4.Die bürgerliche Mittelstandsgesellschaft als despotisme démocratique
Tocquevilles Kritik
4.1Ökonomische Dynamik und politische Erstarrung
Die despotisme démocratique basiert auf den durch die Demokratisierung ausgelösten verschiedenen Prozessen, deren Ausdrücke die einzelnen sozialen Erfahrungen sind. Ein bestimmter état social bildet überhaupt erst die Grundlage des état politique als neue Form der Despotie. »Equality has prepared men for all these things; it has disposed men to bear them and often even to regard them as a benefit.«1 Égalité des conditions und persönliche Unabhängigkeit sind die Grundlagen der despotisme démocratique. Dennoch verwendet Tocqueville den Begriff der Despotie. Die Freiheit der Individuen und die Möglichkeiten politischer Gestaltungsfreiheit scheinen auf eine ganz bestimmte Weise eingeschränkt zu sein. Es muss nun ein genauer Blick auf die Freiheit in der despotisme démocratique beziehungsweise auf das Verhältnis von Gleichheit und Freiheit geworfen werden, und zwar sowohl bezüglich der individuellen Freiheit als auch hinsichlich dem Bewusstsein der Freiheit der gesellschaftlichen Entwicklung. Dabei wird zuerst der Gehalt an Individualität und dann die Folgen für die Möglichkeiten an Gestaltungsfreiheit der gesellschaftlichen Entwicklung beziehungsweise dem Gehalt an Kontingenzbewusstsein gefragt.
Eine wesentliche Bedingung der despotisme démocratique ist die materialistische Kultur der demokratischen Gesellschaft. Diese sorgt für eine zunehmende Angleichung und Begrenzung der Variabilität individuellen Handelns.2 Die individuelle Lebensführung erscheint zunehmend in einer rigiden Konformität.3 Drohende Gleichförmigkeit des Handelns und passion du bien-être sind zwei Seiten einer Medaille.
Die materialistische Kultur ist Ausdruck der persönlichen Unabhängigkeit. Zu betonen ist daher, dass die despotisme démocratique kein Zustand fehlender Unabhängigkeit, totaler Fremdbestimmung oder absoluter Unfreiheit ist. Sie basiert vielmehr auf der freien, allerdings begrenzten, also nahezu ausschließlich wirtschaftlichen freien Betätigung der Individuen und auf der gesellschaftlichen Mobilität. Die private Freiheit ist die Grundlage der materialistischen Kultur der bürgerlichen Mittelstandsgesellschaft. An dieser Stelle ist eine begriffliche Differenzierung von Jean-Claude Lamberti hilfreich, der hinsichtlich Tocquevilles Werk zwischen einer privaten und einer öffentlichen Freiheit unterscheidet, wobei hier, in der despotisme démocratique, die Individuen in ihren Privatangelegenheiten durchaus frei sind.4 Dahinter steht letztlich die Unterscheidung des Individuums als wirtschaftlichem Akteur, dem Bourgeois und als politischem Subjekt, dem Citoyen. Bei Tocqueville klingt das wie folgt: »[S]ubjects still found there, but citizens are seen no more.«5 Private Freiheit ja, öffentliche Freiheit nein – das ist die Formel der despotisme démocratique. Mit dem Verlust an beziehungsweise der Aufgabe der öffentlicher Freiheit verlieren die Individuen ihre politischen Gestaltungsfreiheiten aus dem Blick und das kollektive Kontingenzbewusstsein verschwindet.
Diese Feststellung beruht auf Tocquevilles Gedanken, dass in der despotisme démocratique wirtschaftliche Unternehmungen der Individuen nicht etwa beschränkt, sondern sogar extrem gefördert werden. Der materialistische Handlungszusammenhang wird nicht beschränkt, sondern noch angetrieben. Die despotisme démocratique ist insofern die Perfektionierung der persönlichen Unabhängigkeit, verstanden als Grundlage individuellen ökonomischen Strebens. Ökonomische Betriebsamkeit ist gerne gesehen und durch die materialistische Kultur gesellschaftlich ohnehin positiv prämiert.6 Diese Orientierung hält die Individuen erstens in ihren Privatgeschäften, damit zweitens voneinander entfernt und drittens von der Selbstregierung fern. Die Verbindung von persönlicher Unabhängigkeit und gesellschaftlicher Mobilität in wirtschaftlicher Hinsicht mit einer Despotie, die nicht tyrannisiert, sondern die Individuen politisch hemmt, ist der zentrale Zusammenhang, der Tocqueville als eigenartig und neuer Zustand, als eine neue Form der Despotie erschien. Die materialistische Kultur der bürgerlichen Mittelstandsgesellschaft, so ist die Wahrnehmung Tocquevilles, tritt an die Stelle der Ehre der aristokratischen Gesellschaft, selbstlos und politisch interessiert zum Wohle der Gemeinschaft zu agieren.
Unmissverständlich deutlich wird hier nochmals, dass Tocqueville unter persönlicher Unabhängigkeit, die durchaus ein Schlüsselprinzip demokratischer Gesellschaften und auch der bürgerlichen Mittelstandsgesellschaft ist, nicht einfach Freiheit versteht.7 »I have always believed that this sort of servitude, regulated, mild and peaceful, […] could be combined better than we imagine with some of the external forms of liberty.«8 Freiheit ist in seinem Verständnis ein komplexeres Phänomen. Daher kann persönliche Unabhängigkeit unter der égalité des conditions in der Folge trotzdem Unfreiheit bedeuten, und zwar hinsichtlich der öffentlichen Freiheit zur Gestaltungsfreiheit in der Despotie. Die Vervollständigung der persönlichen Unabhängigkeit beschreibt Tocqueville damit ebenso als Grundlage des despotischen Potenzials der bürgerlichen Mittelstandsgesellschaft, wie den freiwilligen Verlust von Gestaltungsfreiheiten und Kontingenzbewusstsein. Die Individuen sind einander fremd geworden, fühlen sich politisch schwach und unterwerfen sich daher dieser modernen Form der Despotie. Die Individuen der despotisme démocratique sind keine öffentlich oder politisch freien Individuen mehr. Die bewusste Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung erscheint ihnen nicht mehr als nützlich. Je stärker wiederum die Zentralisierung vorangetrieben wird oder voranschreitet, desto geringer auch das allgemeine Interesse an öffentlicher Freiheit. Die Regierung wird immer weniger Sache der Individuen und immer mehr von einem übermächtigen Zentralstaat aus gemacht.9 Das allgemeine Interesse an bewusster Gestaltung nimmt also in dem Maße noch weiter ab, in dem der despotische Zentralstaat an Bedeutung gewinnt, denn damit sinkt auch der individuell wahrnehmbare politische Einfluss. Je größer die Entfernung der Individuen von der Regierung ist, und zwar sowohl räumlich als auch aus der Perspektive des Handlungszugriffs, desto geringer schätzen die Individuen ihren eigenen politischen Einfluss ein, was deren politischen Ambitionen weiter sinken lässt.10
Damit wird auch deutlich, dass Demokratisierung laut Tocqueville nicht mit einer automatischen Zunahme an öffentlicher Freiheit oder automatischem Zuwachs an Kontingenzbewusstsein einhergeht. Ganz im Gegenteil besteht im Prozess der Demokratisierung sogar eine potenzielle Gefahr für diese Freiheit.11 Vielmehr beschreibt Tocqueville die Demokratisierung als Prozess, an dessen Ende mindestens potenziell ein état politique der Unfreiheit beziehungsweise der Despotie steht.
Das ist das Besondere an der despotisme démocratique. Es ist eine neue Form von Despotie, eine bisher nicht bekannte. Alle bisher bekannten Formen beruhten gerade auf Ungleichheit und totaler Unfreiheit der Individuen; dass hingegen eine Despotie auch auf Gleichheit und persönlicher Unabhängigkeit basieren kann, macht es so schwierig, diese Form zu umschreiben. Darin liegt auch der Grund, dass Tocqueville selbst mit den Begrifflichkeiten seine Schwierigkeiten hat: »[T]he old words of despotism and of tyranny do not work.«12 Es ist in der Tat eine neue Erscheinung – eine Erscheinung der neuen Welt. »The thing is new, so I must try to define it.«13
Die Individuen erkennen in ihrem einzelnen materiellen Streben den ersten Ausdruck ihrer persönlichen Unabhängigkeit und privaten Freiheit. Sie leiden daher nicht unter dem Mangel an öffentlicher Freiheit. Der sittliche Verfall, das bewusste Ablassen der Individuen von den Gestaltungsmöglichkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung ist das, was Tocqueville am meisten fürchtet. So schreibt er an seinen Übersetzer Henry Reeves: »Die große Gefahr in demokratischen Zeiten ist, da können Sie sicher sein, die Zerstörung oder übermäßige Schwächung des sozialen Körpers.« Diese führe, so fährt er an gleicher Stelle fort, zum
»Missbrauch der Demokratie, […] unterstützt Despotismus und Zentralisierung, fördert die Verachtung der Rechte des Einzelnen, begünstigt eine Lehre von der Notwendigkeit, überhöht Institutionen und Lehren und macht aus der Nation alles und aus den Bürgern ein Nichts.«14
Diese Form der Despotie ist damit in der Tat Ausdruck einer ›gesellschaftlichen Krankheit,‹15 deren Symptome Isolation, Rückzug und übersteigerter Materialismus sind. Aus der Entwicklung der Demokratisierung ergeben sich also »deformierende Wirkungen« oder »Sozialisationsschäden,« welche die Individuen von der Selbstregierung abbringen und der despotisme démocratique zutreiben.16 Die Individuen sind darin politisch unfrei, und zwar weil sie die Entwicklung nicht mehr bewusst gestalten und ihr Handeln freiwillig materialistischen einengen.
Tocqueville ist also besorgt, dass die Individuen politisch verweichlichen und entwöhnt werden und ihnen insgesamt der Antrieb zur politischen Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung verloren geht.17 Das Perfide daran ist, dass die ökonomische Orientierung des Handelns das Leben der Individuen tatsächlich besser und komfortabler macht.18
»But while man takes pleasure in this honest and legitimate pursuit of well-being, it is to be feared that in the end he may lose the use of his most sublime faculties, and that by wanting to improve everything around him, he may in the end degrade himself. The danger is there and nowhere else.«19
Im Grunde profitiert die demokratische Gesellschaft sogar zunächst ökonomisch von der Entpolitisierung der Individuen und der politischen Erstarrung der despotisme démocratique, denn er ermöglicht den Individuen ein vermeintlich ›erfolgreicheres‹ Streben nach materiellem Wohlstand, wobei dieser zum Selbstwert geworden ist. Insofern ließe sich überspitzt festhalten, dass die despotisme démocratique überhaupt zur Bedingung des Fortschritts wird, wie die demokratische Gesellschaft diesen verklärt. Die despotisme démocratique ist daher auf keinen Fall eine ›entartete Verfassung‹ in einem aristotelischen Sinn, also zugunsten einer Person oder Gruppe gestaltet. Im Gegenteil ist die despotisme démocratique Ausdruck der maßgeblichen Interessen der Individuen, nämlich ihrer ökonomischen Bestrebungen. Die neue Despotie ist daher und aus dieser Perspektive zugunsten aller gestaltet, doch für Tocqueville eben auch mit dem großen Makel behaftet, dass die gesellschaftliche Entwicklung politisch in ökonomischem Fortschritt erstarrt.
Tocquevilles Kritik ist, dass die bürgerliche Mittelstandsgesellschaft insgesamt an politischer Spannkraft verliert20 und das kollektive Bewusstsein über die Kontingenz der gesellschaftlichen Entwicklung droht zu verkümmern. Doch nicht nur das kollektive Bewusstsein ist in Gefahr, sondern Kollektivität insgesamt. Die Individuen finden sich immer mehr und zusehends vollständig in der Isolation wieder, stehen zwar gleichberechtigt nebeneinander, aber haben den Kontakt zueinander verloren.21 Die eigene Familie und das eigene kleine soziale Umfeld sind Gesellschaft genug – es ist die Höchstform, die der Individualismus annehmen kann. So vereinzelt erscheint jedem Individuum die eigene Schwäche in gesteigerter Deutlichkeit. In der allgemeinen Kultur der passion du bien-être matériel drückt sich eine bisher unbekannte Seite der Gleichheit aus. Diese Kultur wird zunehmend bestimmend für die individuelle Lebensführung.
Tocqueville beschreibt eine sich selbst verstärkende Dynamik aus Materialismus, Mobilität, Macht der Mehrheit und Isolation. Die Einstellung der zur Konsumgesellschaft gewordenen demokratischen Gesellschaft gegenüber Arbeit und ökonomischem Erfolg verstärkt die gesellschaftliche Mobilität, die Industrialisierung, den Materialismus, also die Konsumkultur der Mittelstandsgesellschaft insgesamt.22 Die gesellschaftliche Entwicklung wird zunehmend nurmehr auf wachsenden Wohlstand bezogen beziehungsweise der Eigendynamik und Eigengesetzlichkeit des ökonomischen Fortschritts überlassen. Dieser Zustand ist letztlich Ausdruck eines verfälschten oder verfehlten Eigeninteresses der Individuen. Das Interesse an ökonomischem Erfolg geht zulasten des Interesses an bewusster Gestaltung. Darin besteht die umfassende Täuschung (universal illusion)23 der von Tocqueville als solcher kritisierten Mittelstandsgesellschaft.
»[People, FB] believe that they are following the doctrine of interest, but they have only a crude idea of it, and in order to see better to what they call their affairs, they neglect the principal one which is to remain their own masters.«24
Die bewusste Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung verliert so rasant an Anziehungskraft.
»Violent political passions have little to hold on men who have in this way attached their entire soul to the pursuit of well-being. The ardor that they give to small affairs calms them down about great ones.«25
Ganz im Gegenteil erscheint das individuelle Streben nach materiellem Wohlstand als direkter Ausdruck des Eigeninteresses – die Individuen spüren entsprechend keinen Mangel an politischer Gestaltungsfreiheit oder an Kontingenzbewusstsein. Die Entwicklung, die die Individuen wahrnehmen und tatsächlich auch gestalten wollen, drückt sich in ökonomischen Kategorien aus. Fortschritt besteht in wachsendem materiellem Reichtum. Wie aber angesichts einer sich wandelnden Wirtschaft die Gesellschaft künftig aufgestellt sein sollte, ist insofern und aus der Perspektive der passion du bien-être matériel eine wenig interessante Frage. Die politische Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung wird immer weniger politisch und immer mehr ökonomisch. Damit wird sie aber auch zunehmend individualisierter und isolierter. Es ist eine wesentliche Grundlage der despotisme démocratique, ohne Unterlass und fortwährend den esprit de cité (Bürgergeist) zu schwächen. Nicht nur das individuelle Handeln beschränkt sich zunehmend auf den ökonomischen Bereich, sondern auch das gemeinsame Handeln kann vermehrt nur noch dort stattfinden. Die Despotie ist Ausdruck der politischen Apathie der Individuen; der esprit de cité versiegt in der Despotie nahezu vollständig.26
Doch unabhängig davon werden die Individuen laut Tocqueville immer der Gleichheit entgegen streben:
»[T]hey want equality in liberty, and if they cannot obtain that, they still want equality in slavery. They will suffer poverty, enslavement, barbarism, but they will not suffer aristocracy.«27
Die despotisme démocratique ist der politische Zustand der öffentlichen Unfreiheit in Verbindung mit der Gleichheit und persönlicher Unabhängigkeit und verbindet sich daher mit der Leidenschaft der Individuen für die Gleichheit.28 Die égalité des conditions bringt laut Tocqueville zwei bedeutende alternative Konsequenzen hervor: »[O]ne leads men directly to independence and can push them suddenly as far as anarchy. […] [T]he other leads them by a longer, more secret, but surer road toward servitude.«29 Die erste ist die größte Befürchtung von Individuen, deren Handeln ganz durch die passion du bien-être matériel bestimmt ist. Die zweite ist der von Tocqueville erkannte und beschriebene Entwicklungsverlauf – diese Route der Demokratisierung, die letztlich zur despotisme démocratique führt. »Peoples easily see the first and resist it; they allow themselves to be carried along by the other without seeing it; it is particularly important to show it.«30 Die Beschreibung als Route wird anhand folgender Aussage Tocqeuvilles deutlich: »I am led to think that, if he does not have faith, he must serve, and, if he is free, he must believe.«31 Die Aussage ließe sich erweitern: Steht den Erfahrungen mit der égalité des conditions keine Erfahrung mit der öffentlichen Freiheit entgegen, dann werden die Individuen politisch träge und geben irgendwann Selbstregierung als Ausdruck bewusster Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung vollends auf. Das ist ein Ausdruck von Demokratisierung als Mechanismus verstanden32, wonach also bestimmte Eingaben zu bestimmten Ergebnissen führen. Persönlich unabhängig, wirtschaftlich orientierte auf der einen und apolitische Individuen auf der anderen Seite bilden eine mechanische Verknüpfung.33 Die öffentliche Meinung, die das individuelle ökonomische Streben, also das reine Eigeninteresse, zum höchsten Gut erhebt, bringt allgemein ein individualisiertes und materialistisches Verhalten hervor, welches wiederum die Überzeugung bestärkt, nach der das einzelne ökonomische Interesse an erster Stelle steht. Es entsteht keine politische Kultur der Selbstregierung oder deren Anfänge lösen sich auf und machen der materialistischen Kultur Platz, in der Entpolitisierung und die Zentralisierung von Politik zentral sind und auf der die despotisme démocratique basiert.34 Wird dieser Weg also nicht bewusst verlassen, wird dieser Entwicklung nicht durch Institutionen vorgebeugt, dann und nur dann entfaltet die despotisme démocratique ihr Potenzial und nur dann kann aus der bürgerliche Mittelstandsgesellschaft eine materialistische und apolitische Konsumgesellschaft werden.
Die Gefahr einer neuen Despotie ist daher gerade durch den Prozess der Demokratisierung und deren Folgen materialistischer Handlungsorientierung gestiegen. Aus der Demokratisierung droht eine Dynamik hervorzugehen, die die politische Sittlichkeit, die politischen Ansprüche und die politische Gestaltungsfreiheit zunehmend aufweicht und endlich sogar verdrängen kann, und zwar ausgerechnet weil die Individuen sich in ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten verausgaben. Daher stellt Tocqueville fest: »[…] despotism seems to me particularly to be feared in democratic ages.«35 Die Despotie greift fortwährend die Bedingungen politischen Handelns und jeden Gestaltungsanspruches an, nämlich die individuelle politische Autonomie sowie das Bewusstsein der Kontingenz gesellschaftlicher Entwicklung überhaupt, und zwar bis davon kaum mehr als ein kleiner Rest übrigbleibt. Die dynamische Entwicklung der demokratischen Gesellschaft wird in der Folge von den Individuen immer weniger bewusst gestaltet und bleibt doch Ergebnis ihres Handelns.36
4.2Die despotisme démocratique
Im Kern richtet sich Tocquevilles Kritik an einer potenziellen Gefahr aus, die im komplexen Zusammenwirken der demokratischen Gesellschaft und den verschiedenen sozialen Erfahrungen mit der égalité des conditions verborgen liegt. Sie beruht auf dem, was sich den neuen Handlungszusammenhängen von individueller Unabhängigkeit und materialistischer Kultur ergeben kann. Die Gefahr ist insofern ein der spezifischen Dynamik demokratischer Gesellschaften inhärentes Potenzial. Die Erfahrungen mit der égalité des conditions zeigten sich als ein »Konglomerat institutioneller Strukturen und kollektiver Dispositionen,«37 wie Hubertus Buchstein und Siri Hummel bemerken.38 Diese sozialen Erfahrungen drohen das Individuum als politisches Wesen zu unterminieren; es als Bourgeois zu betonen und als Citoyen zu vernachlässigen.
»[I]n the human heart a depraved taste for equality is […] found […] that reduces men to preferring equality in servitude to inequality in liberty [Herv. FB].«39
Tocqueville fürchtet einen »zivilisatorische[n] Verfall.«40 Das reine Eigeninteresse, aus dem für Adam Smith eine geordnete Gesellschaft hervorgeht, bringt auch für Tocqueville eine geordnete Gesellschaft, einen stabilen Handlungsmechanismus hervor, allerdings als despotisme démocratique und materialistische bürgerliche Mittelstandsgesellschaft. Für Tocqueville existiert offenbar keine natürliche Harmonie zwischen Eigeninteresse und irgendeiner normativen Tugend oder Moral.41 Aus den einzelnen Interessen der Individuen ergibt sich weder eine stabile Basis oder ein Automatismus für individuelles politisches Gestaltungshandeln noch ein Band für politische Vereinigungen oder für kollektives Handeln.42 Es sind dabei auf der einen Seite die Individuen selbst, die ihren Willen und ihr Handeln durch ihre materialistischen Ziele auf einen kleinen Raum einschränken, und auf der anderen Seite lässt es dann die neue Despotie auch nicht (mehr) zu, dass sich daran etwas ändert.43
Tocquevilles Sorge steht also nicht für ein deterministisches Geschichtsbild. Die Despotie gilt ihm nicht als unausweichliches Schicksal jeder demokratischen Gesellschaft. Nur die Demokratisierung ist in Tocquevilles Beschreibung ein unausweichliches Schicksal. Die Demokratisierung legt, obgleich unausweichlicher Prozess, so wie die égalité des conditions als fait providentiel, keinen état politique fest. Dieser ist immer eine Frage der bewussten oder unbewussten Gestaltung durch die Gesellschaft und innerhalb des Schicksalskreises, den die Demokratisierung konstituiert. Die Dynamik der demokratischen Gesellschaft bringt selbst die Grundlage hervor, auf der eine neue Despotie erwachsen kann, und zwar als emergente und nicht-intendierte Folge des Prozesses der Demokratisierung.44 Die Individuen handeln zwar nach eigenen Zielen und frei von Fremdbestimmung, verkennen dabei allerdings, dass sich aus den vielen einzelnen Handlungen eine Dynamik ergibt, der eine neue und bestimmte Form der Unterdrückung eingeschrieben ist.
Das Schicksal der demokratischen Gesellschaft als »Lebensform«45 ist daher nicht determiniert und auch nicht vorhersehbar. Die despotisme démocratique ist eine mögliche Folge der durch die Demokratisierung der Gesellschaft endogen ausgelösten Entwicklungen und den sozialen Erfahrungen. Die demokratische Gesellschaft, dieser Dr. Jekyll kann schnell zu Mr. Hyde werden – um ein Bild von Roger Boesche zu nutzen.46 Die despotisme démocratique ist insofern selbst Bestandteil der kontingenten Entwicklung der demokratischen Gesellschaft.47 Despotie und Demokratie sind keine theoretischen Gegensätze. Tocqueville beschreibt hingegen einen Prozess, wie die despotisme démocratique aus der Demokratisierung zur Erscheinungsform der demokratischen Gesellschaft werden kann.48 Die despotisme démocratique ist eine Form, die als Despotie ohne Despoten erscheint49, wie Robert Boesche notiert, oder die als »Despotie im Schafspelz«50 bezeichnet werden kann, wie Herbert Dittgen es ausdrückt. Deutlich wird damit nochmals, dass Tocqueville die Despotie nicht als Ergebnis einer gewaltsamen Machtergreifung beschreibt, sondern sie als eine Geburt der demokratischen Gesellschaft, eine Folge bestimmten individuellen Handelns selbst kritisiert. Sie ist für ihn Ausdruck der fundamentalen Ambivalenz demokratischer Gesellschaften zwischen Freiheit und Gleichheit.51
»The evils that extreme equality can produce appear only little by little; they gradually insinuate themselves into the social body; they are seen only now and then, and, at the moment when they become most violent, habit has already made it so that they are no longer felt.«52
Tocquevilles Kritik richtet sich an die entstehende Mittelstandsgesellschaft, der er mit Skepsis begegnet.53 Diese ist durch eine öffentliche Meinung geprägt und von dem Gedanken des privaten Interesses am Vorankommen, am eigenen Erfolg und materiellen Wohlergehen durchdrungen. Es sind ausgerechnet diese Mittelklassen, in denen Tocqueville die Keime der Gefahren der despotisme démocratique hervorgehen kann.54 Obgleich gerade die Mittelklassen durch die Demokratisierung an Handlungschancen gewinnen, liegt in ihrem bewussten ökonomischen Handeln die Basis neuer Unterdrückung. Aus den neuen Handlungschancen droht sich ein Handlungszusammenhang herauszuschälen, der die Individuen von der Selbstregierung und der bewussten Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung zunehmend entfernt. Der Kommerzialismus der neuen Welt eröffnet diesen neuen Weg. Insofern ist die Demokratisierung tatsächlich etwas Eigenes und darf nicht mit einer allgemeinen Politisierung der Gesellschaft oder der Ausweitung politischer Aktivität verwechselt werden. Es gibt keinen natürlichen Fortschritt öffentlicher Freiheit, also der bewussten Gestaltung der kontingenten gesellschaftlichen Entwicklung.55
Das, was Tocqueville als Gefahren ausmacht, sind dem klassischen Liberalismus eigentlich inhärente Werte: soziale Mobilität, persönliche Unabhängigkeit und die Ausdehnung der Mittelklasse sowie eine materialistische Kultur, die allgemein einen Zuwachs an Wohlstand herbeizuführen in der Lage ist. Während der klassische Liberalismus die Macht des Individuums und die Bedeutung individuellen wirtschaftlichen Handelns und Strebens nach materiellen Dingen immer betont und staatliches Handeln eher skeptisch sieht, weist Tocqueville darauf hin, dass nicht der Staat generell die Gefahr für die Freiheit ist, sondern einerseits und primär ein auf rein ökonomische Ziele ausgerichtetes Handeln, und andererseits nur der despotische Staat, der aus dem Rückzug des Individuums aus der öffentlichen Sphäre hervorgeht.56 Das Problem ergibt sich demnach aus der politischen Leerstelle, die sich auftut, weil die Individuen sich in der materialistischen Kultur verausgaben und die Gestaltungsfreiheiten vermehrt außer Acht lassen.57
Institutionell gesehen richtet sich Tocquevilles Bild der despotisme démocratique manifestiert zunächst an einem zentralen Verwaltungsstaat aus.58 Diesem gegenüber hegt er große Skepsis.59 Verbindet sich diese Verwaltungszentralisierung mit einer zentralen Regierung,60 befürchtet er, dass sich die Menschen daran gewöhnen, ihr eigenes Kontingenzbewusstsein und ihre Gestaltungsfreiheiten aus den Augen zu verlieren oder davon abzusehen. Dies würde dann nicht Einzelfälle beschreiben, sondern wäre durchweg und alltägliche Realität.61
Diese Zentralgewalt als die Tocqueville die despotisme démocratique beschreibt, wirft ein Netzwerk kleinstteiliger Regelungen über die Gesellschaft.
»[I]t covers the surface of society with a network of small, complicated, minute, and uniform rules, which the most original minds and the most vigorous souls cannot break through to go beyond the crowd.«62
Der zentrale Verwaltungsstaat nimmt sich in der demokratischen Despotie allen Angelegenheiten der Individuen gerne an, die sie nicht mehr selbst regeln. Diese Form der Despotie dringt tiefer und basierend auf den habitudes in das Leben und die Lebensführung der Individuen ein.63
»[T]he sovereign […] does not tyrannize, it hinders, it represses, it enervates, it extinguishes, it stupifies, and finally it reduces each nation to being nothing more than a flock of timid and industrious animals, of which the government is the shepard.«64
Es ist eine Form der bürokratischen Verwaltung, die über alle Sphären des Lebens Führung und Regelung beansprucht, aber immer im Interesse der Individuen zu agieren scheint. Das ist Folge davon, dass die Individuen sich der Selbstregierung nicht mehr annehmen wollen, sich aber nicht zugleich eine antike Gewaltherrschaft erhebt. Die neue Despotie ist Verwaltungsstaat, der bis ins kleinste Detail die Gesellschaft durchdringt und reguliert.65 »It works willingly for their happiness; but it wants to be the unique agent for it and the sole arbiter.«66 Nach Tocqueville unterdrückt die despotisme démocratique die Menschen, ohne sie zu peinigen.67 Den schwachen und isolierten Individuen erscheint dieser zentrale Verwaltungsstaat immer stärker, und zwar weil sie sich aufgrund ihrer eigenen Isoliertheit als immer schwächer wahrnehmen.68 »Above these men arises an immense and tutelary power that alone takes charge of assuring their enjoyment and of looking after their fate.«69
Die Zentralisierung von Verwaltung und die materialistische Kultur der demokratischen Gesellschaft haben nach Tocquevilles Analyse damit offenbar eine Eigendynamik, sie verstärken sich wechselseitig.70 Sind etwa die materialistische Kultur und die Isolation der Individuen die Bedingung der despotisme démocratique, ließe sich im übertragenen Sinn festhalten, dass die Despotie diese Ausgangsbedingungen dann verstärkt und zu einer Technik ihrer Herrschaft ausbaut.71 Ersichtlich ist, dass die despotisme démocratique erst aus einer gewissen Entwicklung heraus entstehen oder erst auf einem gewissen Maß an Erfahrungen mit der égalité des conditions erwachsen kann. Sie ist Ausdruck eines bereits vorhandenen sittlichen Verfalls und Entpolitisierungsprozess der Mittelstandsgesellschaft und forciert diese dann. Sie baut auf dem Verlust an kollektivem Kontingenzbewusstsein und fehlender bewusster Gestaltung auf. Die despotisme démocratique bedarf demnach bestimmter Bedingungen, die sich erst im Verlaufe der Ausbreitung der égalité des conditions ergeben.72 Die Grundlage dieses Zustandes ergibt sich, dass sollte deutlich geworden sein, aus dem Prozess der Demokratisierung selbst. Eine Paradoxie: aus größerer Unabhängigkeit erwächst, vereinfacht ausgedrückt, eine neue Form der Unterdrückung.73
Es ließe sich gewissermaßen mit Henry Jacoby konstatieren, dass in Tocquevilles Sicht, die égalité des conditions und die Demokratisierung die Staatstätigkeit »erleichtere«74. Der totale Zentralstaat ist damit eine Macht, die die einzelnen Individuen immer stärker der Isolation und vereinzelten Schwäche überantwortet: »[I]t isolates them and then, within the common mass, catches hold of them, one by one.«75 Materiellen Zielen nacheifernd, begrüßen die isolierten Individuen die als Stetigkeit verkleidete politische Erstarrung der gesellschaftlichen Entwicklung. Bewusster gestalterischer Wandel wird zunehmend eher negativ bewertet, da damit die aktuelle Ruhe und Ordnung gestört würde. Die Individuen sind sich bewusst darüber, dass es gerade die auf Gleichheit und persönlicher Unabhängigkeit beruhende Ordnung ist, die ihnen das Streben nach Wohlstand ermöglicht und entsprechend beharren sie auch auf der Wahrung der Ordnung, die ihnen dieses Streben ermöglicht oder es sogar begünstigt, wie sich noch zeigen wird. Diese beschränkte Forderung allerdings zeigt für Tocqueville bereits an, dass diese Gesellschaft bereits im Grunde ihres Herzens zum Sklaven geworden ist,76 und zwar versklavt durch das eigene Wohlstandsstreben. Es ist nicht die Verderbtheit von wenigen, die Tocqueville fürchtet, sondern das politische Desinteresse aller.77 Auri sacra fames, so ließe sich mit Vergil sagen78 – die passion du bien-être matériel verdrängt den Wunsch nach Selbstregierung und politischer Gestaltung.79 Diese neue Despotie muss die Individuen nicht gewaltsam von der Regierung fernhalten. »[I]t is enough that they do not claim to run it themselves.«80
Die materialistisch orientierten Individuen wenden die Augen ganz naturgemäß und logisch dem machtvollen Zentralstaat zu, welcher der allgemeinen Mittelmäßigkeit allein entwächst.81 Es ist nach Tocqueville die aus der Situation heraus natürliche Tendenz der Individuen, die sie und damit die gesamte demokratische Gesellschaft zur alleinigen Zentralgewalt treibt. »The natural inclination of their mind and heart leads them to it, and it is enough for them not to hold themselves back in order to reach it.«82 Das Vertrauen, welches die Individuen in die Zentralgewalt legen, basiert auf dem Gedanken, dass alles, was sie der Zentrale zukommen lassen, sie letztlich sich selbst zukommen lassen.83 Mit diesem Bezug auf das Prinzip der Volkssouveränität erscheint das Bild, dass es die Individuen selbst sind, die ihr eigenes Leben bis ins kleinste Detail bestimmen. Wahlen, Repräsentation und Volkssouveränität mindern zwar die durch die Zentralisierung der Verwaltung ausgelösten Übel, löschen sie aber nicht aus.84 Die Verbindung von Zentralgewalt und Volkssouveränität sorgt dafür, dass der Anschein von Selbstregierung besteht. Dieses Zusammenspiel bildet den Grund, warum die Individuen die Bevormundung und Unterdrückung hinnehmen. »They console themselves about being in tutelage by thinking that they have chosen their tutors themselves.«85 Jeder nimmt gerne die Fessel hin, die er sich vermeintlich selbst hingehalten hat. »Each individual endures being bound, because he sees that it is not a man or a class, but the people itself that holds the end of the chain.«86 Es ist gerade das Prinzip der Volkssouveränität in Verbindung mit der Idee der Repräsentation, welches den Individuen die wirklichen Begebenheiten verschleiert.87 Die Individuen überlassen, sozusagen guten Gewissens, dem Staat immer mehr Befugnisse; scheinen sie sich diese ja selbst zu überlassen.
Die despotisme démocratique ist laut Tocqueville daher kein instabiler Zustand. Die Despotie erfüllt die Ansprüche nach öffentlicher Ruhe und Ordnung. Diese sind den materialistisch orientierten Individuen am wichtigsten.88 Dieser état politique zusammen mit dem état social der politisch apathischen Gesellschaft ist genau das, worauf es die einzelnen schwachen und auf ihre privaten Geschäfte schielenden Individuen absehen. Auf der einen Seite stehen maximal voneinander isolierte und in ihrem Individualismus nach materiellen Gütern strebende konforme Individuen, die sich aufgrund ihrer einzelnen Schwäche den Zentralstaat geschaffen und sich diesem unterworfen haben.
Aus dieser Beschreibung heraus befällt Tocqueville die Angst vor der Selbstzerstörung der liberalen Grundlagen der Gesellschaft,89 sieht er eine neue Form der Despotie heraufziehen, die mit dem modernen Individualismus sowie der passion du bien-être matériel vereinbar ist und sogar maßgebliches Resultat dieses Handlungszusammenhangs ist. Die Individuen fokussieren sich nur noch auf eine Seite ihrer Unabhängigkeit, die politische Gestaltung als Ausdruck ihrer öffentlichen Freiheit wird vernachlässigt und die gesellschaftliche Entwicklung wird immer mehr zum Gegenstand des starken zentralen Verwaltungsstaates.90 Die despotisme démocratique ist damit geradezu Ausdruck der ökonomisierten und unpolitisch gewordenen gesellschaftlichen Entwicklung.
1A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1251.
2Vgl. J. Feldhoff, S. 85.
3Es drückt sich hier wahrscheinlich eine generelle Befürchtung Tocquevilles Generation aus, die gerade angesichts der Entwicklung und des zunehmenden Ausgreifens des neuen Materialismus, also die Entwicklung der Gesellschaft zu einer kommerzialisierten Mittelklassengesellschaft, den Verlust an Individualität auch an individueller Größe sowie ein Heraufziehen eines bisher ungeahnten Konformismus befürchten. Diese Gesellschaft schiene nur noch dem Rhythmus der Produktion zu gehorchen. Vgl. R. Boesche, 1981, S. 503f.
4J.-C. Lamberti (1989), S. 242.
5A. d. Tocqueville, DA I Bd. 1 (2010), S. 157.
6Die despotisme démocratique zeichnet sich dabei insbesondere dadurch aus, dass sie bestimmte Konsequenzen der Entwicklung der égalité des conditions forcieren und andere hindern. So sind etwa die bürgerlichen associations, also alle Verbindungen von Individuen mit wirtschaftlichen Zwecken, in der despotisme démocratique keinesfalls verboten; es gibt vielmehr ein bienveillance naturelle (natürliches Wohlwollen) für sie. Diese Formen gemeinsamen Handelns widersprechen sich keineswegs mit dem von Tocqueville konstatierten Individualismus, sondern sind geradezu Ausdruck des kalkulierten egoistischen Interesses. Die Vereinigungen mit wirtschaftlichen Zielen ziehen die Individuen immer stärker in wirtschaftliche Angelegenheiten, welche der öffentlichen Ruhe existenziell bedürfen. »I maintain that […] civil associations will always be very few in number, weakly conceived, ineptly led, and that they will never embrace vast designs, or will fail while wanting to carry them out.« Diesen associations fehlt das Pendant – die politischen associations. Darin besteht sodann wieder eine verstärkende Rückwirkung auf den despotisme démocratique sowie den Grad an Zentralisierung. Das Fehlen starker bürgerlicher associations bringt einen wachsenden Bedarf nach staatlicher Aktivität hervor, weil die Individuen allein auch nur zu kleinen Unternehmungen fähig sind. Es wird daher immer schwieriger, bestimmte Bedürfnisse zu erfüllen, die auf größere und umfassendere Produktion oder Handel aufbauen. Daher wird einerseits die Anforderung an den Staat insgesamt größer und andererseits auch differenzierter. »The more it [der Zentralstaat, FB] puts itself in the place of associations, the more individuals, losing the idea of associating, will need it to come to their aid.« Auf die Dauer wäre nicht nur die geistige Kraft der Gesellschaft, sondern ihr gesamter wirtschaftlicher Verkehr, Gewerbe und Handel gefährdet. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), 915, 916, 900.
7Roger Boesche nennt diese Sichtweise klassisch konservativ. Vgl. R. Boesche, 1981, S. 517.
8A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1252f.
9Vgl. R. Boesche, Tocqueville: The Pleasures of Servitude (1996), S. 221.
10Das Argument des zunehmenden Individualismus und damit der stärkeren Fokussierung auf die private Sphäre ist von Tocqueville deutlich stärker in L’Ancien Regime et la Révolution herausgearbeitet worden. Dort befasst er sich mit der historischen Situation und dem geschichtlichen Verlauf Frankreichs von Ludwig XIV. bis zur Revolution und kommt dabei auf den verheerenden Zusammenhang von Zentralisierung und Freiheit, wobei der Gegensatz zunächst natürlich die erfreuliche Konsequenz der Revolution und des Zusammenbruchs der absoluten Monarchie hatte. Allerdings weist Tocqueville bestimmte Kontinuitäten im Zusammenhang von bestehen gebliebener Zentralverwaltung und weiterhin prekärer Situation der Freiheit, also gewissermaßen eine Fortschreibung unter anderen Vorzeichen nach. Vgl. A. d. Tocqueville (1978). Dazu auch S. Krause (2017), S. 337ff.; Donald J. Maletz: »Making Non-Citizens: Consequences of Administrative Centralization in Tocqueville’s Old Regime«, in: Publius: The Journal of Federalism 33 (2003), S. 17ff.
Ivan Jankovich erkennt darin einen Widerspruch in Tocquevilles Begrifflichkeit des Individualismus. Vgl. Ivan Jankovic: »Das Tocqueville Problem: Individualism and Equality between Democracy in America and Ancient Regime«, in: Perspectives on Political Science 45 (2016),
S. 125ff.
11Siehe den Untertitel des Tocqueville-Buches von Michael Hereth: Die Gefährdung der Freiheit in der Demokratie. Vgl. Michael Hereth: Alexis de Tocqueville, Stuttgart 1979.
12A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1248f. Dass Tocqueville die für seine Konzepte unpräzisen Begriffe Despotie und Tyrannei verwendet, ist auch der allgemeinen Abnutzung dieser Termini durch beständige Applikation und Reevaluierung geschuldet. Melvin Richter spricht davon, dass sie zu Tocquevilles Zeiten bereits als Plattitüden wahrgenommen wurden. Die fehlende Präzision des Begriffes kompensiert Tocqueville allerdings mit seiner sehr dichten Beschreibung dessen, was er mit den Begriffen zu umreißen sucht. Vgl. M. Richter, Tocqueville on Threats to Liberty in Democracies (2006), S. 271.
13A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1249.
14Beide Zitate aus H. Bluhm/S. Krause, 2014b, S. 43.
15Vincent Ostrom bezeichnet die despotisme démocratique als »sickness of the people.« Vincent Ostrom: The meaning of democracy and the vulnerability of democracies, Ann Arbor 1997, S. 17.
16Claus Offe: Selbstbetrachtung aus der Ferne, Frankfurt a.M. 2004, S. 33.
17Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 938.
18Vgl. ebd., S. 937.
19Ebd., S. 957.
20Vgl. William A. Galston: »Liberal virtues«, in: American Political Science Review 82 (1988), S. 1277ff, hier S. 1281.
21Deutlich wird das etwa an folgender Aussage: »Democracy leads men not to draw nearer to their fellows.« A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 886.
22Vgl. Dazu etwa J. Feldhoff, S. 59.
23Vgl. Raymon Aron: An Essay on Freedom, o.A. 1970, 45, 48.
24A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 951.
25A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1139. Daher bezeichnet etwa Jean-Claude Lamberti den ökonomischen Individualismus als Grundlage einer potenziellen neuen Despotie. Vgl. J.-C. Lamberti, Two Ways of Conceiving the Republic (1991), S. 17.
26Vgl. A. d. Tocqueville, DA I Bd. 1 (2010), 1147, 1157.
27A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 878.
28Ähnlich beschreibt Tocqeuville in L’Ancien Régime et la Révolution die Folgen der Revolution. Demnach waren viele Institutionen des alten Staates mit der neuen und bedeutenden Gleichheit durchaus vereinbar und boten »dennoch dem Despotismus einzigartige Möglichkeiten.« A. d. Tocqueville (1978), S. 204.
29A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1193.
30Ebd. Insofern, als dass Tocqueville die Vorausschau oder Vorausahnung der despotischen Tendenz demokratischer Gesellschaft in seine Reflexion miteinbezieht, ist seine Konzeption tatsächlich als eine roadmap zu bezeichnen, wie Roger Boesche ein mehrere Einzelbeiträge von ihm zusammenfassendes Buch betitelt. Vgl. Roger Boesche: Tocqueville’s Road Map, Lanham 2006
31A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 745. Ähnlich auch A. d. Tocqueville (1978), S. 155.
In der despotisme démocratique wird die Religion zu (zer)stören versucht werden. Religiöse Dogmen sind, wie später noch zu zeigen sein wird, wirkungsvolle Quellen von croyances semblables und auch unverrückbarer Sicherheiten für die Individuen. »When religion is destroyed among a people, doubt takes hold of the highest portions of the intellect and half paralyzes all the others.« Hier verstärkt sich wiederum ein der demokratischen Gesellschaft immanenter Effekt, nämlich nimmt die Bedeutung der individuellen Vernunft enorm zu, die als einzige Quelle von Meinungen und Ansichten akzeptiert wird. Damit steigert sich aber auch die individuelle Orientierungslosigkeit, in einer Welt, die außer selbst gefundenen Überzeugungen nichts anzubieten hat. Alle nicht dort verursachten Meinungen werden angezweifelt und hinterfragt. Ohne Religion, die einen bestimmten Bereich diesem Prozess entzieht, gewöhnt sich jeder mehr und mehr daran, dass nichts in der Welt von Dauer ist. »Each person gets accustomed to having only confused and changing notions about the matters that most interest his fellows and himself.« Alles versinkt sozusagen in allgemeiner Unsicherheit und Unrast, welche aus dem ständigen Suchen nach Sicherheiten herrührt. »Such a state cannot fail to enervate souls; it slackens the motivating forces of will and prepares citizens for servitude.« Die Despotie kann auf die Religion verzichten, weil dann der Zweifel noch allgemeiner und universeller wird und sich die Individuen gänzlich unterwirft. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 744f. Ähnlich auch M. Gauchet, Tocqueville, Amerika und wir (1990), S. 150ff.
32Dies ist ein »kaskadenförmiger Prozess,« wie Raymond Boudon formuliert, also ein Prozess, der ähnlich wie eine Kettenreaktion verläuft. Vgl. R. Boudon, 2005, S. 467.
33So ähnlich formuliert es J. Elster (2009), S. 97f; J. Elster, 2005, S. 497.
34Vgl. S. S. Wolin (2001), S. 345. In der sichtbaren Auflösung einer politischen Kultur der politischen Aktivität besteht für Sheldon Wolin sogar ein essenzielles Charakteristikum des von Tocqueville beschriebenen despotisme démocratique. Vgl. ebd., S. 570.
35A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1262.
36Tocqueville fürchtet Stillstand und schießt damit vielleicht übers Ziel hinaus. »It would be necassary to look to Asia in order to find something comparable.« Ebd., S. 429. Unausgesprochen und indirekt verweist er hier auf China, dass zu seiner Zeit als das Negativbeispiel von Stillstand und Stagnation galt. Der Stillstand beruht demnach auf der Beschneidung der eigentlich natürlichen bewussten Betriebsamkeit der Entwicklung demokratischer Gesellschaften. Denn eigentlich: »[T]he circulation of ideas is to civilization what the circulation of blood is to the human body.« ebd., 886c. Droht zwar das Kontingenzbewusstsein verloren zu gehen, entwickelt sich die Gesellschaft natürlich weiter – Stillstand ist insofern keine wirkliche Möglichkeit. Doch gibt es aber einen gravierenden Unterschied zwischen einem bewusst gestalteten und einem unbewusst passierenden Fortschritt.
37H. Buchstein/S. Hummel, Demokratietheorie und Methode: Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill (2016), S. 232f. Darin besteht Tocquevilles neuer Ansatz. Im Vergleich zu seinen Zeitgenossen, etwa Francois Guizot und dessen Blick auf die Demokratie hinsichtlich des Regierungshandelns, ist für Tocqueville die Demokratie gesellschaftlicher Handlungszusammenhang aus Institutionen, historischer Situation, politischer Kultur, dem Selbstverständnis der Individuen, den mœurs etc. Dies ist Tocquevilles »neue politische Wissenschaft.« Vgl. H. Bluhm/S. Krause, 2014b. Die Unterschiede zwischen den französischen doctrinaires und Tocqueville arbeitet Aurelian Craiutu heraus. Vgl. Aurelian Craiutu: »Tocqueville and the Political Thought of the French Doctrinaires (Guizot, Royer-Collard, Rémusat)«, in: History of Political Thought 20 (1999), S. 456ff.
38Jon Elster löste mit dem Ansatz, der Tocqueville zwar als wichtigen Sozialwissenschaftler hervorhebt, dabei aber weniger auf das Gesamtwerk, sondern mehr auf Einzelanalysen eingeht, innerhalb der Tocqueville-Literatur eine Debatte aus. Vgl. J. Elster (2009) Zur Debatte Harald Bluhm/Skadi Krause: »Viele Tocquevilles? — Neuere Interpretationen eines Klassikers«, in: Berliner Journal für Soziologie 15 (2005), S. 551ff. Dabei begegneten sich unterschiedlichste Lesarten – analytische, aber auch historisierende. Eine letztendliche ›Klärung‹ allerdings blieb aus. Vgl. Review Symposium: »The Social Science of Democracy,«, in: Perspective on Politics 9/2 (2011), S. 361ff.
39A. d. Tocqueville, DA I Bd. 1 (2010), S. 89.
40Vgl. Philippe Chanial: »Ehre, Tugend und Interesse. Soziologien der Assoziation bei Tocqueville«, in: Harald Bluhm/Skadi Krause (Hg.), Alexis de Tocqueville. Analytiker der Demokratie, Paderborn 2016, S. 291ff, hier S. 315.
41Vgl. Arthur Schlesinger, JR.: »Individualism and Apathy in Tocqueville’s Democracy«, in: Abraham S. Eisenstadt (Hg.), Reconsidering Tocqueville’s Democracy in America, New Brunswick, NJ 1988, S. 94ff, hier S. 98. Über die psychischen Spannungen, die Tocqueville zwischen dem Kommerzialismus der Mittelklassen und einer politisch aktiven Gesellschaft erkennt, bietet Laura Janara einen weiterführenden Beitrag. Vgl. Laura Janara: »Commercial capitalism and the democratic psyche: the threat to Tocquevillean citizenship«, in: History of Political Thought 22 (2001), S. 317ff.
42Vgl. Bruce J. Smith: »A Liberal of a New Kind«, in: Ken Masugi (Hg.), Interpreting Tocqueville’s democracy in America, Savage, Md. 1991, S. 63ff, hier S. 73.
43Vgl. J. Marini, Centralized Administration and the ›New Despotism‹ (1991), S. 285.
44Vgl. David Meskill: »Self-Interest Properly Felt: Democracy’s Unintended Consequences and Tocqueville’s Soltution«, in: Critical Review 19 (2007), S. 111ff, hier S. 117f.
45H. Bluhm/S. Krause, Tocquevilles erfahrungswissenschaftliche Analyse der Demokratie. (2016), S. 53.
46Vgl. R. Boesche, Tocqueville: The Pleasures of Servitude (1996), S. 207.
47Darin drückt sich eine zeitgenössische Sorge aus. Basil Hall etwa äußert in seinem Reisebericht die Sorge, dass die US-Gesellschaft zur Tyrannei verkommt und drückt seinerseits damit den zeitgenössischen Standpunkt aus, wonach Demokratie als allgemeine Unordnung verstanden wird, vor dem Hintergrund eines antiken Begriffsverständnisses von Demokratie. B. Hall (1830), S. 312.
Selbst den Gründervätern der USA ist eine solche Skepsis eigen. Sie sprechen aus diesem Grund von der amerikanischen Republik und wollen damit die Unterscheidung zu den hektischen und hitzigen Demokratien der griechischen Antike. Vgl. Alexander Hamilton/James Madison/John Jay/J. R. (H.) Pole: The Federalist, Indianapolis 2005, Nr. 14 (Madison, 30. November 1787), 69-70. Dazu auch S. S. Wolin (2001), S. 243ff.
48Vgl. L. Jaume (2013), S. 19. Dazu auch M. Richter, Tocqueville on Threats to Liberty in Democracies (2006), S. 245.
49Vgl. R. Boesche, Tocqueville: The Pleasures of Servitude (1996), S. 231.
50H. Dittgen (1986), S. 135.
51Vgl. J.-C. Lamberti, Two Ways of Conceiving the Republic (1991), S. 19.
52A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 876.
53Max Lerner arbeitet heraus, dass für Tocqueville gerade die neuen Mittelklassen Ausdruck der zunehmenden Gleichheit sind und die demokratische Gesellschaft als Gesellschaft der Mittelklassen insofern eine ›klassenlose‹ ist. vgl. Max Lerner: Tocqueville and American civilization, New Brunswick, NJ 1994. Hier ließe sich ergänzen, dass aufgrund der allgemeinen gesellschaftlichen Mobilität ohnehin kein Klassenbewusstsein und damit auch kaum eine Klassengesellschaft entstehen kann.
54Vgl. R. Boesche, Tocqueville: The Pleasures of Servitude (1996), S. 211. Es sind »bourgeois roots of the New Despotism,« wie Roger Boesche in seinem wichtigen Buch The strange Liberalism of Alexis de Tocqueville konzediert. Vgl. ders., 1987, S. 230.
55Folgt man Pierre Manent, geht die Demokratisierung vielmehr auf einen langen Prozess der »de-policization« hervor, deren maßgebliche Wegmarke die absolute Monarchie war. Vgl. Pierre Manent: »Tocqueville, Political Philosopher«, in: Cheryl B. Welch (Hg.), The Cambridge companion to Tocqueville, Cambridge, UK 2006, S. 108ff, hier S. 118.
56Darauf weist auch Bruce Smith hin. Vgl. B. J. Smith, A Liberal of a New Kind (1991), S. 88.
57Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 933. In einem gestrichenen Satz auf der selben Seite notiert Tocqueville: »It is not the wealth, but the work that you devote to obtaining it for yourself that encloses the human heart within the taste for well-being.«
58Die Zentralisierung der Regierung erscheint Tocqueville dabei nicht problematisch. Er sieht diese sogar als grundlegend sinnvoll und sogar notwendig: »For my part, I cannot imagine that a nation could live or, above all, prosper without strong governmental centralization.« A. d. Tocqueville, DA I Bd. 1 (2010), S. 146. Dazu auch John Marini: »Centralized Administration and the ›New Despotism‹«, in: Ken Masugi (Hg.), Interpreting Tocqueville’s democracy in America, Savage, Md. 1991, S. 255ff, hier S. 266ff.
59Daher betont James Schleifer, dass gerade die Beachtung dieser Unterscheidung für das Verständnis Tocquevilles derart zentral ist. vgl. J. T. Schleifer (2000), S. 181f.
60Mit den Worten von Sheldon Wolin entsteht dadurch der ›komplette Staat.‹ Vgl. S. S. Wolin (2001), S. 262.
61Vgl. A. d. Tocqueville, DA I Bd. 1 (2010), S. 144.
62A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), 1251, 1252. Norbert Campagna erkennt im heutigen Wohlfahrtsstaat etwas der Vorstellung Tocquevilles von der despotisme démocratique Ähnliches. Vgl. N. Campagna (2001), S. 15.
Irving Zeitlin und Klaus Hornung verwiesen schon früh darauf, dass Tocqueville hier die moderne staatliche Bürokratie antizipiert, die für ihn das größte Risiko für die Freiheit darstellt. Der moderne Sozial- und Wohlfahrtsstaat, der kleinteiligste Regelungen erlässt, erscheint so in einem anderen Bild. Vgl. Klaus Hornung: »Welche Art von Despotismus die demokratischen Nationen zu fürchten haben – Alexis de Tocqueville über die Voraussetzungen der freiheitlichen Demokratie«, in: Zeitschrift für Politik 41 (1994), S. 347ff, hier S. 353; Irving M. Zeitlin: Liberty, equality, and revolution in Alexis de Tocqueville, Boston 1971, S. 46f.
Dass vor diesem Hintergrund die Theorie Tocquevilles allerdings nicht zur Legitimation einer neu-rechten Reformpolitik gesehen werden darf, die sich generell gegen sozialstaatliche Einrichtungen richtet, betont Chad Goldberg. Er unterstreicht, dass Tocquevilles Werk vielmehr Ansatzpunkte einer sozialdemokratisch-reformierenden Sozialstaatspolitik bietet, die keine zentrale Verwaltungspolitik ist, sondern eine kooperative Politik zwischen Staat und Zivilgesellschaft sein kann beziehungsweise sein sollte. Vgl. Chad A. Goldberg: »Social Citizenship and a reconstructed Tocqueville«, in: American Sociological Review 66 (2001), S. 289ff.
63Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1248.
64Ebd., S. 1252.
65Vgl. M. Richter, Tocqueville on Threats to Liberty in Democracies (2006), S. 259. James Schleifer führt ebenfalls den staatlich-bürokratischen Verwaltungsapparat an, wenn es um den tatsächlichen Akteur der Despotie geht. Vgl. J. T. Schleifer (2000), S. 193f. Allerdings erwähnt er auch eine andere Interpretation, nach der der zentrale politische Akteur oder, wenn man so will, der Nutznießer der Zentralisierung, in Tocquevilles Augen die Legislative war. Vgl. ebd., 189ff.
Auch betont James Schleifer hier wieder eine Entwicklung zwischen den beiden Bänden De La Dèmocratie En Amérique, wonach Tocqueville im ersten eher den Despotismus der Gesellschaft als Ganzes (als Volk oder Mehrheit) beschreibt und Despotismus insgesamt als Ausdruck der Regierung oder als politischer Despotismus der gesetzgebenden Versammlung behandelt wird. Im zweiten Band allerdings entwickelt Tocqueville stärker einen Fokus, der den Staat als Verwaltung und Bürokratie in den Blick nimmt, welche das individuelle Leben durchdringen und die Individuen immer weiter von der Beschäftigung mit den eigenen Angelegenheiten entfernt, der despotisme démocratique. Vgl. ebd., S. 236.
66A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1250f.
67Vgl. ebd., S. 1248.
68Vgl. R. Boesche, 1981, S. 505.
69A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1250.
70Vgl. Harald Bluhm: »Die Zentralisierung der Macht im modernen Staat«, in: Karlfriedrich Herb/Oliver Hidalgo (Hg.), Alter Staat – neue Politik. Tocquevilles Entdeckung der modernen Demokratie, Baden-Baden 2004, S. 25ff, hier S. 45f. Harald Bluhm verweist dabei insbesondere auf die Bedeutung, welche Tocqueville den Prozessen der Industrialisierung und der Entwicklung des modernen Kapitalismus beimaß. Vgl. ebd., S. 31f. Damit ist auch angesprochen, dass Tocqueville schon in De La Dèmocratie En Amérique, obgleich selten explizit, die Folgen der Industrialisierung und Technisierung der Welt nicht nur als isolierte Entwicklung, sondern als paradigmatische Veränderung der modernen Welt begriff und mitdachte. Dazu auch Benjamin Storey: »Tocqueville on Technology«, in: The New Atlantis 40 (2013), S. 48ff.
71Dazu auch Henry Jacoby: »Hobbes und Tocqueville«, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft/Journal of Institutional and Theoretical Economics 109 (1953), S. 718ff, hier S. 725.
Sheldon Wolin folgend ist diese despotisme démocratique eine moderne Form von Macht, die leise und gleichwohl irreversibel und unwiderstehlich ist. Er weist allerdings darauf hin, dass damit nicht dem späteren Totalitarismus der Massengesellschaft vorgegriffen ist. Die Despotie, die Tocqueville beschreibt, regiert in alle Kleinigkeiten hinein, ist daher eher ein Ausdruck der Boshaftigkeit des Banalen als der Banalität des Bösen. Vgl. S. S. Wolin (2001), S. 342.
72Vgl. ebd., S. 569. Letztlich lässt sich darin durchaus eine Kritik an Descartes finden. Joseph Herbert zufolge kritisiert Tocqueville Descartes nicht wegen dessen Betonung des individuellen Verstandes, sondern macht deutlich, dass dieser, wenn er unbegrenzt ist, selbst zu erneuter Unterwerfung führen kann. Die Notwendigkeit der Begrenzung der Autorität des individuellen Verstandes – welche sich etwa in der Religion oder im intérêt bien entendu als Mehrheitsmeinung findet, wie weiter unten noch gezeigt werden wird – ergibt sich aus der Wirkung der Tyrannei der Mehrheit und der despotisme démocratique, welche auch auf der Isolation beruhen, die der individuellen Autorität auf dem Fuße folgt. Vgl. L. J. Hebert, 2007.
73Bruce Smith fasst die Verborgenheit der Grundlage der Despotie hinter den Entwicklungen der Zeit in folgendem Zitat treffend zusammen: »Behind the self-confidence of the democrat lurks self-doubt, behind the pride of independent judgement, the weakness of a solitary man.« B. J. Smith, A Liberal of a New Kind (1991), S. 83.
74H. Jacoby, 1953, S. 722.
75A. d. Tocqueville, DA I Bd. 1 (2010), S. 144.
76A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 952. Dazu auch S. Krause (2017), S. 218.
77A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1058.
78Nach Vergil: Quid non mortalia pectora cogis, auri sacra fames. (Wozu treibst du nicht die Herzen der Menschen, verfluchter Hunger nach Gold.)
79Vgl. R. Boesche, 1981, S. 507.
80A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 887f.
81Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1202.
82Ebd., S. 1205.
83Vgl. ebd., S. 1216f.
84Vgl. ebd., S. 1257.
85Ebd., S. 1255.
86Ebd.
87Vgl. R. Boesche, Tocqueville: The Pleasures of Servitude (1996), S. 233.
88Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1017.
89Vgl. Peter A. Lawler: »Tocqueville at 200«, in: Perspectives on Political Science 35 (2006), S. 68ff, hier S. 72; Peter A. Lawler: »Tocqueville on human misery and human liberty«, in: The Social Science Journal 28 (1991), S. 243ff.
90Vgl. Donald J. Maletz: »Tocqueville on the Society of Liberties«, in: The Review Politics 63 (2001), S. 461ff, hier S. 483.