburg 2010, S. 7ff, hier S. 42.
66K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 38.
67K. Marx, Das Kapital (1974), S. 669f.
68K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1959), S. 471.
69Vgl. Michael Vester: »Von Marx bis Bourdieu. Klassentheorie als Theorie der Praxis«, in: Manuskripte – Neue Folge (2019), S. 9ff, hier S. 12.
70K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1959), S. 471. Dazu auch an anderer Stelle K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 305.
71Vgl. Wtodzimierz Wesołowski: »Marx’s Theory of Class Domination (an attempt at systematization)«, in: Bob Jessop/Charlie Malcolm-Brown (Hg.), Karl Marx’s Social Thought and Political Thought, London & New York 1990, S. 153ff, hier S. 163ff.
72K. Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (1968), S. 343.
73K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 (1968), S. 538f.
74K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 70.
75I. Mészaros (1973), S. 160.
76Geoge Lukács: »Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik«, in: Georg Lukács Werke, Neuwied 1968, S. 161ff, hier S. 502.
77G. Schäfer, Das Proletariat gibt es nicht … (2018), S. 324.
78Dieses Zitat stammt zwar aus einem Artikel von Marx über die Verhältnisse in Indien, allerdings sind sie durchaus und gerade auch aufgrund ihrer Schärfe ein guter Ausdruck des generellen Denkens von Marx über die bürgerliche Klassengesellschaft, die kapitalistischen Verhältnisse und deren Überwindung. Karl Marx: »Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien«, in: MEW 9, Berlin 1960, S. 220ff, hier S. 226.
79A. Callinicos (2005), S. 177f.
80Karl Marx: »Provisorische Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation«, in: MEW 16, Berlin 1968, S. 14ff, hier S. 14.
Andrew Abbott muss also in der Behauptung widersprochen werden, dass Marx »die Handlungsmacht einzelner Individuen« zwar anerkannte, doch sie »mittels nachträglicher Anpassungen seiner Theorie kurzerhand« wegerklärte. A. D. Abbott (2019), S. 40.
Sicherlich zeigt sich auch in der Aktivität der Individuen die historistische Sichtweise von Marx, nach der die Individuen durchaus einer inneren Entwicklungsbahn folgen und daher zu etwas werden, was ihrem Wesen bereits innewohnt. Dennoch sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Marx viel weniger deterministisch dachte, als ihm nachträglich zugeschrieben wurde.
Nicht verwechselt werden darf die Ansicht der Schicksalshaftigkeit des Untergangs der bürgerlichen Klassengesellschaft, welche auf Karl Kautsky und die Zweite Internationale zurückgeht, mit Marx eigener Einstellung dazu. Dieser war sich immer bewusst darüber, dass die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise eines aktiven Proletariats, einer proletarischen Aktion bedarf. Mitnichten wird er das Proletariat als »unbewußte Agenten« verstanden haben, die »eher behandelt [werden] als daß sie handeln.« C. Castoriadis (1990), S. 53. Dazu auch Ernesto Laclau: »Ideologie und Post-Marxismus«, in: Martin Nonhoff (Hg.), Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie. Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Bielefeld 2007, S. 25ff.
Die Einsicht in den Prozess der Überwindung also und die radikal-revolutionäre Politik sind für Marx nicht separabel. Vgl. Irving L. Horowitz/Bernadette Hayes: »For Marx/Against Engels: Dialectics Revisited«, in: Bob Jessop/Russel Wheatley (Hg.), Karl Marx’s Social and Political Thought – Second Series. Marx’s life and theoretical development, London 1999, S. 295ff, hier S. 307.
Oliver Flügel-Martinsen bildet einige Kritiklinien des Postmarxismus sehr pointiert ab. Vgl. O. Flügel-Martinsen, Fehlt Marx eine Theorie des Politischen? (2018), S. 251ff.
81An diesem Punkt stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Strukturalismus und Handlungstheorie innerhalb des Denkens von Marx. Marx redet einmal der Handlungstheorie das Wort, und zwar dort, wo es um die aktive Rolle des Proletariats als Befreier vom historischen Widerspruch geht. Zum anderen bezieht er sich auch auf einen Strukturalismus, und zwar immer dort, wo der Kapitalismus eine bestimmte Entwicklungsstufe etwa im Gegensatz von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen oder einer finalen ökonomischen Krise erreicht haben muss, die gleichbedeutend mit dem Beginn des Untergangs ist. Insbesondere in den Frankreichschriften lässt sich allerdings eine Verbindung finden, weil Marx in diesen Texten, die eigentlich auf die Aktionen des Proletariats abstellen, als Begründung dessen Scheiterns die historische (Entwicklungs-)Unreife der kapitalistischen Produktionsverhältnisse angibt. Ein bestimmtes Entwicklungsstadium der kapitalistischen Produktionsweise scheint also grundlegend notwendig, aber allein keine hinreichende Bedingung zu sein. Es braucht notwendigerweise die Aktivität des Proletariats. Es zeigt sich hier also, dass das strukturalistische Denken bei Marx eine basale Denkfigur ist. Allerdings entwickeln sich nach den Ereignissen um 1871 bei Marx die Einsicht stärker, dass Parteien und Gewerkschaften bei der Identitäts- und Bewusstseinsbildung hilfreiche beziehungsweise sogar notwendige Katalysatoren der proletarischen Revolution sind. Außerdem stehen diese Gedanken auch als Beweis dafür, dass dem aktiven Handeln des Proletariats eine zentrale Funktion zukommt. Vgl. Frank Deppe: »Demokratie und Sozialismus. Karl Marx und die politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit«, in: Joachim Hirsch/John Kannankulam/Jens Wissel (Hg.), Der Staat der Bürgerlichen Gesellschaft. Zum Staatsverständnis von Karl Marx, Baden-Baden 2015, S. 41ff, hier S. 59.
Über die Unterscheidung von Strukturalismus und Handlungstheorie bei Marx auch Axel Honneth: »Die Moral im ›Kapital‹. Versuch einer Korrektur der Marxschen Ökonomiekritik«, in: Rahel Jaeggi/Daniel Loick (Hg.), Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis, Berlin 2013, S. 350ff, hier S. 350.
Jacques Bidet unternimmt den spannenden Versuch, diese beiden Stränge zusammenzudenken und aus den Begrifflichkeiten der Marx’schen Theorie so eine sozialwissenschaftliche Theorie der Moderne zu kreieren. Vgl. Jacques Bidet: »Die metastrukturelle Rekonstruktion des Kapital«, in: Jan Hoff/Alexis Petrioli/Ingo Stützle et al. (Hg.), Das Kapital neu lesen. Beiträge zur radikalen Philosophie, Münster 2006, S. 146ff.
82Karl Marx: »Rede auf der Jahresfeier des ›People’s Paper‹ am 14. April 1856 in London«, in: MEW 12, Berlin 1963, S. 3f, hier S. 4. Leo Panitch weist auf die Dialektik im Manifest der Kommunistischen Partei hin, dass die Proletarier durch die kapitalistische Produktion immer enger zusammen gedrängt werden und gleichzeitig auch die technischen Entwicklungen der kapitalistischen Produktionsweise wie Telefon und schnellere Transportmittel zur eigenen Politisierung nutzen. Vgl. Leo Panitch: »The Two Revolutionary Classes of the Manifesto«, in: Terrell Carver/James Farr (Hg.), The Cambridge Companion to The Communist Manifesto, Cambridge 2015, S. 122ff.
Carol Johnson hingegen argumentiert, dass Marx unterschätzt hätte, wie sehr das Proletariat bereit sei, auch ein kapitalistisches System zu stützen, wenn sich dieses reformistisch der sozialen Frage widmet und das er ebenso unterschätzt hätte, wie sehr das Proletariat bereits durch die bürgerlichen Vorstellungen etwa von Freiheit und Gleichheit geprägt gewesen war. Das Proletariat als politischer Akteur sei damit deutlich weniger ›naheliegend‹. Vgl. Carol Johnson: »The Problem of Reformism and Marx’s Theory of Fetishism«, in: New Left Review 119 (1980), S. 70ff.
Allerdings zeigt etwa Siyaves Azeri, dass die Klasse für Marx generell keine statische oder abgeschlossene Entität bildet, sondern etwas Fluides ist, was sich im Prozess der Bewusstseinsbildung und der politischen Aktion fortlaufend verändert. Vgl. Siyaves Azeri: »Marx’s Concept of Class. A Reconsideration«, in: Critique 43 (2015), S. 439ff.
83K. Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1860 (1960), S. 89f.
84K. Marx, Kritik des Gothaer Programms (1962), S. 28.
85Diese Frage blieb letztlich der Interpretation oder Spekulation offenstehend. Gerade in Deutschland und Russland Anfang des 20. Jahrhunderts wird diese von vielen sozialistischen Denkern prominent geführt. Unter den Eindrücken der Bolschewiki gegen die Menschewiki in der Russischen Revolution 1917 stritten Karl Kautsky, Leo Trotsky, Eduard Bernstein, Rosa Luxemburg, aber auch Georgi Plechanow oder Franz Mehring über die ›Diktatur des Proletariats‹ und die ›Permanenzerklärung der Revolution‹. Vgl. Emanuele Saccarelli: »The Permanent Revolution in and around the Manifesto«, in: Terrell Carver/James Farr (Hg.), The Cambridge Companion to The Communist Manifesto, Cambridge 2015, S. 105ff. Referenzen und Kommentare auch bei M. Johnston: »Marx, Blanqui and Majority Rule«, in: Socialist Register 1983, S. 296ff, hier S. 302.
Beide Begriffe sind, wie Arkadij Gurland zeigt, in der sozialistischen Debatte überhaupt erst nach der Russischen Revolution von 1917 aufgeladen und bestimmend geworden. Vgl. Arkadij Gurland: Marxismus und Diktatur, Frankfurt a.M. 1981, S. 102. Danach allerdings wurde die Frage zur Gretchenfrage innerhalb sozialistischer Bewegungen und sozialdemokratischer Parteien. Die Gefahr, eher jedoch die Angst vor dem Bolschewismus und allem was damit zusammenhängt war geboren. Vgl. Joachim Käppner: 1918 – Aufstand für die Freiheit, München 2019, S. 207ff; Wolfgang Ruge: »Das Durchdenken sich ändernder Realitäten«, in: Eric J. Hobsbawm/Samīr Amīn (Hg.), Das Manifest – heute. 150 Jahre Kapitalismuskritik, Hamburg 1998, S. 170ff, hier S. 176. Mithin auf den Gedanken zu Diktatur und permanenter Revolution erhoben sich die diktatorischen Regime des Realsozialismus, scheiterten und rissen damit die Vision von Marx der politisch-revolutionären Herstellung von Gestaltungsfreiheit mit sich fort.
David Lovell und C. B. Macpherson gehen insbesondere auf die Schwierigkeit ein, die sich aus der revolutionären und diskreten Machtergreifung hinsichtlich des Anspruches einer partizipativen, konsensorientierten und toleranten Demokratie ergibt. Vgl. David Lovell: From Marx to Lenin, Cambridge 1984, S. 67; C. B. Macpherson: The Life and Times of Liberal Democracy, Oxford 1977, 99ff.
Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die Argumentation Andreas Fisahns, der in der Diktatur des Proletariats die sozialistische Demokratie, also die ›Diktatur der Mehrheit‹ über die Minderheit entdeckt und diese damit von der bolschewistischen Form abzugrenzen versucht. vgl. A. Fisahn (2018), 163ff.
Alex Callinicos weist auf das zeitgenössische Verständnis von ›Diktatur‹ hin, welches eher am antiken Rom angelehnt war und alle neuzeitlichen Formen mit Verfolgungsbehörden und Lagern kaum vorstellbar waren. Was sich demnach im Realsozialismus ausbildetet, liege daher außerhalb des Denkens von Marx. Vgl. A. Callinicos (2005), S. 196. Dazu auch lesenswert Ist Hal Draper: »Marx and the Dictatorship of the Proletariat«, in: New Politics 4 (1964), S. 91ff. Zum Prozess, aus dem Marx Diktatur-Verständnis hervorging auch R. Bauermann, 1979.
Klar wird, wie entscheidend der historische Kontext ist und nicht einfach retrospektiv Urteile zu fällen. Zum persönlichen Kontext von Marx und dessen Aussagen etwa W. Schieder (2018), S. 32; F. Deppe, Demokratie und Sozialismus (2015), S. 48f; John Hoffman: »The Communist Manifesto and the Idea of Permanent Revolution«, in: Mark Cowling/Terrell Carver (Hg.), The Communist Manifesto. New Interpretations, Edinburgh 1998, S. 77ff; Rolf P. Sieferle: Die Revolution in der Theorie von Karl Marx, Tübingen 1979, 89ff; Richard N. Hunt: The Political Ideas of Marx and Engels, London 1975, 212ff.
Diese kurzen Ausführungen geben nur einen Einblick in eine wesentlich umfassendere Debatte.
86Ebd., S. 69f.
Insofern sind alle Zweifel unberechtigt, die hier für viele stellvertretend von Susanne Miller ausgedrückt werden, der zufolge Marx die Frage unbeantwortet ließ, ob die Emanzipation des Proletariats auch in der bürgerlichen Gesellschaft und also über Reformen erreichbar gewesen wäre. Dies ist ein existenzieller Widerspruch zu vielen Grundpfeilern des Marx’schen Denkens. Insbesondere die Stellung der Arbeit in der kapitalistischen Produktionsweise als eine entfremdete Tätigkeit spräche dem entgegen. Es ist schlicht unmöglich innerhalb der kapitalistischen Produktion eine andere Form von Arbeit zu erreichen. Würde sich das kapitalistische Produktionsverhältnis insoweit ändern, dass Arbeit tatsächlich freie Lebensäußerung wäre, so fiele die Grundlage jeder kapitalistischen Produktion in sich zusammen. Weder die menschliche Emanzipation allgemein noch die Befreiung des Proletariats speziell sind daher in den kapitalistischen Verhältnissen oder der bürgerlichen Klassengesellschaft erreichbar. Vgl. Susanne Miller: Das Problem der Freiheit im Sozialismus, Frankfurt a.M. 1984, S. 118.
87Darin präsentiert sich ein Existenzialismus in Marx Denken. Der Existenzialismus wiederum ist, wie etwa Paul Tillich sagt, »eine über hundert Jahre Bewegung der Rebellion gegen die Entmenschlichung des Menschen in der industriellen Gesellschaft.« Paul Tillich: Der Mensch im Christentum und im Marxismus, Düsseldorf 1953, S. 195. Über den Existenzialismus in Marx Denken etwa E. Fromm, Das Menschenbild bei Marx (1980), S. 51ff.
88K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1959), 472, 473.
89I. Mészaros (1973), S. 201.
90K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1959), S. 493.
91K. Marx/F. Engels, Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik (1969), S. 38.
92K. Marx, Theorien über den Mehrwert III (1968), S. 422.
93K. Marx, Das Elend der Philosophie (1959), S. 136. Dazu auch Seongjin Jeong: »Marx’s Communism as Associations of Free Individuals«, in: Marx-Engels-Jahrbuch (2016), S. 115ff, hier S. 123.
94K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 35. Ähnlich auch K. Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (1968), S. 343.
95K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 70.
96Vgl. Alex Demirović: »Kritik der Politik«, in: Rahel Jaeggi/Daniel Loick (Hg.), Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis, Berlin 2013, S. 463ff, hier S. 480.
97Vgl. Gregor Schäfer: »Das Proletariat gibt es nicht … Prolegomena zu einer Wahrheitspolitik nach Marx«, in: Matthias Bohlender/Anna-Sophie Schönfelder/Matthias Spekker (Hg.), Kritik im Handgemenge. Die Marx’sche Gesellschaftskritik als politischer Einsatz, Bielefeld 2018, S. 303ff, hier S. 324ff.
98K. Marx, Auszüge aus James Mills Buch ›Éléments d’économie politique‹ (1968), S. 462f. Dazu auch I. Fetscher (2018), S. 149.
99K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 74.
100Vgl. Robert Ware: »Marx, the Division of Labor, and Human Nature«, in: Social Theory and Practice 8 (1982), S. 43ff, hier S. 64ff.
101K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 74.
102Ebd.
103Ebd., S. 33.
104Ebd. Terell Carver geht in seinem Beitrag darauf ein, dass darin nicht die direkte Gegenüberstellung einer industrialisierten bürgerlichen Gesellschaft und einer prä-industriellen kommunistischen Gesellschaft gesehen werden darf, sondern es Marx in diesem Absatz nur um die Art der Arbeitsteilung als solcher geht. Vgl. Terrell Carver: »Communism for Critical Critics? The German Ideology and the Problem of Technology«, in: History of Political Thought 9 (1988), S. 129ff.
Es wäre in dieser Hinsicht eine Fehlinterpretation, davon auszugehen, Marx hätte sich die kommunistische Gesellschaft als die Überwindung der Arbeitsteilung an sich vorgestellt. Es ist fraglich, ob Marco Iorio das meint, wenn er schreibt, dass die kommunistische Gesellschaft das »Problem der Arbeitsteilung« überwunden hat. Marco Iorio: »Liberalismus, Kommunitarismus, Kommunismus. Marx im Spannungsfeld der politischen Philosophie der Gegenwart«, in: Marx-Engels-Jahrbuch (2004), S. 54ff, hier S. 73. Dazu auch J. Elster (1985), 89, passim. Der eigentliche Unterschied liegt nicht in der Aufhebung der Arbeitsteilung, sondern in der Befreiung der arbeitsteiligen Gesellschaft von der kapitalistischen Verwertungslogik, welche den Individuen ermöglicht, sich nach den eigenen Vorstellungen und Interessen unterschiedlich zu entwickeln. Vgl. R. Ware, 1982, S. 44.
105K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 67f.
106Vgl. I. Fetscher (2018), S. 63.
107Ebd., S. 68.
108Vgl. K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (1983), S. 607. Dies scheint eine kaum zu bewältigende Aufgabe zu sein. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass Marx hier tatsächlich an das einzelne Individuum dachte. Viel wahrscheinlicher dachte er an das kommunistische Kollektivsubjekt, zusammengesetzt aus einzelnen Individuen. Bezieht sich der Anspruch des total entwickelten Individuums auf das Proletariat als kollektiven Akteur, scheint es wahrscheinlicher umsetzbar.
109Vgl. ebd., 600ff.
110Vgl. K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 424. Zum Privateigentum schreibt Marx in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: »Wenn das Proletariat die Negation des Privateigentums verlangt, so erhebt es nur zum Prinzip der Gesellschaft, was die Gesellschaft zu seinem Prinzip erhoben hat, was in ihm als negatives Resultat der Gesellschaft schon ohne sein Zutun verkörpert ist.« K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1957), S. 391.
111K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 379.
112K. Marx/F. Engels, Das Kapital (1966), S. 828.
113Vgl. Paul Santilli: »Marx on Species-Being and Social Essence«, in: Studies in Social Thought 13 (1973), S. 76ff, hier S. 85. Für Paul Santilli ist daher auch die »individual essence […] the social essence.« ebd., S. 83f.
114K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 (1968), S. 540.
115Vgl. ebd., S. 537.
116K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1959), S. 475.
117K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 (1968), S. 537f.
118Ebd., S. 540.
119Ebd.
120Ebd., S. 537f.
121K. Marx, Auszüge aus James Mills Buch ›Éléments d’économie politique‹ (1968), 462, 463.
122Vgl. M. E. Schäfer (2018), S. 426.
123C. Henning, 2009, S. 122.
124Vgl. K. Marx, Theorien über den Mehrwert III (1968), S. 253. Dazu auch K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (1983), 105, 601. Die Individuen sind dann also nicht mehr durch die Zeit beherrscht und organisiert, sondern entscheiden selbst über die Zeit, und darüber, was sie damit anfangen wollen. Zeit ist dann keine abstrakte und vermeintlich objektive Macht mehr. Für Peter Hudis lässt sich daran exemplarisch zeigen, wie tief die Marx’sche Vorstellung einer postkapitalistischen Gesellschaft geht, weit über die Aufhebung des Privateigentums und Ausschaltung des privaten Marktes hinaus. Vgl. P. Hudis, Imagining Society Beyond Capital (2017), S. 190.
William Booth bringt die kapitalistische und kommunistische Gesellschaft genau anhand der Zeit in Gegenüberstellung. Während die kapitalistische Gesellschaft die Arbeitszeit immer weiter ausdehnt und damit größeres Elend schafft, etabliert die kommunistische ein freieres Zeitregime. Dabei ist das Paradox der kapitalistischen Gesellschaft, dass durch die Entwicklung der Produktivkräfte eigentlich die Möglichkeit für mehr freie Zeit immer deutlicher, gleichzeitig aber mehr Zeit in die Produktion aufgesaugt wird. Dieses Paradox wird von Marx allerdings nicht als per se barbarisch, sondern teleologisch notwendig für die Befreiung der bürgerlichen in der kommunistischen Gesellschaft gesehen. Vgl. W. J. Booth, 1991, S. 21.
125Adam Schaff: Marxism and the Human Individual, New York 1970, S. 186. G. P. Peterson stellt Marx daher mit Plato gegenüber, wobei dieser die perfekte Welt in der Welt der Ideen sah, in der die Individuen vollständige Freiheit erleben, weil sie im Einklang mit einer gut geordneten Welt leben. Für Marx hingegen ist die Befreiung vom Privateigentum die Bedingung der Freiheit. Vgl. G. P. Peterson: »Karl Marx and his Vision of Salvation: the Natural Law and Private Property«, in: Review of Social Economy 52 (1994), S. 377ff, hier S. 390.
126Vgl. K. Marx, Das Kapital (1974), S. 465.
127K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 35.
128K. Marx, Das Elend der Philosophie (1959), S. 181.
129K. Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (1968), S. 342.
130A. Demirović, Kritik der Politik (2013), S. 479.
131K. Marx, Das Elend der Philosophie (1959), S. 182. Dazu auch K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (1983), S. 92.
132K. Marx, Das Elend der Philosophie (1959), S. 182.
133K. Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (1968), S. 336.
134Dies ist der gedankliche Hintergrund von Friedrich Engels, wenn er feststellt, dass der Staat nicht »abgeschafft« wird, sondern ›abstirbt‹ und »verschwindet«. Friedrich Engels: »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«, in: MEW 19, Berlin 1962, S. 181ff, hier S. 224.; Friedrich Engels: »Brief an Philip van Patten 18. April 1883«, in: MEW 36, Berlin 1967, S. 11f, hier S. 11. Dazu auch Hal Draper: »The Death of the State in Marx and Engels«, in: Socialist Register 1970, S. 281ff. Radikal-revolutionäre Politik stellt damit nicht nur die fundamentale Alternative zur bürgerlichen Klassengesellschaft, sondern auch zu Herrschaft überhaupt dar. Als unmittelbare Folge der Klassengesellschaft verliert die politische Gewalt gleichsam mit den Klassen an Bedeutung. Vgl. K. Marx, Das Elend der Philosophie (1959), S. 182.
135K. Marx, Kritik des Gothaer Programms (1962), S. 21. Die Verteilung des erarbeitenden Gesamtproduktes beschreibt Marx in der Kritik des Gothaer Programms ausführlich. Siehe ebd., S. 18f.
136Im Kern von Das Kapital, so lautet eine mittlerweile weit geteilte Ansicht, steht damit eine Kritik, die sich mit dem Vergleich von Ideal und Wirklichkeit von Freiheit und Gleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft befasst. Diese Kritik zeige die in der Wirklichkeit vorhandenen eklatanten, aber auch strukturell bedingten Mängel von Freiheit und Gleichheit in der bürgerlichen Klassengesellschaft auf. Vgl. Rahel Jaeggi: Kritik von Lebensformen, Frankfurt a.M. 2014, S. 285; Titus Stahl: Immanente Kritik., Frankfurt a.M./New York 2013, S. 48.
137Vgl. S. Jeong, 2016, S. 116.
138Vgl. William J. Booth: »Gone Fishing: Making Sense of Marx’s Concept of Communism«, in: Political Theory 17 (1989), S. 205ff. Für William Booth zeigt sich darin eine teilweise Übereinstimmung des Marx’schen Denkens mit der Philosophie von Micheal Oakshott.
139K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 (1968), S. 537.
140Vgl. I. Mészaros (1973), S. 161.
141Vgl. Raymond Geuss: »Marxismus und das Ethos der Moderne«, in: Rahel Jaeggi/Daniel Loick (Hg.), Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis, Berlin 2013, S. 89ff, hier S. 105f.
142K. Marx, Das Kapital (1974), S. 94.
143K. Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (1968), S. 343.
144Vgl. D. Ashley, Marx and the Category of ›Individuality‹ in Communist Society (1999), S. 680.
145K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1960), S. 117.
146Seongjin Jeong und auch Ed Rooksby sehen in der sozialen Freiheit und der bürgerlichen Freiheit keine Antithesen, sondern in ersterer eine Radikalisierung der bürgerlich demokratischen Freiheit. Vgl. S. Jeong, 2016, S. 116; Ed Rooksby: »The Relationship between Liberalism and Socialism«, in: Science and Society 76 (2012), S. 495ff. Iring Fetscher bemerkt hingegen, dass sich Marx Freiheitskonzept aus der Ablehnung sowohl der liberalen Idee als auch von der anti-individualistischen oder »bürgerlich-demokratischen« Idee heraus konstituiert. Vgl. I. Fetscher (2018), S. 139ff.
147F. Neuhouser, Marx (und Hegel) zur Philosophie der Freiheit (2013), S. 34.
148Thilo Ramm: »Die künftige Gesellschaftsordnung nach der Theorie von Marx und Engels«, in: Iring Fetscher (Hg.), Marxismusstudien. Zweite Folge, Tübingen 1957, S. 77ff, hier S. 99.
Frederick Neuhouser findet in Marx’ Werk viele verschiedene Freiheitsideen, die teilweise miteinander verbunden sind. Dies wären »Freiheit als Selbstverwirklichung […], Freiheit als die Verwirklichung des Gattungswesen oder die Überwindung von Entfremdung, Freiheit als tatsächliche Macht oder Fähigkeit […], den eigenen Willen durch Handlungen zu verwirklichen, Freiheit als kollektive, demokratische Selbstregierung, sogar Freiheit als Emanzipation von den Zwängen der Natur.« Zu Recht bemerkt Frederick Neuhouser dann folgerichtig, dass Freiheit aufgrund der Mehrdeutigkeit zu einer leeren Hülle werden könnte. Allerdings ist seiner opulenter Aufzählung hier so nicht unbesehen zuzustimmen. Viele der von ihm als vermeintlich verschieden aufgeführten Marx’schen Freiheitsbegriffe sind vielmehr nur verschiedene Ausdrücke des gleichen gesellschaftlichen Phänomens. So ist etwa die Verwirklichung des Gattungswesen nicht zu haben ohne die individuelle Selbstverwirklichung, vielmehr bedeutet das eine das andere. Zugleich ist die Befreiung von natürlichen Zwängen kein Freiheitsbegriff, der auf gleicher Ebene mit der Selbstverwirklichung existiert. Vielmehr ist die Befreiung von natürlichen Zwängen ein Prozessschritt in der historischen Entwicklung selbst oder genauer: gerade darin besteht die historische Leistung des Kapitalismus. Vgl. F. Neuhouser, Marx (und Hegel) zur Philosophie der Freiheit (2013), S. 26.
Zum Freiheitsbegriff bei Marx auch R. Boesche, Marx – Despotism of Class and Workplace (1996), S. 248ff.
149K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 74.
150K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1959), S. 482.
151K. Marx/F. Engels, Das Kapital (1966), S. 828.
152I. Fetscher (2018), S. 140.
153Vgl. P. Gose/J. Paulson, Capital and its ›Laws of Motion‹ (2017), S. 99f. Marx nutzte die Idee von Freiheit einmal, um an der modernen Gesellschaft Kritik zu üben und zum anderen als Aufhänger, um über eine bessere nachzudenken. Vgl. F. Neuhouser, Marx (und Hegel) zur Philosophie der Freiheit (2013)
154A. Honneth (2017), S. 39.
155Ebd., S. 40.
156Karl Marx: »Zur Judenfrage [1843]«, in: MEW 1, Berlin 1957, S. 347ff, hier S. 370.
157K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1957), S. 385. Hier zeigt sich auch der von Ludwig Feuerbach inspirierte Humanismus von Marx, der sich im Kern wahrscheinlich bis zu seinem Tode erhält und biografisch zwischen seiner Arbeit bei der Rheinischen Zeitung und dem erzwungenen ersten Exil in Brüssel entstanden sein wird.
158K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 75. Dazu auch I. Fetscher (2018), S. 51. Freiheit und Befreiung erscheinen immer häufiger in Marx’ Schriften, je näher man der Vorstellung über die kommunistische Gesellschaft darin kommt.
159I. Pies, Karl Marx’ kommunistischer Individualismus (2016), S. 304. William Roberts erkennt darin die Idee der neorepublikanischen Freiheit. Vgl. W. C. Roberts (2017), S. 7. Kern des neorepublikanischen Freiheitsbegriffs ist die Selbstbeherrschung der Gesellschaft. Daher nennt Michael Thompson Marx Kapitalismuskritik und Vision radikal-republikanisch. Vgl. Michael J. Thompson: »The Radical Republican Structure of Marx’s Critique of Capitalist Society«, in: Critique 47 (2019), S. 391ff. Ein Ausdruck davon könnten die rätedemokratischen Elemente in Marx’ Denken sein, wie sie Alex Demirović betont. Vgl. Alex Demirović: »Rätedemokratie oder das Ende der Politik«, in: Prokla 39 (2009), S. 181ff.
160K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 (1968), S. 544.
161Ebd., S. 536. Hans-Christoph Schmidt am Busch erkennt darin Konzepte einer transparenten und harmonischen Gesellschaft, wie sie auch im Frühsozialismus zu finden seien. Vgl. Hans-Christoph Schmidt am Busch: »›The Egg of Columbus?‹. How Fourier’s social theory exerted a significant (and problematic) influence on the formation of Marx’s anthropology and social critique«, in: British Journal of the History of Philosophy 21 (2013), S. 1154ff.
D. Gregory befasst sich mit dem Einfluss der zeitgenössischen französischen Sozialisten auf Marx, und zwar hinsichtlich der Vorstellung einer kommunistischen Gesellschaft. Vgl. D. Gregory: »The Influence of French Socialism on the Thought of Karl Marx, 1843-1845«, in: Proceedings of the Western Society for French History 6 (1978), S. 242ff.
Auch andere behandeln Marx’ Vorstellung der kommunistischen Gesellschaft, etwa Richard N. Hunt: The Political Ideas of Marx and Engels, London 1984; Bertell Ollman: »Marx’s Vision of Communism: A Reconstruction«, in: Critique 8 (1977), S. 4ff. Richard Nordahl geht dabei darauf ein, ob die Vorstellung der kommunistischen Gesellschaft von Marx auf einer normativen Grundlage beruht. Vgl. Richard Nordahl: »Marx on Evaluating Pre-capitalist Societies«, in: Studies to the Soviet Thought 31 (1986), S. 303ff
162K. Marx, Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie (1964), S. 641.
163K. Marx, Das Elend der Philosophie (1959), S. 182. Dazu auch Kenneth A. Megill: »The Community in Marx’s Philosophy«, in: Philosophy and Phenomenological Research 30 (1969), S. 382ff, hier S. 392.
164F. Haug, Feministische Anmerkungen (1998), S. 190.