5.Politik als bürgerliches Eigeninteresse
Tocquevilles Vision
5.1Verschiedene Erfahrungsräume von Politik
Die Demokratisierung kann, wie sich im vorigen Abschnitt zeigte, aus ihrer eigenen Dynamik heraus in eine despotisme démocratique münden. Dem muss etwas entgegengestellt werden. Und Tocqueville erkennt in der US-amerikanischen Gesellschaft Heilmittel oder Schutzeinrichtungen. Darum soll es in diesem Abschnitt gehen. Folgende Fragen stellen sich dabei: Was braucht es, um im Schicksalskreis der Demokratisierung nicht dem Stillstand, der politischen Apathie sowie der Despotie anheim zu fallen, sondern den gesellschaftlichen Fortschritt weiterhin selbst bewusst gestalten zu können?1 Wie lassen sich Gestaltungsfreiheit und Kontingenzbewusstsein erhalten?2 Oder: Inwiefern dienen für Tocqueville die Vereinigten Staaten von Amerika als positives Beispiel für die von ihm erkannten Gefahren? Diese Fragen strukturieren letztlich Tocquevilles politisches Denken, das er auf seine kritische Analyse der bürgerlichen Mittelstandsgesellschaft reflektiert. Es geht ihm nicht um irgendeine Form von Rückkehr zu einem glücklichen historischen Zustand: »Thus, it is not a matter of reconstructing an aristocratic society, but of making liberty emerge from within the democratic society.«3
Vor dem Hintergrund der despotisme démocratique, hat Tocqueville angesichts seiner Beobachtungen in den USA, wie Claus Offe feststellt, eine »gute Nachricht«4. Er erkennt dort eine politisch aktive Bürgergesellschaft, die Gleichheit mit öffentlicher Freiheit zu verbinden versteht. Es ist insofern eine Vision, als das Tocqueville mit dieser Beschreibung allen demokratischen Gesellschaften die Möglichkeiten aufzeigen will, das Umkippen in despotische Zustände zu verhindern. Letztlich ist das das Ziel, welches Tocqueville mit De La Dèmocratie En Amérique verfolgt:
»To instruct democracy, to revive its beliefs if possible, to purify its mores, to regulate its movements, to substitute little by little the science of public affairs for its inexperience, knowledge of its true interests for its blind instincts.«5
Zentrale Bedingungen einer politischen Bürgergesellschaft sind für Tocqueville Erfahrungsräume6 politischen Handelns, die er in den Vereinigten Staaten beobachtet. Tocqueville erkennt, dass die Individuen nicht plötzlich oder aufgrund einer äußeren Eingebung beginnen, politisch zu handeln und die Regierung über sich selbst in die Hände zu nehmen. Für ihn sind die Individuen keine reifen politischen Wesen. Die Individuen kommen nicht als politische Wesen oder nur als potenziell politisch auf die Welt. In einer Gesellschaft der Gleichheit, in der die Individuen nur sich selbst beziehungsweise die Mehrheit als Autorität anerkennen, können sich die Individuen allerdings nur selbst wecken – kann also die Erkenntnis der Notwendigkeit zum politischen Handeln nur von den Individuen selbst kommen. Tocqueville fragt also nach den Bedingungen, aufgrund derer die Individuen tatsächliche politische Wesen werden und die Notwendigkeit zu politischem Handeln erkennen. Die Erfahrungsräume politischen Handelns sind dabei essenzielle Bedingungen.
Darin besteht zunächst ein Dilemma und zugleich aber auch der letztendliche Grund dafür, dass Tocqueville seine Gesellschaftstheorie historisch herleitet und weder normativ konstruiert noch mit der Formulierung einer Theorie über die menschliche Natur beginnt.7 Das Dilemma zeigt sich darin, dass einerseits potenziell politische Individuen Erfahrungsräume politischen Handelns als bewusst gestaltendes Handeln benötigen, um dieses Potenzial zu aktivieren, und andererseits dann fraglich ist, woher diese Erfahrungsräume kommen sollen oder wie diese sich konstituieren. Gerade in der demokratischen Gesellschaft der Vereinigten Staaten von Amerika findet Tocqueville ein historisches Beispiel dafür, was erstens die Bedingungen einer politischen Bürgergesellschaft sind und zweitens auch eine historische Situation, die als Vorbild dienen und das Dilemma auflösen kann. Es ist gewissermaßen ein glückliches Zusammenkommen verschiedener historischer Umstände, die die USA mit den Bedingungen ausgestattet hat, die eine politische Bürgergesellschaft ermöglichen.8 Insofern ist es eine glückliche Situation und kann als Vorbild, Modell oder eben Vision in der Ungewissheit dienen, in der sich die europäischen, vor allem aber die französische, Gesellschaften für Tocqueville befinden.
Es sind die politischen Rechte und Freiheiten, die die ersten britisch-puritanischen Auswanderer von England aus mitbrachten und in Neuengland zugleich etablierten, die dann zur Grundlage des politischen Lebens des ganzen Landes wurden.9 Insofern ist die amerikanische Gesellschaft von Anfang an eine reife Gesellschaft – »it is born in manhood.« »The Anglo-Americans arrived fully civilized on the soil that their posterity occupies; they did not have to learn, it was enough for them not to forget.«10 Die praktische Erfahrung dieser und mit diesen Einrichtungen als tatsächliche praktische Übung führt Tocqueville zuallererst an, wenn es ihm um die Gründe der Stabilität der US-amerikanischen Gesellschaft geht, die sowohl politisch als auch gesellschaftlich in einem demokratischen Zustand ist. Dieses Erfahrungswissen bezeichnet Tocqueville daher als entscheidend, und hätten sich die Amerikaner nicht schrittweise an die öffentliche Freiheit gewöhnt und ein Kontingenzbewusstsein ausgebildet, würde keine ›Theorie guten Regierens‹ diesem Zustand abzuhelfen in der Lage sein. »True enlightment arises principally from experience.«11 Die politische Bildung oder Reife eines Volkes ist für Tocqueville ganz offenbar Folge konkreter Erfahrungen und tatsächlichen Handelns und nicht von Theorie oder Buchwissen.12 In Amerika handeln die Individuen aus Gewöhnung politisch, und zwar auch dort, wo sie gerade erst auf dem Weg der Expansion nach Westen angekommen sind, nicht weil sie dort jemand dazu zwingt, sondern weil sie daran gewöhnt sind, so zu handeln.13 Sie sind es gewöhnt, weil die politischen Erfahrungsräume dort, wo sie hergekommen sind, schon durch ihre Vorfahren etabliert wurden und ein Kontingenzbewusstsein schon in der Gesellschaft sedimentiert ist. Es ist also ein bestimmtes und aufgeklärtes Interesse an der Gemeinschaft, welches die US-Amerikaner verbindet. Der, um im Bild zu bleiben, ›pubertäre‹ Patriotismus ist einer ›erwachseneren‹ und aufgeklärten Form des rationalen Bewusstseins und Interesses gewichen, welches nun zu gemeinschaftlichem und öffentlichem Handeln antreibt.14
Der Grund, warum Tocqueville davon ausgeht, dass die Individuen ihr politisches oder ihr freiheitliches Potenzial erst wecken müssen, liegt in der Unterscheidung von Gleichheit und öffentlicher Freiheit sowie deren Bedeutung für die Individuen. Obgleich beide Begriffe durchaus zusammenhängen, fühlt sich Tocqueville doch bemüßigt, sie zu unterscheiden. Die Liebe zur Gleichheit und ihrer direkten Ausprägung der persönlichen Unabhängigkeit ist das primäre und dominante Verlangen. Es ist ein intuitives Gefühl. Die Früchte aus dieser Liebe kommen den Individuen quasi von selbst, und zwar unbesehen des sozialen Standes zu. Darin liegt die Begründung für diese Leidenschaft. Die Früchte, die die öffentliche Freiheit hervorbringt, zeigen sich hingegen meist erst mit der Zeit, wobei ihre Wurzeln oftmals zusätzlich nur schwer zu erkennen sind. Zusätzlich sind diese Früchte zunächst meist mit Opfern und Anstrengungen verbunden.15 Der intuitiven und leidenschaftlichen Liebe für die Gleichheit und persönliche Unabhängigkeit steht demnach eine eher vernunftbasierte rationale Liebe für die öffentliche Freiheit gegenüber. Das ist die entscheidende Differenzierung, auf der sich die Möglichkeiten der demokratischen Despotie ergeben und die daher gewissermaßen den Hintergrund der Einrichtungen bilden, die diesen Zustand verhindern sollen. Die Erfahrungsräume müssen den Individuen demnach die Früchte der öffentlichen Freiheit nicht nur zeigen, sondern sie diese auch ernten lassen. Es sind demnach Räume, in denen die Individuen die Liebe zur öffentlichen Freiheit kennen- und schätzen lernen können und sollen. Diese Erfahrungsräume sind demnach Einrichtungen, die in den Individuen und den direkten Folgen der égalité des conditions als der intuitiven leidenschaftlichen Liebe gegenteilige Instinkte hervorrufen.16
Dabei wird zunächst noch einmal deutlich, dass die öffentliche Freiheit, als Ausdruck von Selbstregierung in Tocquevilles Denken tatsächlich zunächst mit Opfern einhergeht. Das zeigt sich etwa dann, wenn die Individuen sich mit den gemeindeöffentlichen Angelegenheiten befassen müssen:
»When citizens are forced to occupy themselves with public affairs, they are necessarily drawn away from the middle of their individual interests and are, from time to time, dragged [Herv. FB] away from locking at themselves.«17
Die Selbstgenügsamkeit war ja geradezu ein Charakteristikum der Individuen in Tocquevilles kritischer Analyse. Die Individuen nehmen also nicht plötzlich an den öffentlichen Angelegenheiten Anteil, sind nicht plötzlich politisch und von einer Solidarität und Empathie zueinander beseelt und lassen nicht auf einmal partiell ihr materielles Streben beiseite. Tocqueville konstruiert keine theoretische demokratische Gesellschaft, sondern beschreibt anhand der US-amerikanischen Gesellschaft, wie diese demokratische Gesellschaft gleich und frei ist. »My goal has been to show, by the example of america, that laws and above all mores could allow a democratic people to remain free.«18
Wieder erscheint das Grundmotiv, dass Tocqueville die demokratische Gesellschaft nicht als etwas Statisches konstruiert, sondern als etwas Dynamisches begreift. Es ist eine Sache, ob es Einrichtungen gibt, die den Individuen politische Praxis und politisches Gestalten ermöglichen, es ist eine andere Sache, was das für die Individuen bedeutet und es ist nochmal eine andere Sache, wie die Rückwirkung dessen auf die ursprünglichen Institutionen ausfällt. Der öffentliche Geist ist dabei eine Besonderheit.
»There is another love of country more rational […]; less generous, less ardent perhaps, but more fruitful and more durable; this one arises from enlightment.; it develops with the help of laws; it grows with the exercise of rights; and it ends up merging, in a way, with personal interest.«19
Es zeigt sich hier jeweils ein positiver Effekt der drei Schritte aufeinander: die Erfahrungsräume politischer Praxis bringen erneut politische Praxis hervor und besorgen so erneut die Grundlage der Reproduktion von Kontingenz- und Gestaltungsbewusstsein. Die politischen Erfahrungsräume zeigen und stabilisieren über die Zeit die vernunftbasierte Liebe für die öffentliche Freiheit. Wie dieser Zusammenhang sich im Einzelnen auswirkt und um welche Einrichtungen es Tocqueville maßgeblich geht, das ist Inhalt der folgenden Abschnitte.
5.1.1Politische Vereinigungen
Grundlegend für viele einzelne Einrichtungen ist das droit d’association (Vereinigungsrecht) und damit die Möglichkeit der Gründung von bürgerlichen und politischen associations (Vereinigungen). Die Grundlage aller politischen und bürgerlichen associations ist der Gedanke der persönlichen Unabhängigkeit, von dem die demokratische Gesellschaft durchtränkt ist. In einer Gesellschaft der Gleichen ist jedes Individuum zunächst auf sich selbst verwiesen und muss sich zunächst auf sich selbst verlassen. Doch es gibt einen Ausweg aus der Isolation, und zwar in den associations, den freiwilligen Vereinigungen mit anderen als vereinigte Macht vieler Einzelner.20 Die associations sind somit zugleich auch Ausdruck der Erfahrung von Isolation als der individuellen Schwäche in einer Gesellschaft ohne erkennbare herausragende Individuen oder Akteure. Die Freiheit mit anderen gemeinsam zu handeln, associations zu gründen, sieht Tocqueville als natürlichste Freiheit.21 Das droit d’association ergänzt insofern die persönliche Unabhängigkeit.
»An association consists only of the public support that a certain number of individuals give to such and such doctrines and of the promise that they make to work in a particular way toward making those doctrines prevail.«22
So Tocquevilles simple Beschreibung der association. Es zeigt sich ein erster Effekt des Vereins auf die Individuen: Eine von einer association vertretene Meinung ist eindeutiger formuliert als irgendeine Facette der öffentlichen Meinung. Die Individuen verfolgen eine Sache dadurch überzeugter und hartnäckiger, fühlen sich ihr mehr verpflichtet.23 Im Wortsinn vereint die association verschiedene individuelle und ihrer Natur nach auseinanderstrebenden Anstrengungen und richtet sie auf ein eindeutiges, vor allem aber gemeinsames Ziel aus. Die Individuen kommen durch ihre Beteiligung an einer association miteinander in Kontakt, lernen sich kennen. Ihre Ambitionen nehmen dabei tendenziell mit der Anzahl der beteiligten Individuen zu. Sie merken, dass ihre Meinung von vielen anderen geteilt wird.24 Die association und gerade die politische, die Tocqueville hier im Besonderen beschreibt, ist demnach auch ein Erfahrungsraum, der die isolierten Individuen zusammenbringt, sie ihrer einzelnen politischen Schwäche enthebt und der Erfahrung gemeinsamer politischer Stärke und eines gemeinsamen Kontingenz- und Gestaltungsbewusstseins zubringt. In der politischen association besteht die Möglichkeit für politische Praxis. Die Individuen haben hier und nur gemeinsam die Möglichkeit, überhaupt dauerhaften und dynamisch mitwachsenden politischen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung zu nehmen. »In democratic countries, political associations form, so to speak, the only powerful individuals who aspire to rule the state.«25 In diesen Räumen erfahren die Individuen, dass politische Beteiligung und Regung nicht gleichbedeutend mit Unordnung oder Unruhe ist. Vielmehr ist der Erfolg darauf angewiesen, dass die Individuen jeweils ihren einzelnen Willen dem der association, also dem Kollektiv, unterordnen. Insofern wirken die associations in einem spezifischen Sinn ordnend, weil sie verschiedene Individuen zu gemeinsamem Handeln motiviert.
In einer demokratischen Gesellschaft sind die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit von entscheidender Bedeutung, um die politische Macht der Mehrheit einzudämmen. So wird das droit d’association letztlich zur Wehr der politischen Unabhängigkeit, die in der demokratischen Gesellschaft insbesondere durch die potenziell tyrannische Macht der Mehrheit bedroht ist und konstituiert einen eminent wichtigen Erfahrungsraum gemeinsamen Handelns und damit auch die Grundlage eines individuellen Interesses an der politischen Gestaltung, wie sich im Weiteren noch deutlicher zeigen wird.
Nur durch die Freiheit gemeinsamen Handelns lernen die Individuen diese spezielle Gefahr der persönlichen Unabhängigkeit zu bändigen. »[B]y enjoying a dangerous liberty that the Americans learn the art of making the dangers of liberty smaller.«26 Tocqueville erkennt in den associations die Möglichkeit, die Gesellschaft trotz des Trends zum Individualismus zusammenzuhalten.27 Mithilfe des droit d’association lassen sich mächtige Akteure bilden: »I think that simple citizens by associating together can constitute very wealthy, very influential, very strong beings, in a word aristocratic persons [Herv. FB].«28 Letztlich bilden die associations doch so etwas, wie aristokratische Personen. Sie vereinen eine große Leidenschaft für gemeinschaftliche Ziele mit meist guten finanziellen Möglichkeiten.
Die Individuen sind dabei selten wirklich großmütig, immer aber sind sie hilfsbereit und leisten sich im Fall gegenseitige Unterstützung.29 An anderer Stelle beschreibt Tocqueville dies in folgender Formulierung:
»In democratic centuries, men rarely sacrifice themselves for each other; but they show general compassion for all the members of the human species. You do not see them inflict useless evils, and when, without hurting themselves very much, they can relieve the sufferings of others, they take pleasure in doing so; they are not disinterested, but they are mild.«30
Das droit d’association ist gerade in Zeiten der égalité des conditions laut Tocqueville eine essenzielle Einrichtung, um einerseits den Individuen Räume gemeinsamen bewussten Handelns zu ermöglichen und andererseits die demokratische Gesellschaft mit handlungsstarken Akteuren auszustatten. Sie sind gleichwohl auch ein wichtiger Ort, an dem das Kontingenzbewusstsein wachgehalten und immer wieder neu hervorgebracht wird. Entsprechend stellt Tocqueville fest:
»For men to remain civilized or to become so, the art of associating must become developed among them and be perfected in the same proportion as equality of conditions grows.«31
5.1.2Dezentrale Verwaltungsstruktur
Tocqueville behandelt die Gemeinden, die Städte und die Grafschaften, zusammengefasst als commune, als öffentliche associations. Diese sind gewissermaßen Sonderformen der associations.32 Die Selbstverwaltung der Gemeinden ist die Umsetzung des Prinzips der Volkssouveränität auf kommunaler Ebene. Selbstregierung als Ausdruck der öffentlichen Freiheit bedeutet nämlich nicht nur die Durchsetzung der Volkssouveränität in der breiten Fläche, sondern – und das betont Tocqueville vor allem – auch die Selbstverwaltung und bewusste Gestaltung im kommunalen Bereich.33 Die kommunale Selbstverwaltung beschreibt Tocqueville als einen administrativen Föderalismus.34 Die commune hat für Tocqueville eine nachgerade elementare Bedeutung: »Town institutions are to liberty what primary schools are to knowledge.«35 Sie bilden einen primären Erfahrungsraum öffentlicher Freiheit36 und auch von Kontingenzbewusstsein. Die commune ist überschaubar und ihre Anliegen zeigen schnell einen Bezug zu den vielen einzelnen Privatangelegenheiten und bieten daher auch rasch die Erkenntnis individuellen Nutzens der Beteiligung an den gemeindeöffentlichen Dingen. Das nach individuellem materiellem Wohlstand strebende Individuum für eine Angelegenheit des Staates zu interessieren, dessen Zweck kompliziert ist und sich dem Individuum nicht leicht erschließt, erscheint ein schweres und wahrscheinlich erfolgloses Unterfangen. Ist allerdings etwa das eigene Grundstück beim Bau einer Gemeindestraße betroffen, offenbart sich dem Individuum von selbst, dass es einen Zusammenhang zwischen dieser öffentlichen Angelegenheit und den eigenen Interessen gibt. Von selbst werden sie entsprechend erkennen, dass der eigene Vorteil mit den gemeinschaftlichen Interessen verbunden ist.37 Beständig zeigen sich in der commune solche kleinen öffentlichen Angelegenheiten; die commune steht nie still und ist daher den Individuen jeden Moment sichtbar.38 Damit ergeben sich immer wieder Momente, in denen die Individuen vor Ort und alltäglich den bestehenden Zusammenhang ihrer privaten Interessen mit den öffentlichen Interessen, den persönlichen Nutzen von politischer Gestaltung und ihre gegenseitige Abhängigkeit voneinander bemerken. Denn sind die Individuen gezwungen, sich mit gemeinschaftlichen Dingen zu befassen, erscheint ihnen ihre jeweilige Unabhängigkeit weit weniger groß und leuchtet ihnen ein, dass sie doch aufeinander angewiesen sind und dass sie, um die notwendige Unterstützung von anderen zu bekommen, diesen oft selbst Unterstützung angedeihen lassen müssen.39 Außerdem erfahren die Individuen in der Gemeinde wirkliche Autonomie und damit auch ihre tatsächliche politische Macht als citoyen, also als an den öffentlichen Angelegenheiten interessierten und diese bewusst gestaltenden Bürgern.40 Tocqueville stellt daher wenig überraschend fest: »[P]olitical life was born very much within the towns.«41
Es sind damit gerade die Gemeindefreiheit, die örtliche Selbstverwaltung und die Beteiligung an den kommunal-öffentlichen Angelegenheiten, die bewirken, dass eine steigende Anzahl von Individuen auf das Wohlwollen anderer zunehmend Wert legt. Es ist dieser, von der Reichweite und Erreichbarkeit her betrachtet, kleine und nahe gelegener Erfahrungsraum öffentlicher Freiheit, also von Selbstregierung, der fortwährend die Individuen zusammenbringt. »[L]ocal liberties, […] constantly bring men back toward each other despite [Herv. FB] the instincts that seperate them, and force them to help each other.«42 Es ist zuerst das Gesetz, das den Individuen die Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten ermöglicht, aber auch auferlegt. »The law-maker in this way forced [Herv. FB] each American to cooperate daily with some of his fellow citizens in a common work.«43 Die Individuen erfassen den positiven Einfluss auf ihre privaten Interessen, der sich ergibt, wenn sie selbst die öffentlichen Angelegenheiten besorgen. Daraus speist sich wiederum erneut eine Motivation, an der politischen Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung teilzunehmen. Später beteiligen sich die Individuen aktiv, weil sie daran mitzuwirken gewöhnt sind.44 Die Erkenntnisse, dass erstens die Individuen ein privates Interesse an der politischen Gestaltung sowie am gemeinsamen Handeln haben und dass zweitens die Individuen auch stärker voneinander abhängig sind, als ihnen gemäß der Vorstellung des Individualismus bewusst ist und sich durch die wirtschaftliche Vernetzung zeigt, sind in der Gemeinde leichter oder überhaupt erreichbar. Die commune ist demnach der Ort, wo sich gerade auch ein kollektives Kontingenzbewusstsein bildet und wo die Individuen erfahren, dass die bewusste Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung politische Kooperation braucht. Das sind maßgebliche Gründe, warum Tocqueville für eine starke Subsidiarität und dezentrale Verwaltung, also für die institutions communales optiert.
»So it is by charging citizens with the administration of small affairs, much more than by giving them the government of great ones, that you interest them in the public good and make them see the need that they constantly have for each other in order to produce that good.«45
Gleichzeitig betont Tocqueville auch die Bedeutung der commune hinsichtlich der Macht der Mehrheit. Die Gemeinde bekommt auch aus dieser Richtung einen politischen Wert. Die Möglichkeit der Selbstbestimmung und Selbstregierung findet in den communes, selbst wenn sie in höheren staatlichen Sphären schon eingegrenzt wird, eine gut zu verteidigende Rückzugsstellung. Keine noch so starke Mehrheit wird dazu in der Lage sein, in allen Einzelheiten und in alle communes hineinzuwirken.46 Die institutions communales sind dabei nicht nur ein Mittel gegen den Konformitätsdruck der Massendemokratie, sondern insgesamt auch der Raum von Kontingenz, die in den verschiedenen communes bestehen und gedeihen kann.
Es ist daher gerade die commune, die erstens den Individuen Selbstregierung ermöglicht und sie daher im Freisein lehrt und damit zweitens die Grundlagen schafft, aus denen ihnen ein Interesse an der bewussten politischen Gestaltung zukommt. Als gesetzlich vorgesehene Struktur zwingt die commune die Individuen zunächst zur politischen Beteiligung an den gemeinschaftlichen Angelegenheiten.47
»The inhabitant of New England is attached to his town (commune), because it is strong and independent; he is interested in it, because he participates in its leadership; he loves it, because he has nothing to complain about in his lot. In the town he places his ambition and his future. […] [I]n this limited sphere, accessible to him, he tries his hand at governing society. He becomes accustomed to the forms without which liberty proceeds only by revolutions, is infused with their spirit, acquires a taste for order, understands the harmony of powers, and finally gathers and practical ideas about the nature of his duties as well as the extent of his rights.«48
Diese Erfahrung springt gewissermaßen auf größere politische Einheiten über.49 Es findet ein fundamentaler politischer Reifungsprozess statt. Die Individuen handeln in der commune politisch und bauen Kontingenzbewusstsein auf. Sie bemerken, dass sich dieses Handeln für sie auszahlt, und übertragen es daher auch auf andere Bereiche. Die Individuen lernen in der commune die Sorge für das öffentliche Wohl zuerst im Kleinen. Dieses allmählich sittlich immer fester verankerte Erfahrungswissen wird Quelle politisch aktiver Bürger, und zwar auch über die eigenen und kleinen Gemeindegrenzen hinaus. Die commune ist damit überhaupt ein Möglichkeits- und Erfahrungsraum politischen Handelns: »I find […] in the town institutions that […] give the people at the same time the taste for liberty and the art of beeing free [Herv. FB].«50 Es ist dabei gar nicht notwendig und von Tocqueville nicht so gedacht, dass alle gleichermaßen in die große Politik streben. Sicher ist aber, dass die Beteiligung an den gemeindeöffentlichen Angelegenheiten alle Individuen mit einem öffentlichen Geist und einem politischen Interesse ausstattet, die ihrerseits Grundlagen aller auch größerer politischer Ämter oder Unternehmungen ist. Derartig demokratisch ›geschulten‹ Individuen ist das Land insgesamt ein eigenes Anliegen. Öffentliche Angelegenheiten gelten solchen Individuen wie eine eigene. Im Erfolg der Gemeinschaft erkennen die Individuen ihre eigenen Taten und sie freuen sich über dieses Wohlergehen, denn es kommt ihnen selbst zugute. Die Individuen befassen sich mit den öffentlichen Angelegenheiten aus einer inneren Motivation, welche auf der Dezentralisierung der institutions communales beruht. Tocqueville bewundert diese Form gerade ihrer politischen Effekte wegen. Er ist also nicht aus ideologischen Gründen oder moralischer Überzeugung ein Anhänger der Dezentralität, sondern aus der schlichten Erkenntnis deren funktionaler Überlegenheit. Die Dezentralität ermöglicht den Individuen gegenseitige Begegnung und die Erfahrung sowie den Aufbau gegenseitigen Vertrauens und ist damit mitentscheidende Grundlage für die Verbindung von individuellen und gemeinschaftlichen Interessen.51
Hieran wird nochmals deutlich, wie neu und tiefgehend Tocquevilles Verständnis vom Prinzip der Volkssouveränität ist. Es betrifft nämlich auch die unterste Verwaltungsebene – die Gemeinde, die ebenfalls Objekt politisch aktiver Individuen ist. Insofern ist die Gemeinde oder der Föderalismus, welcher sich dadurch konstituiert, das Element, in dem verschiedene Dinge zusammengehen: Dynamik und Ruhe, Volkssouveränität und verantwortungsvolle Eigenregie, Eigennutz und Gemeinsinn und letztlich aufklärerische und traditionelle Werte.52 Ein föderal organisierter Staat bedeutet für Tocqueville wesentlich mehr als dass sich dahinter ausschließlich eine Beschreibung eines verfassungsrechtlichen Zuschnitts verbirgt. Für ihn betrifft die Begrifflichkeit vielmehr die Vorgehensweisen und Abläufe des Zustandekommens gemeinschaftlichen Handelns und von politischen Meinungen.53
»The town (commune) institutions of New England form a complete and regular whole. They are old; they are strong because of the laws, stronger still because of the mores; they exercise a prodigious influence over the entire society.«54
Doch auch angesichts dieses glücklichen historischen Umstandes,55 der sich kaum wiederholen lässt, ist Tocqueville hinsichtlich der europäischen Gesellschaften nicht wirklich pessimistisch, obgleich keine dieser – nach seiner Einschätzung – eine sittlich gefestigte föderale Gemeindeordnung vorzuweisen hat.56 Vielmehr gewinnt vor diesem Hintergrund sein Appell für die Gewährung politischer Rechte und Teilhabe an Bedeutung:
»I say that the most powerful means, and perhaps the only one remaining to us, to interest men in the fate of their country, is to make them participate in its government. […] Today, civic spirit seems to me inseparable from the exercise of political rights.«57
Ohne politische Teilhabe gibt es keine selbstbewusste und politische interessierte Bürger oder anders formuliert: politische Beteiligung ist die Grundlage für eine selbstregierte Bürgergesellschaft, die ihre Entwicklung bewusst gestaltet. Die kommunalen Einrichtungen sind für Tocqueville von fundamentaler Bedeutung der politischen Struktur in den USA. Es ist gerade die Dezentralität und damit die Erreichbarkeit dieses speziellen Erfahrungsraums, die ihre Wichtigkeit ausmachen.58
5.1.3Bürgerliche Vereinigungen
Die politischen Vereinigungen und communes sind allerdings nicht alle Formen von associations. Daneben beschreibt Tocqueville auch solche, die keinen direkten politischen Zweck haben, aber dennoch für die demokratische Gesellschaft von essenzieller Bedeutung sind; es geht um alle Formen bürgerlicher beziehungsweise ziviler associations. Es ist zweitrangig, ob dabei wirtschaftliche, religiöse oder moralische Anliegen verfolgt werden.59 Würden die Individuen keine politischen associations gründen, wäre ihre politische Unabhängigkeit und Möglichkeit zur Selbstregierung stark gefährdet, während sie ohne die bürgerlichen associations individuellen Reichtum und Bildung wohl lange erhalten könnten.
»If men who live in democratic countries […] did not acquire the custom of associating in ordinary life, civilization itself would be in danger.«60
Es sind nämlich die zivilen associations, die überhaupt große Unternehmungen ermöglichen, zu denen die vereinzelten und insofern schwachen Individuen allein nicht in der Lage wären. Es ist entscheidend für das Fortkommen der Gesellschaft, denn nur in dieser Form der Kooperation, als wechselseitige Einwirkung, besteht neben den institutions communales überhaupt die Möglichkeit dafür, dass die Individuen die Gefühle des Individualismus temperieren und andere Erfahrungen von Gemeinschaftlichkeit aufbauen. »Sentiments and ideas are renewed, the heart grows larger and the human mind develops only by reciprocal action of men on each other.«61
In Aristokratien halten die Individuen zusammen, weil sie alle in Abhängigkeitsnetzwerke eingebunden sind.62 In demokratischen Gesellschaft sieht es allerdings anders aus: »Associations, among democratic peoples, must take place of the powerful individuals that equality of conditions has made disappear.«63 Die bürgerlichen associations sind es, die aus vereinzelten Individuen handlungsmächtige kollektive Akteure bilden.64 Es sind die bürgerlichen associations, die die demokratische Gesellschaft dynamisch erhalten, im Gegensatz zu Stillstand und Apathie in der despotisme démocratique. Beispielsweise ist die Reichweite einzelner wirtschaftlicher Handlungen durch die individuelle Begrenztheit beschränkt und nur durch Handels- oder Unternehmenskooperativen können große Vorhaben umgesetzt werden (bspw. der Ausbau der Eisenbahn). Das gilt letztlich für alle gesellschaftlichen Teilbereiche. Es zeigt sich dabei auch eine positive Wechselwirkung zwischen politischen und bürgerlichen associations. Es sind daher gerade die bürgerlichen associations, die den Individuen die öffentliche Ruhe und Ordnung angesichts ihrer wirtschaftlichen Unternehmungen so hilfreich erscheinen lassen, dass die Verlockung einer Aufruhr oder einer anderen bewussten oder unbewussten Gefährdung der Ordnung durch die Individuen nicht besteht. Wo also die politischen associations die gesellschaftliche Ordnung durchaus in Bewegung halten und teilweise sogar gefährden können, betonen die bürgerlichen associations die Bedeutung einer stabilen gesellschaftlichen Entwicklung.65 In den bürgerlichen associations findet das eigentlich isolierte wirtschaftliche Handeln der Individuen einen gemeinsamen Raum. So lernen sie auch wirtschaftlich zu kooperieren und den Nutzen gemeinsamen Handelns kennen.
Die bürgerlichen associations, die zunächst mit den öffentlichen Angelegenheiten gar nichts zu tun, also keinen direkten politischen Zweck haben, sind demnach eine wesentliche Institution der politischen Bürgergesellschaft. Die Individuen lernen sich dabei kennen und über die Verfolgung der gemeinsamen Ziele auch einander zu vertrauen.66 Von dieser Erfahrung profitieren natürlich die politischen associations. Die bürgerlichen erleichtern somit die Bildung politischer associations. Andererseits sind es gerade die öffentlichen Angelegenheiten, angesichts derer die Individuen immer wieder die eigene Schwäche unmittelbar zu spüren bekommen und von wo aus ihnen daher die Erkenntnis zukommt, gemeinsam und organisiert zu handeln. Der Zweck der politischen associations ist insofern vollkommener, weil er nicht nur die Individuen aus ihrer Isolation löst und einer gemeinsamen Sache zuneigt, sondern weil dieses Ziel im politischen Handeln und Selbstregierung überhaupt besteht. Angesichts der Politik kommt den Individuen immer wieder die Idee der Vereinigung von Menschen, die ansonsten für sich allein geblieben wären. »Thus politics generalizes the taste and habit of association; it brings about the desire to unite and teaches the art of associating to a host of men who would have always lived alone.«67
Die Erfahrung gemeinsamen und organisierten Handelns in den größeren wirtschaftlichen Angelegenheiten überträgt sich auch auf kleine politisch-öffentliche Herausforderungen. Simpel formuliert: Weil sie bei den großen wirtschaftlichen Unternehmen kooperieren, werden sie dies auch bei kleineren öffentlichen Angelegenheiten tun. So verbindet sich die Assoziation beziehungsweise das Interesse an der Vereinigung immer stärker mit dem eigenen Nutzendenken; Gemeinwohl und Eigennutz verknüpfen sich. Bürgerliche oder zivile und politische associations stehen laut Tocqueville in einem sich wechselseitig stabilisierendem Verhältnis: »Civil associations therefore facilitate political associations; but, on the other hand, political associations develops and singularly perfects civil associations.«68 Insgesamt fundiert die Lehre der Assoziationen, so Phillipe Chanial, als Idee und als angewendete Lehre, die »Matrix einer staatsbürgerlichen Republik« und bildet den Boden »einer zivilrepublikanischen Kultur.«69
5.1.4Freiheit des Ausdrucks
Als Folge der égalité des conditions, so wurde bereits festgehalten, sind die Individuen voneinander unabhängig und damit in gewisser Weise voneinander isoliert. Das droit d’association, das für Tocqueville wie die persönliche Unabhängigkeit Ausdruck einer natürlichen Freiheit ist, wirkt dem entgegen. Allerdings ist doch fraglich, ob es sozusagen aus dem Nichts heraus aus isolierten Individuen kollektiv agierende Akteure machen kann. Die Verbundenheit der Individuen untereinander ist erst eine Folge der associations und kann nicht gleichzeitig ihre Voraussetzung sein.
»It often happens […] in democratic countries, that a large number of men who have the desire or the need to associate cannot do so; since all are very small and lost in the crowd, they do not see each other and do not know where to find each other.«70
Es muss daher etwas geben, dass schon vorher eine Ahnung davon reifen lässt, dass in der association ein individueller Vorteil liegen könnte und so die Verbindung mit anderen sinnvoll ist beziehungsweise den Individuen die Verbindung mit anderen ermöglicht. Ferner muss Aufklärung darüber stattfinden, dass in der individualisierten Gesellschaft verschiedene Individuen ähnliche Vorstellungen haben. Dies zu bewerkstelligen, geht auf eine einfache Art, womit Tocqueville auf das Pressewesen und die liberté d’écrire (Rede- und Veröffentlichungsfreiheit) verweist, und zwar hier zunächst auf dessen Wirkung auf das gesellschaftliche Leben allgemein.
Eine Zeitung verbreitet Gedanken und Sichtweisen – macht diese vielen verschiedenen Individuen zugänglich. Entscheidend dabei ist, dass sie dies vermag, ohne zunächst einen großen Eingriff in den Ablauf des privaten Alltags darzustellen. Zeitungen sind ohne großen Aufwand zu konsumieren. Damit bringen sie auf einfachem und niedrigschwelligem Weg nicht nur einen ersten Sinn und ein rudimentäres Verständnis für die öffentlichen Angelegenheiten, sondern ermöglichen zugleich auch die Erkenntnis, dass andere ähnliche Ansichten diesbezüglich vertreten.71 Die liberté d’écrire schafft eine gedankliche Verbindung zwischen den Individuen.72 »So newspapers become more necessary as men are more equal and individualism more to be feared.«73 Insofern versteht Tocqueville die liberté d’écrire als ein konstitutives Element von öffentlicher Freiheit überhaupt.74 Sie forciert das droit d’association und erhält damit die demokratische Kultur. »[I]f there were no newspapers, there would be hardly any common action.«75 Insofern wirkt die liberté d’écrire indirekt auf die mœurs, indem sie das droit d’association weckt und bestärkt sowie damit insgesamt das sittliche Gefüge unterstützt, welches den politischen Zustand der demokratischen Regierung stabilisiert. »So the evil that they produce is much less than the one they cure.«76
Die liberté d’écrire wirkt allerdings nicht nur auf die mœurs, sondern auch direkt auf die politischen Meinungen und auf die Gesetze.77 Tocqueville hält fest, dass es grundsätzlich einen Zusammenhang zwischen dem Gedanken der Volkssouveränität und der liberté d’écrire gibt. Baut der Gedanke der Volkssouveränität darauf auf, dass alle Individuen dazu in der Lage sind, die Gesellschaft zu regieren, dann muss es ebenfalls allen möglich sein, zwischen den verschiedensten Meinungen, die einer freien Presse zu entnehmen sind, wohlüberlegt zu wählen. Die liberté d’écrire kann daher nicht mit dem Argument eingeschränkt werden, dass bestimmte besonders ordnungskritische Meinungen eine zu große Gefahr darstellen. Es ist die liberté d’écrire, die es ermöglicht, Politik vor dem Angesicht der öffentlichen Meinung darzustellen und zu bewerten. Sie ermöglicht es, den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung recht stetig zu beobachten, zu kontrollieren und damit auch die aktuell in öffentlichen Ämtern agierenden Personen einer dauerhaften Kontrolle zu unterwerfen. Weil die Presse auf der Klaviatur der Macht der Mehrheit spielt, hat sie einen direkten politischen Wert, und zwar hinsichtlich der politischen Macht. »In the United States […] the periodical press, after the people, is still the first of powers.«78
Allerdings erkennt Tocqueville daran potenzielle Gefahren. Insbesondere thematisiert er die bereits genannte Möglichkeit, dass die Zeitungen natürlich auch Gedanken der Infragestellung und daher der öffentlichen Unruhe verbreiten und die Individuen damit auch zu destabilisierenden Aktionen verleiten können. Jede Zeitung vertritt eine eigene Idee oder Gesinnung und jede Zeitung hat einen eigenen Kreis von Lesern. Ist eine Zeitung mit der Position oder direkt mit einer Vereinigung assoziiert, scheint es, als ob sie zu ihren Lesern im Namen der Vereinigung und der dort organisierten Individuen spricht. Die Wirkung der Zeitung ist daher der Wirkung der öffentlichen Meinung ähnlich, jedoch wie durch ein Brennglas verstärkt. Die Gefahr der Tyrannei der Mehrheit oder der öffentlichen Meinung erreicht nach Tocqueville demnach mit der liberté d’écrire ein neues Niveau. Eine Zeitung für sich hat außerhalb ihres Leserkreises kaum Einfluss, ist darin aber umso dominanter. Zeitungen werden Individuen umso stärker beeinflussen, je isolierter und entsprechend schwächer diese sind. Die Macht der Presse ist entsprechend am größten, wenn es nicht gleichzeitig eine starke Assoziationskultur gibt, und zwar nicht, weil sie als solche stärker ist, sondern, weil die Individuen schwächer sind.79 Die Anzahl an Zeitungen steigt sogar noch mit der Dezentralisierung der Verwaltung: »The more numerous the local powers are […] the more newspapers proliferate.«80
Daneben betont Tocqueville den Wettbewerb unter den Zeitungen, der zu einer gewissen Zersplitterung der gesellschaftlichen Macht der Presse führt.81 Gibt es eine Vielzahl verschiedener Zeitungen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine davon einen gravierenden Einfluss entwickelt, gering. Daher ist gerade die Ausdehnung der liberté d’écrire das beste Mittel zur Eindämmung ihres politischen Einflusses; ihre Beschränkung hingegen verstärkt die Macht einzelner Blätter.82
Die Gefahr der liberté d’écrire hinsichtlich der Gesellschaftsordnung ist laut Tocqueville noch aus einer anderen Richtung her begrenzt, die Ausdruck des Wesens demokratischer Verfassungen ist. Die Presse demokratischer Gesellschaften ist nicht durch eine größere Milde gegenüber der allgemeinen Ordnung ausgestattet, sondern nach Tocquevilles Beobachtung teilweise auch von destruktiven Gesinnungen beseelt. Ist allerdings das Wesen der Verfassung nicht auf Unveränderbarkeit aufgebaut oder Ausdruck bestimmter Dogmen, sondern dynamisch gedacht und im Wesen kontingent, da Gegenstand der politischen Gestaltung. Kritik an der Verfassung ist demnach solange kein Problem, wie diese mit friedlichen Mitteln adressiert wird. Das Freihalten der Verfassung von Dogmen ermöglicht einen konstitutiven Kanal für Kritik, welcher wiederum ventilierend auf die Einstellung zu der Verfassung selbst wirkt. Dadurch, dass Kritik möglich ist, wird der Druck zwar dauerhafter, aber dafür auch weniger extrem.83
Die Zeitungen sind laut Tocqueville von essenzieller Bedeutung, wenn es um die Sammlung und das Zusammenbringen der einzelnen oder vereinzelten Individuen geht. Ferner sind Zeitungen für ihn auch das Medium, über das die Aktivitäten von associations nachverfolgt werden können. Durch die liberté d’écrire werden immer wieder unterschiediche Vorhaben und damit die Kontingenz der gesellschaftlichen Entwicklung gezeigt. Sie ist damit ein wichtiges Element zur Bildung eines Kontingenzbewusstseins. Zeitungen wirken demnach nicht nur vorbereitend, sondern begleiten auch die associations. Die liberté d’écrire verbindet demnach nicht einmalig, sondern hat das Potenzial, Verbindungen aus den Vereinigungen dauerhaft lebendig zu erhalten. Zwischen einem freien Pressewesen und dem droit d’association erkennt Tocqueville daher eine positive Wechselwirkung: »[N]ewspapers make associations, and associations make newspapers.«
Die liberté d’écrire ist damit für Tocqueville wie die dezentrale Gemeindeordnung und Verwaltung sowie das droit d’association zentrale Bedingung bewusster Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung. In einem freien Pressewesen bildet sich ein Raum, worin Individuen einander treffen können, ohne sich zu sehen, wo sie ähnliche Meinungen finden, ohne zu sprechen und der ihnen somit Ansatzpunkte gemeinsamen Handelns bietet, ohne bereits mit anderen zusammen organisiert zu sein.
Laut Tocquevilles ist die liberté d’écrire rechtlich nicht umrissen oder geschützt. Sie ist vielmehr eine existenzielle Freiheit, die politisch verteidigt werden muss. Als eine der grundlegendsten Freiheiten ist sie zentral für das Funktionieren demokratischer Politik und der Kontrolle demokratisch legitimierter Repräsentation und Regierung. Als solche darf sie durch Gesetze nicht eingeschränkt werden. Die liberté d’écrire ist in Tocquevilles Diktion kein Ausdruck einer Erkenntnis staatlicher Übermacht und daher seitens der Gesellschaft gegen diesen gerichtet, sondern ein essenzielles Recht einer demokratischen Gesellschaft.84 Deutlich wird hier, dass die politische Bürgergesellschaft laut Tocqueville auf komplexen und ineinander verschränkten Institutionen beruht, deren einzelne Elemente einander ausgleichen und temperieren.
Die liberté d’écrire steht auch für ein neues Informationsbedürfnis der demokratischen Gesellschaft, aber auch der einzelnen Individuen gegenüber den demokratisch legitimierten Repräsentanten und der Regierung. Sie richtet sich demnach gegen bestehende Tendenzen der Geheimhaltung im offiziellen und hauptamtlichen öffentlichen Betrieb, in der Verwaltung und Regierung. Je weniger Zeitungen oder Medien es gibt, desto zentraler ist tendenziell die Verwaltung, sicher aber desto intransparenter.85 Insofern wird nochmals klar, warum Tocqueville in der liberté d’écrire ein derart essenzielles Instrument sieht, das rechtlich nicht eingeschränkt werden darf und politisch verteidigt werden muss. Liberté d’écrire ist damit weitaus mehr als ein Schutzrecht. »The press is, par excellence, the democratic instrument of liberty.«86
5.1.5Geschworenengerichte
Auch die gesetzmäßige Einrichtung der Geschworenengerichte bringt die Individuen von ihren isolierten Vorhaben ab und lenkt sie gemeinen Zielen zu. »By forcing men to get involved in something other than their own affairs, it combats individual egoism, which is like the rust of societies.«87 Es ist eine Einrichtung, die den Individuen trotz des Individualismus bestimmte Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft zeigt. Tocqueville bezeichnet die Geschworenengerichte daher auch als politische Einrichtung. In der Tatsache, dass die Individuen als Geschworene am gerichtlichen Prozess beteiligt sind, erkennt Tocqueville einen republikanischen Charakter. Denn es sind tatsächlich die Regierten, die urteilen.88
Die Einrichtung des Geschworenengerichts ist damit auch eine direkte Folge des Prinzips der Volkssouveränität.89 Damit ist es aber auch eine Arena, in der die Mehrheit den Ausschlag gibt. Die Jury, als Vertreterin der Mehrheit im Gerichtssaal, ist überhaupt die Grundlage dafür, dass die Juroren ein tatsächliches Gegengewicht zu den Richtern bilden können.90 Insofern bildet die Jury nicht nur als Bestandteil der Judikative eine Kontrollinstanz, sondern hat auch innerhalb der Judikative gegenüber der richterlichen Gewalt eine kontrollierende Wirkung, indem sie deren Arbeit immer an der Öffentlichkeit und damit transparent hält.91 Letztlich ist das gegenseitige Verhältnis von Richter und Jury allerdings weniger eines der Kontrolle, sondern über die Zeit eher eines der gegenseitigen Unterstützung und Ergänzung. Da sich das Geschworenengericht nicht nur mit Strafrechtsfällen, sondern auch mit solchen des bürgerlichen Rechts befasst, ist es ständig präsent und nahezu mit allen Fragen des Alltags befasst.92 Damit prägen sich den Individuen die rechtlichen Formen ein und ihr Geist lernt den Gerechtigkeitsgedanken des Rechts sozusagen von innen her kennen. Im Geschworenengericht werden sich die Individuen darüber hinaus der Verantwortung des individuellen Handelns auf praktische Weise bewusst – ohne das ein politisches Interesse für Tocqueville überhaupt nicht zu denken ist.93 Sie bekommen außerdem beständig die eigenen Rechte vor Augen geführt. Sie lernen, dass die Gesetze den Leidenschaften vorzugehen haben, wenn es um die Rechtsprechung geht, dass Tatsachen und nicht Vermutungen entscheiden sollten, Unparteilichkeit eine essenzielle Voraussetzung ist und Macht an Regeln gebunden sein sollte.94 Gleichfalls wird die Rechtssprache allgemein und schafft damit nicht nur die Möglichkeit, gerichtliche Prozesse zu verfolgen und zu verstehen, sondern auch, angesichts der Tatsache, dass viele Personen des öffentlichen Lebens Tocquevilles Beobachtung nach Juristen sind, politische Prozesse in gleicher Weise zu durchdringen.95
Insofern sind die Geschworenengerichte ebenfalls eine zentrale Säule von Tocquevilles Vorstellung einer politischen Bürgergesellschaft. »You must consider it as a free school, always open, where each juror comes to be instructed about his rights.«96 Durch diese Schule gehen, und auch das ist Ausdruck der Volkssouveränität, alle Schichten der demokratischen Gesellschaft und nicht nur einige Privilegierte.97
Tocqueville betont auf der einen Seite eine passive Wirkung dieser Einrichtung, die sich in der Öffentlichkeit der Verhandlung sowie im Erfahren und Erlernen von juristischen Fachkenntnissen zeigen. Auf der anderen Seite unterstreicht er eine aktive Wirkung der Jury, weil die Individuen als eingesetzte Jury selbst Recht und Gesetz schützen.98 Generell kommt in Tocquevilles Denken dem Gerichtswesen eine temperierende Wirkung hinsichtlich der allgemeinen politischen Dynamik zu, da es auf dem Gewohnheitsrecht basiert. Die Juristen charakterisiert er als durchaus konservative Figuren, die, immer auf die bestehenden Gesetze sowie deren historische Genese schauend, allerdings eine mächtige Schranke bilden, um die demokratie-immanente Veränderungsgeschwindigkeit zu bremsen.99 Das Gewohnheitsrecht bindet demnach die demokratische Politik durch die Gerichte immer wieder an bestehende und zuvor entstandene Gesetze. Lernen die Individuen durch die Beteiligung an der Jury dieses Recht kennen, so geht auch ein Teil dieser temperierenden Wirkung auf sie über. Sie sehen immer wieder die Regeln und Gesetze als Ergebnisse vergangener Politik und deren heutige Regelungskraft. Sie lernen damit etwas von der Rechtskonservativität des Gerichtswesens. Dies bringt die Gesellschaft dazu, den eigenen Gesetzen zu folgen, daher mit sich selbst in Übereinstimmung zu agieren und insgesamt eine gewisse Konstanz über die Zeit zu gewährleisten.100
Im Geschworenengericht besteht ein Raum der aktiven Erfahrung von Selbstregierung und Selbstwirksamkeit der Individuen.101 Das Geschworenengericht bringt tatsächlich das Volk auf den Platz des Richters. Den Individuen kommen dadurch Eigenschaften dieser Figur nahe. Sie finden ein Vorbild an Ordnungsgefühl, Förmlichkeit, Sinn für (Rechts-)Traditionen und common law sowie ein Verständnis für die Gebundenheit des Rechts an den Fall, die Fakten und eben Recht und Gesetz.102
5.1.6Der allgemeine Rechtsgedanke
Tocqueville betont auch die Achtung der US-Amerikaner vor dem Recht und Gesetz als stabilisierendes Element. Recht und Gesetz sind in den USA, wo das Prinzip der Volkssouveränität unbedingt gilt, Ausdruck des Willens des Volkes beziehungsweise des Willens der Mehrheit. Stimmt ein Individuum mit einem Gesetz etwa nicht überein, bleiben diesem nur zwei Optionen. Entweder es lehnt sich dagegen auf oder es versucht, die Mehrheit zu beeinflussen und auf seine Seite zu ziehen, um dieses Gesetz zu ändern. Die erste Option erscheint von Anfang an nicht wirklich erfolgversprechend, so bleibt nur die zweite Möglichkeit, welche wiederum eine systemimmanente Kanalisierung bedeutet. Der Versuch, die Mehrheit zu beeinflussen, geht nur auf dem Wege der Meinungsbildung. Das verweist wiederum auf die associations und die liberté d’écrire. Dazu kommt etwas anderes, nämlich der Gedanke, dass jede Mehrheit die Folgsamkeit der Minderheit bedarf. Die Ambition, einmal selbst die Mehrheit stellen zu können, sorgt demnach dafür, sich den von der Mehrheit erlassenen Gesetzen unterzuordnen, denn bei vertauschten Rollen erwartet das Individuum selbiges von der Minderheit.
»So, however annoying the law, the inhabitant of the United States submits without trouble, not only as a work of the greatest number, but also [Herv. FB] as his own; he considers it from the point of view of a contract to which he would have been a party.«103
Ferner ist das Gesetz immer Objekt potenzieller Änderung. Wird etwa eine Regelung derart drückend, dass eine große Zahl von Individuen darunter leidet, dann kann das Gesetz als Werk des Volkes natürlich geändert werden. Das Gesetz bleibt, ist es einmal etwa in einem Fall vor das Gericht gebracht, Subjekt der Gesellschaft, welches als Jury selbst zu Gericht sitzt. Die demokratische Gesellschaft lernt darin die Auslegung von Recht und Gesetz. Aus diesen Gründen ist die ganze Gesellschaft von einer tiefen Achtung vor dem Gesetz und auch der Gesetzgebung durchdrungen und selbst die mögliche Opposition ist politisch kanalisiert.104
Das Recht geht für Tocqueville daher in die Tugend über. »The idea of rights is nothing more than the idea of virtue introduced into the political world.«105 Ohne ›Achtung vor dem Recht‹ kann keine Gesellschaft überleben. Die Individuen achten die Rechte, weil sie alle Inhaber von Rechten sind, und zwar von politischen Rechten wie von Eigentumsrechten. Der Gedanke der Rechte dringt zu jedem Individuum durch. Alle haben Achtung vor Recht und Gesetz, weil sie davon persönlich nicht nur betroffen sind, sondern sich dieses Verhalten für sie im Privaten positiv auswirkt. Diese Verbindung des Rechtsgedanken mit dem persönlichen Vorteil lässt die Achtung vor dem Recht und Gesetz laut Tocqueville so tief ankern und fest wurzeln. Achten alle das Recht, dann sind alle in ihren Rechten geachtet. Darin liegt auch der Grund, warum in den USA in dieser Hinsicht die Individuen nicht durch dieselben Klagen auffallen, wie sie laut Tocqueville in Europa oft zu hören sind, die er als eigentlichen Ausdruck tiefempfundenen und destruktiven Neides wahrnimmt.106
5.1.7Religion
Die demokratische Gesellschaft in Amerika beschreibt Tocqueville im politischen Leben als auch im privaten Leben als außergewöhnlich rege. Der US-amerikanischen Gesellschaft attestiert er ein vielstimmiges und teils sehr leidenschaftliches politisches Leben. Die Individuen sind hier in diese und dort in jene politischen Angelegenheiten involviert.107 Ähnlich klingt es, wenn er auf das wirtschaftliche Handeln blickt. Das Leben scheint mit beidem gut ausgefüllt und mit einer hohen Geschwindigkeit vonstatten zu gehen: »If his private affairs give him some respite, he immediately plunges into the whirl of politics.«108
Dagegen steht die Religion, die gerade dort konservativ und bremsend wirkt, wo das Leben ungehemmt zu neuem Fortschritt strebt und immerfort droht, alles mit sich zu reißen. »Therefore, at the same time that the law allows the American people to do everything, religion prevents them from conceiving of everything and forbids them to dare everything.«109 Es ist dabei letztlich irrelevant, um welche Religion es sich handelt.110 Natürlich schreibt Tocqueville einerseits vom Christentum als zentraler und wirkender Macht. Andererseits geht es ihm nicht um eine vermeintlich wahre Religion für, sondern um Religion und deren Wirkung an sich.111 Zwei Vorstellungen sind für Tocqueville dabei entscheidend, die er bei allen Religionen erkennt: Alle Religionen lenken demnach erstens die Wünsche der Individuen von irdischen auf jenseitige Ziele und erheben damit die menschliche Seele den irdisch-materiellen Dingen. Zweitens werden in Religionen meist Ansprüche der Mitmenschlichkeit und des gegenseitigen Wohlwollens geteilt, was die Individuen aus dem Selbstbezug herausnimmt und den anderen zuwendet.112 Das ist der Kern, weswegen Religion überhaupt eine positive Wirkung entfaltet.
Religiöse Vorstellungen und Überzeugungen erscheinen oftmals als Dogma. Obgleich Tocqueville Dogmen grundsätzlich reserviert gegenübersteht, begrüßt er doch die religiösen, denn die Individuen brauchen croyances semblables. Die Religion stattet die Individuen mit solchen croyances semblables aus. Diese sind dem individuellen Zugriff gewissermaßen entzogen. Durch die Vorstellung vom Jenseits und die Idee von Mitmenschlichkeit zeigen sie schon intuitiv einen Nutzen. In den religiösen Dogmen besteht eine Autorität, die aufgrund ihrer Überweltlichkeit von der demokratischen Gesellschaft trotz der Wirkungen der égalité des conditions leicht anerkannt werden kann. Die Religion gibt auf viele Fragen eindeutige, zugängliche und vor allem robuste Antworten, etwa zum Leben nach dem Tod, zum Sinn des Lebens oder zur Stellung der Individuen zueinander. Religiöse Überzeugungen sind durch eine eigene Zeitlosigkeit geprägt.113 Wo cartesianische Denkweise und Individualismus die Individuen eher entwurzeln und einander entfremden, verspricht die Religion oder versprechen religiöse Überzeugungen Halt, Orientierung und croyances semblables.114
Die Vorstellung vom Jenseits etwa bringt das individuelle Streben nach diesseitigen Genüssen ab und führt es dem langfristigsten Horizont zu, den Menschen sich vorstellen können – dem Leben nach dem Tod. Die Individuen lernen durch den Gedanken an das Jenseits laut Tocqueville vielfach kleinere, profanere und flüchtige Bedürfnisse hintanzustellen.115 Grundlage dafür ist, dass die Religion letztlich eine spezielle Hoffnung ausdrückt. Sie dreht sich um den Wunsch nach einem seligen Leben nach dem Tod.116 Die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele ist ein zutiefst antimaterialistischer Gedanke und ist daher in der Lage, die ökonomische Dynamik der materialistischen Kultur demokratischer Gesellschaften zu durchbrechen. Es ist der Materialismus, der die Überzeugung stärker werden lässt, alles sei Stoff, was die Individuen diesem Stoff nacheifernd verstärkt materialistischen Zielen nachstreben lässt.117 Die Sorge um das Schicksal der Seele als nichtgreifbares Ding funktioniert nicht nach dieser Logik. Dahinter steckt die Idee, dass das diesseitige, das stoffliche Leben nur eine Phase ist. Die Seele hängt nur für eine kurze Zeit an der stofflichen Hülle. Es ist dieser Antimaterialismus der Jenseits- und Seelenvorstellung, die Tocqueville an den religiösen Dogmen betont und ihren die allgemeine Regsamkeit demokratischer Gesellschaft bremsenden Einfluss hervorhebt.118
Die Religion bringt ferner die Menschen dazu, sich einander in Wohlwollen zuzuwenden. Darin besteht ein Gegeneffekt zum Individualismus und die damit zusammenhängende Isolation. Die Religion ermöglicht unterschiedliche Erfahrungen der Gesellschaftlichkeit, der Ähnlichkeit und der Stärke kollektiver Handlungen.119 Diese Wirkung der Religion basiert laut Tocqueville zu einem nicht unerheblichen Teil somit auch auf ihrer Erscheinung als mehr oder minder demokratische und mit flachen Hierarchien ausgestattete Vereinigung oder Gemeinde.120 Zusammen mit den Erfahrungen von Gemeinderegierung und den Möglichkeiten der Selbstbestimmung in den Kolonien, bilden die Religionsgemeinschaften letztlich Räume, in denen die Individuen selbst ihren gemeinsamen Werdegang bestimmen, sich selbst verwalten und dies als eigenes Handeln sowie die Folgen davon als eigens geschaffene Ergebnisse reflektieren. Die Rolle der Religion besteht demnach geradezu darin, die Menschen in Freiwilligkeit zusammenzuführen, und zwar nicht nur zur gemeinsamen Religionsausübung, sondern auch zu sozial orientiertem Handeln, etwa Armenhilfe.
Obgleich sich nach Tocqueville die Priester aus der Politik weitestgehend heraushalten und damit auch die Religion allgemein von politischen Dingen Abstand hält, entfaltet die Religion insgesamt dennoch eine indirekte Wirkung auf den politischen Zustand der Gesellschaft. Sie beeinflusst die politischen Meinungen und wirkt stark auf die mœurs der Gesellschaft. Sie verhindert nicht das individuelle materialistische Streben, aber sie verhindert, dass es maßlos wird – die Religion zeigt diesem Streben manchmal unsichtbare, aber unüberwindbare Hürden auf. Diese Zurückhaltung beobachtet Tocqueville nicht nur in den privaten Angelegenheiten, sondern sie überträgt sich ihm nach auch auf das politische Leben und befestigt die allgemeine Ruhe und Ordnung der Gesellschaft sowie ihrer Institutionen.121
Die Besonderheit, die Tocqueville der Religion beimisst, wird deutlich angesichts der Priorität, die er ihr im gesellschaftlichen Arrangement einräumt: »So religion […] must be considered as the first of their political institutions; for if it does not give them the taste for liberty, it singularly facilitates their use of it.«122 Obgleich also die Religion einschränkende Kräfte entfaltet, wird sie zu einer die Freiheit allgemein stabilisierenden Größe. Tocqueville sieht sie weniger als Bremse, sondern mehr als Tempomat; sie verhindert eine Geschwindigkeit, die entweder das Fahrzeug von der Straße reißt oder die verfügbaren Antriebsressourcen zu schnell verbrennt und ermöglicht dadurch ein zwar langsameres, aber wesentlich längeres sowie stetiges Vorwärtskommen. Ihre Stellung kommt ihr auch daher zu, weil sie von der öffentlichen (Mehrheits-)Meinung getragen ist. Daher ist es letztlich für die Wirkung der Religion unerheblich, ob tatsächlich alle Individuen an ihre Versprechen und Lehren innerlich glauben; sie wissen um ihre Nützlichkeit. Die Religion entfaltet als Bestandteil der mœurs der demokratischen Gesellschaft ihre temperierende Wirkung, welche sich mit Oliver Hidalgo in drei Punkten zusammenfassen lässt: »(1) Die Konsolidierung des sozialen Zusammenhalts, (2) die Ausformung der bürgerlichen Moral sowie (3) im Speziellen die Mäßigung der gefährlichen demokratischen Instinkte.«123
Hat die Religion auf der einen Seite zwar eine mittelbare politische Bedeutung, betont Tocqueville auf der anderen Seite die notwendig vollständige Trennung vom Staat und der Regierung. Diese Trennung ist die conditio sine qua non dafür, dass die Religion überhaupt ihren Einfluss friedlich bewirken kann und keine (politisch-religiösen) Kämpfe auslöst.124
Beruht die Bedeutung der Religion nur auf dem Gedanken, für die Erlösung der Individuen zu sorgen, kann dieses religiöse Dogma mit einer gewissen Allgemeinverbindlichkeit rechnen. Verbindet sie sich jedoch mit den politischen Regierungsgeschäften und zwingt Politik in einen bestimmten religiös-moralischen Rahmen, dann multipliziert sich zwar ihre Macht, aber sie verliert ihren überweltlichen Status, Ausdruck von Hoffnung zu sein und damit die Aussicht, allgemeinen Einfluss auszuüben. Wird sie in die weltlichen Dinge verstrickt, womit Tocqueville insbesondere die Regierungsgeschäfte meint, dann muss sie im Zweifel Allianzen aus Nützlichkeitserwägungen eingehen und verliert dadurch ihren Anspruch auf Letztendlichkeit und Universalität. Sie macht sich dann mit der allgemeinen Beliebigkeit gemein. Die politische Macht der Regierung ist abhängig von der wechselhaften öffentlichen Meinung; die Stärke der religiösen Dogmen ist es jedoch, bestimmte Überzeugungen dieser und damit auch dem allgemeinen Zweifel zu entziehen. Ließe sich die Religion auf die Politik ein, so wäre deren Stärke eliminiert: »[W]hen religion wants to rely on the interests of this world, it becomes almost as fragile as all the powers of the earth.«125 Dies ist die Welt religiöser Personen und Vorsteher, die aber immer beachten müssen, diesen Bereich nicht zu verlassen.126 Die Trennung von Kirche und Staat bedeutet so nachgerade das Gegenteil eines Bedeutungsverlustes, ist vielmehr die Grundlage für die zentrale Position der Religion als Stabilisierungselement der Demokratie, wie Tocqueville es beschreibt.127
Die Religion erscheint in Tocquevilles Vorstellung als reines Funktionselement und ist nicht Ausdruck eines bestimmten Moralkatalogs.128 Die demokratische Gesellschaft sollte die Religion nicht erhalten, weil sie von dieser eine bestimmte oder überhaupt eine Moral zu erwarten hat, sondern schlicht, weil die Religion die Auswüchse des Materialismus und des Individualismus derart zu bremsen in der Lage ist, dass diese sich nicht schädlich auf den politischen Zustand der demokratischen Gesellschaft auswirken können. Letztlich ist die Religion nicht konstitutiv für die Demokratie, sondern als Erfahrungsraum kollektiver Religion und gemeinsamen Handelns ein geeignetes Gegenmittel gegen materialistische Dynamiken und Überhitzungen der demokratischen Mittelstandsgesellschaft.129 Tocqueville entzieht der Religion damit viel ihres moralischen Einflusses auf die Individuen. Obgleich die Religion die diesseitigen Güter eigentlich als nachrangige Dinge sieht, darf sie dem ökonomischen Fortschritt nicht feindlich gesinnt sein, sondern sollte diesem freundlich gegenüberstehen. Wird in der Religion auch ständig die Wichtigkeit des Jenseits und des Seelenheils gepredigt, so verbietet sie den Individuen nicht, dass diese im Hier und Jetzt nach materiellem Wohlstand streben.130 Die Existenzberechtigung der Religion leitet sich durch ihren positiven Einfluss auf die Individuen ab. Ferner baut sie auf ihrer eigenen Kompatibilität mit den Voraussetzungen der demokratischen Gesellschaft auf.131 Die Prediger wirken auf eine Verbesserung der individuellen Lebensbedingungen im Diesseits hin, und zwar sowohl in materieller Hinsicht als auch dergestalt, dass sie die Individuen an ihre Verantwortung als Mitglieder einer Gemeinschaft erinnern und öffentliches Handeln einfordern.132 Mit Oliver Hidalgos Worten ließe sich sagen, dass Tocqueville sich damit als ein »klassischer Vordenker einer Zivilgesellschaft [erweist, FB], in der christlich-kommunitaristische Wertbestände als eine Art ›Katechismus‹ des Gemeinschaftsbezugs fungieren«133.
5.2Die politische Bürgergesellschaft als Ausdruck des individuellen Interesses
Im Folgenden geht es darum, Tocquevilles Gesamtbetrachtung der US-amerikanischen politischen Bürgergesellschaft zu folgen. Wie wirken die verschiedenen Erfahrungsräume bewusster gesellschaftlicher Gestaltung? Wie schafft es diese demokratische Gesellschaft ein Kontingenzbewusstsein aufrechtzuerhalten? Wie bewahrt sie ihre Gestaltungsfreiheit?
Angesichts der zentralen Bedeutung der Erfahrungsräume ließe sich mit Oskar Negt sagen, dass diese die »Existenzvoraussetzung jeder friedensfähigen Gesellschaft«134 sind; sie machen den Menschen zum tatsächlich politischen Lebewesen, das er von Natur aus nur potenziell ist. Genau das bewerkstelligen die Erfahrungsräume und zeigen den Individuen neben ihrer instinktiven sowie leidenschaftlichen Liebe zur Gleichheit eine rationale Liebe zur öffentlichen Freiheit.135 Diese Erfahrungsräume bilden damit das Gerüst, auf dem die Gesellschaft fortlaufend ein Kontingenzbewusstsein ihrer eigenen Entwicklung aufrechterhält und diese bewusst gestaltet. Dieses Gerüst kann in Tocquevilles Vorstellung in der neuen Zeit nur noch aus Kalkulation oder eben der Verbindung mit den eigenen Interessen der Individuen hergestellt werden.136 Die öffentliche Freiheit als ein an sich kostbares Gut137, autonome Gestaltung und Kontingenzbewusstsein können nur auf rationaler Einsicht beruhen.
Die Erfahrungsräume ermöglichen den Individuen nicht nur Politik und gemeinsames Handeln, sondern zeigen diesen auch die Nützlichkeit davon. Die Individuen erfahren darin den eigenen Vorteil der politischen Gestaltung und von Selbstregierung. Sie lernen, dass sie mit anderen, trotz der égalité des conditions und ihrer individuellen Schwäche starke Akteure bilden können.138 Ihnen wird bewusst, dass andere gleiche oder ähnliche Meinungen vertreten, und sie klären sich fortwährend über die verschiedenen Möglichkeiten auf, die sich hinsichtlich der Gestaltung der Entwicklung ergeben. Ihnen wird offenbar, dass ihre jeweiligen privaten Angelegenheiten von den öffentlichen Angelegenheiten gar nicht so weit entfernt sind und dass gemeinsames politisches Handeln ihren privaten Vorhaben nützlich ist. Sie werden von Tocqueville nicht nur hinsichtlich ihres Nutzens der Herstellung eines gemeinwohlorientierten Eigeninteresses betont, sondern vor allem hinsichtlich der sozialen Effekte von Michel Drolet als »Hort […], in dem Tugend und authentische Individualität gedeihen können«139 bezeichnet. Dadurch, dass die Erfahrungsräume selbst keine Momenterscheinungen sind und entsprechend nicht nur einmalige Erkenntnisse liefern, sondern aufgrund ihrer eigenen Dauerhaftigkeit die Individuen immer wieder diese Erfahrungen machen können, bildet sich bei den Individuen eine Gewöhnung an Politik und Gestaltungsfreiheit. Das Bewusstsein von politischen Gestaltungsmöglichkeiten und der Kontingenz der Entwicklung geht in das sittliche Fundament (mœurs) der demokratischen Gesellschaft ein. So ist politische Praxis in den Erfahrungsräumen die Bedingung der stabilen Verbindung von Gleichheit und Freiheit. Trägt auch die Leidenschaft für die Gleichheit die Gefahren der Unfreiheit und der politischen Apathie in sich, können die Individuen durch ihr politisches Handeln diese Gefahren bekämpfen und so simultan gleich und frei sein.
Dahinter steht die rationale Einsicht, dass es sinnvoll ist, sich mit den öffentlichen Angelegenheiten zu befassen. Diese Form der Rationalität heilt damit gewissermaßen einen demokratieimmanenten Defekt, denn es war gerade auch der Bezug auf die eigene Vernunft, welcher die Individuen separierte und sich auf die eigenen Geschäfte zurückziehen ließ. Diese Darstellung der vernunftbasierten Verbindung von Freiheit und Gleichheit durch Politik ist »die eigentliche Leistung Tocquevilles.«140 Die US-amerikanische Gesellschaft hat in den Erfahrungsräumen ein gewisses Maß an öffentlicher Freiheit und politischer Beteiligung verinnerlicht, welches nicht nur der eigenen Aufklärung zugutekommt, sondern auch immer wieder bewusste politische Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung hervorbringt141 und somit das Kontingenzbewusstsein stärkt.
Die amerikanische Gesellschaft erfüllt damit den von Tocqueville formulierten Anspruch: »[I]n order to profit easily from the experience of the past, democracy must already have reached a certain degree of civilization and enlightenment.«142 Die mœurs, welche jedes Individuum nicht zum politischen Handeln zwingt oder dafür Sorge trägt, dass alle nach den höchsten politischen Ämtern streben, aber zu selbstverantwortlichen und bewussten Bürgern werden lässt, manifestieren sich für Tocqueville deutlich in der Lehre des intérêt bien entendu (wohlverstandenes Eigeninteresses) – der Moral der modernen demokratischen Gesellschaft.143
Die Philosophie des intérêt bien entendu ist so etwas wie ein Konzentrat aus dem Bisherigen und symbolisiert das sittliche Gefüge, welches in der Lage ist, Freiheit und Gleichheit in einem stabilen politischen Zustand zu erreichen und zu erhalten. Diese Philosophie bildet die Grundlage dafür, dass der bürgerlichen Mittelstandsgesellschaft als politische Bürgergesellschaft politische Gestaltung und Kontingenzbewusstsein in Fleisch und Blut übergehen. Es wird verhindert, dass die Entwicklung sich auf ökonomischen Zusammenhänge verengt. Das intérêt bien entendu ist gewissermaßen ein aufgeklärtes Interesse, das die öffentliche Meinung durchsetzt, an der sich wiederum die Individuen orientieren.144 Tocqueville bezeichnet es als allgemeine Lehre in den Vereinigten Staaten von Amerika. »I have already shown […] how the inhabitants of the United States almost always knew how to combine their own well-being with that of their fellow citizens.«145 Niemand hindert irgendjemanden daran, zum eigenen Nutzen zu handeln. »[T]hey say boldly that such sacrifices are as necessary to the person who imposes them on himself as to the person who profits from them.«146 Diese Lehre bringt die Individuen dazu, sich dauerhaft gegenseitige Unterstützung angedeihen zu lassen.
»The Americans […] show with satisfaction how enlightened love of themselves […] disposes them willingly to sacrifice for the good of the State a portion of their time and their wealth.«147
Es ist eine Art der Moderation zwischen dem individuellen Verstand, dessen Vorstellungskraft, die durch die égalité des conditions unbegrenzt ist, und den materiellen Bedingungen des praktischen Lebens. Es ermöglicht den Individuen Selbstreflexion und ein eingehendes Verständnis ihrer eigenen geistigen Zielsetzungen.148
»[B]y itself, it cannot make a man virtuous, but it forms a multitude of steady, temperate, moderate, farsighted citizens who have self-control; and, if it does not lead directly to virtue by will, it imperceptibly draws closer to virtue by habits.«149
Insofern ist die moderne Gesellschaft aufgeklärt und bewusst, ohne gleichzeitig von Tugend, in einem antiken Verständnis, durchtränkt zu sein. Das intérêt bien entendu bringt demnach keine positiven Extreme hervor, aber eine allgemeine Anständigkeit.150 Die mœurs der Amerikaner erscheinen ihm zwar gewöhnlich, dafür aber auch weder brutal noch devot.151 Die Lehre vom intérêt bien entendu bedeutet so zwar für einzelne und im Vergleich zu Tocquevilles Bild einer aristokratischen Gesellschaft eine profanere Moral, aber hinsichtlich der Gesellschaft zeigt sich ein höheres Level.152
Da es unmöglich aufzuhalten ist, dass die Individuen einer demokratischen Gesellschaft ihren eigenen Vorteil auszubauen suchen, kommt es darauf an, auf das allgemeine Verständnis dieses persönlichen Vorteils einzuwirken. Aus dieser Perspektive ergibt sich die fundamentale Bedeutung des interét bien entendu. Die Individuen beschränken dadurch ihr eigenes materielles Streben. Es ist damit das intérêt bien entendu, das an der Weggabelung zwischen der vollen und ungebremsten Wucht der neuen Kultur des Materialismus und dem ökonomischen Fortschritt auf der einen Seite oder einem Leben in Selbstregierung und mit politischer Gestaltungsfreiheit, zum Preis kleiner persönlicher Opfer, auf der anderen Seite steht.153
Die Lehre vom intérêt bien entendu ist sehr kompatibel mit den religiösen Überzeugungen. Beiden ist die Überzeugung gemein, dass langfristiges Glück nur durch die wiederholte Entsagung verschiedener kleiner und unbedeutender Genüsse erlangt werden kann.154 Da dies nach Tocquevilles Beobachtungen oftmals der Inhalt religiöser Predigten ist, bleibt ihm manchmal unklar, ob die Religion das diesseitige oder das jenseitige Glück zum Inhalt hat.155 Das intérêt bien entendu ist zugleich aber auch eine Erkenntnis, die den Individuen aus der Erfahrung in den associations zukommt, wo sie lernen, ihren Willen einem gemeinsamen Ziel unterzuordnen und als einzelne Anstrengung als Teil einer kooperativ-organisierten Handlung sehen.156
In der Tat ist damit das sittliche Gefüge, welches in Amerika die Demokratie fundamentiert, eine »einzigartige Alchemie«157, wonach das private Interesse verfolgt und sich gleichwohl für die Gemeinschaft engagiert wird, wie Philippe Chanial notiert. Es ist nicht mehr der antike Verzicht auf das eigene Interesse zugunsten der öffentlichen und gemeinschaftlichen Angelegenheiten, sondern der Versuch der fruchtbaren Verknüpfung beider und der Nutzbarmachung des öffentlichen Interesses für jedes Individuum.158 Das aufgeklärte Eigeninteresse als Ausdruck einer Moral erscheint in dieser Hinsicht prosaisch, aber auch transparent, und zwar, weil darin anerkannt ist, dass die Individuen egoistische wirtschaftliche Interessen haben, welche sich mit den gemeinschaftlichen Interessen allerdings verbinden lassen und teilweise sogar zulasten der individuellen Interessen verfolgt werden.159 Die Amerikaner sind auf Grundlage dieser moralischen Lehre meist viel aufopferungsvoller und selbstloser, als sie sich bewusst sind, und zwar gerade weil diese moralische Lehre nicht als tugendhafter Zwang, sondern als besonderer Ausdruck des individuellen Interesses auftritt.160
Diese Lehre des intérêt bien entendu ist nicht neu, aber laut Tocqueville in Amerika zum ersten Mal gesellschaftlich allgemein anerkannt. »[I]t has become popular; you find it at the bottom of all actions; it pokes through all discussions. You find it no less in the mouths of the poor than in those of the rich.«161 Sie ist fester Bestandteil der mœurs der Amerikaner. Daneben unterstützen die Individuen diese politische Ordnung, da sie sich selbst als funktionaler Teil davon begreifen, aktiv Anteil daran nehmen, es mit einem Wort ihre Sache ist und nichts Fremdes oder Äußeres. Das intérêt bien entendu ist das Interesse, das von allen Individuen geteilt verfolgt wird.162 Tocqueville baut entgegen der klassisch liberalen Tradition seine Ansichten über die Gesellschaft demnach nicht auf dem reinen Eigeninteresse der Individuen auf, sondern vielmehr auf dem eingeschränkten oder gar minimierten Eigeninteresse. Im Grunde geht es Tocqueville um eine Gesellschaft, in der die Individuen im öffentlichen Raum durch ihre Handlung miteinander verbunden sind und auf Basis von Meinungen über politische Prinzipien debattieren und gemäß dem Gemeinwohl gemeinsam handeln.163
Dieses sittliche Gefüge ist es, das diesen politischen Zustand der demokratischen Gesellschaft letztendlich stabilisiert und dafür Sorge trägt, dass trotz der allgemeinen Betriebsamkeit, sowohl in den wirtschaftlichen als auch politischen Angelegenheiten, der politische Zustand keine konstante Revolution, sondern vielmehr eine eigene Ordnung und Ruhe ausbildet, die aber dennoch kein erstarrter Zustand ist.
Grundlage sind die Erfahrungsräume von Politik beziehungsweise öffentlicher Freiheit, Gestaltungsmöglichkeiten und Kontingenzbewusstsein. Die Erfahrungsräume bilden damit einen Mittler, der den Individuen insgesamt eine bürgerlich-demokratische Sittlichkeit zeigt und die Erfahrung dessen ermöglichen soll, aufgrund derer diese dann gewohnheitsmäßig politisch handeln und aktiv sind. So gehen aus den Erfahrungsräumen nicht nur nachhaltig politisierte Individuen, sondern auch ein état politique hervor, dessen Gestaltbarkeit sich die Gesellschaft fortlaufend selbst versichert. Die mœurs sind es, weswegen die Individuen immer wieder und dauerhaft politisch aktiv sind. Sie treiben die einzelnen Individuen immer wieder zu gemeinsamem Handeln an164 und integrieren die demokratische Gesellschaft dadurch politisch.165 Sie sind damit die Grundlage von öffentlicher Freiheit – »taste for liberty and the art of being free«166. Freiheit und Freisein sind damit zwei Seiten einer Medaille. Die öffentliche Freiheit, als Freiheit und Ausdruck von Freisein, bringt die Individuen immer wieder zu gemeinsamen politischem Handeln.
Konstituieren die Gesetze also die politische Demokratie und zeichnet sich die Demokratisierung durch gesellschaftliche Mobilität aus, geht es Tocqueville darum, diese in eine Balance zu bringen. Diese Dualität spiegelt sich auch in der Unterscheidung von Gesetzen und mœurs wider.
Es gibt in den USA Gesetze, die teilweise von den ersten Siedlern stammen oder von ihnen stark beeinflusst sind. Aufzuzählen sind dabei das droit d’association und die institutions communales und Autonomie der Gemeinden, aber auch das Wahlrecht.167 Sie zeigten sich als belastbar und stark, um die Erfahrungsräume zu konstituieren und die Individuen wiederholt dort hereinzuführen. Doch auch diesbezüglich stellt Tocqueville fest, dass gute Gesetze nur bedingt Wirkung entfalten können:
»In certain countries, the inhabitant accepts only with a kind of repugnance the political rights that the law grants him; dealing with common interests seems to rob him of his time, and he loves to enclose himself within a narrow egoism exactly limited by four ditches topped by hedges.«168
So klang auch Tocquevilles Beschreibung der politischen Rechte in den USA, die die Individuen zunächst aus deren Individualismus herausrissen und sie nahezu zwingen mussten, den öffentlichen Dingen ihre Aufmerksamkeit zu widmen. Aus dieser Einschätzung heraus und angesichts der Tatsache, dass Gesetze Ergebnis politischer Prozesse und damit politischer Macht sind, entsprechend geändert werden können,169 wird deutlich, dass sie in ihrer Bedeutung der der mœurs nachstehen.
Entscheidend sind aber letztlich die Sitten:
»So mores, particularly, make the Americans of the United States, alone among all Americans, capable of supporting the dominion of democracy; and mores also make the various Anglo-American democracies more or less well-regulated and prosperous.«170
Und so steht es angesichts starker mœurs und habitudes auch schlecht um die Möglichkeiten jeglicher Despotie:
»I am persuaded that if despotism ever succeeds in becoming established in America, it will have even more difficulties overcoming the habits that liberty has engendered than surmounting the love of liberty itself.«171
Aus gelebter politischer Praxis geht laut Tocqueville demnach ein sittliches Gefüge hervor, in dem die politische Praxis selbst Gewohnheit ist. Die Individuen handeln politisch, weil sie schon politisch gehandelt haben.172 Sie sind sich der Kontingenz der gesellschaftlichen Entwicklung bewusst, weil sie genau diese Erfahrung immer wieder durch eigenes Handeln erfahren. Insofern, als dass das droit d’association Ausdruck der égalité des conditions ist, und den Individuen darin ein rationales Interesse an Politik zukommt, fordert Tocqueville: »Use democracy to moderate democracy.«173 Bestimmte Instrumente der Demokratie ermöglichen gewissermaßen ein Verlangsamen und ein politisches Einhegen der Folgen der Demokratisierung.
Durch Wiederholung wird aus rationalem Handeln ein gewohntes Handeln, dessen Wurzeln in den mœurs liegen – das ist Tocquevilles Beschreibung:
»You first get involved in the general interest by necessity, and then by choice; what calculation becomes instinct; and by working for the good of your fellow citizens, you finally acquire the habit and taste of serving them.«174
Die mœurs sind dabei immer ein Ausdruck des Prinzips der Volkssouveränität, denn sie gehen aus dem individuellen Handeln in den Erfahrungsräumen hervor. Sie stammen damit von den Individuen, der Gesellschaft selbst und werden nicht von außen oktroyiert. Zugleich sind sie aber auch ein Regulativ zu den Wirkungen der Volkssouveränität. Gerade dieses Prinzip ist Grundlage der Macht der Mehrheit und der allgemeinen Dynamik in politischen Dingen. Auf der Idee der Volkssouveränität basiert die bisher unbekannte Machtfülle demokratischer Gesellschaften und es sind die freiheitlichen mœurs, die die demokratische Gesellschaft insgesamt beruhigen.175
»Two things are astonishing in the United States: the great mobility of most human actions and the singular fixity of certain principles.«176 Obgleich sich etwa beständig neue Unterschiede zwischen den Individuen aufgrund angehäuften Reichtums ergeben, sorgt das nicht dafür, dass die Gesellschaft insgesamt auseinanderdriftet. Der Vorrang, den Reichtum in der Gesellschaft bedingt, ist für die Gesellschaft weniger gefährlich als Vorteile aufgrund von Geburt oder Beruf. Reichtum ist im Zweifel und in einer derart bewegten und regen Gesellschaft unbeständig und zugänglicher, weniger radikal und nur manchmal moralisch fragwürdig.177 Die in den mœurs verankerte Gleichheit steht dem insofern entgegen, als dass diese Art der Unterschiede nichts an der wahrgenommenen Gleichheit der Individuen als Inhaber politischer Rechte und Mitglieder des souveränen Volkes sind. Die damit zusammenhängende Mobilität wiederum lässt immer wieder diese Unterschiede untergehen und neue aufkommen, gleicht also durch die eigene Dynamik immer wieder aus.
Die gleiche Robustheit erreicht laut Tocqueville auch die öffentliche Freiheit, so sie in den mœurs verankert ist. Tocqueville konstatiert diesbezüglich in den USA, dass etwa das droit d’association in die Gewohnheiten und Sitten übergangen ist.178 Die Religion wiederum beeinflusst und beruhigt die mœurs, indem diese sie auf das Jenseits und die Mitmenschlichkeit ausrichtet und damit das Ihrige dazu beiträgt, dass die Demokratie trotz der ihr eigenen Betriebsamkeit nicht überdreht und in der Despotie und ihre Entwicklung in ökonomischer Verengung endet.179 So stehen in Amerika dem Neid der Rechtsgedanke, der allgemeinen Betriebsamkeit die Starrheit religiöser Überzeugungen, den theoretischen Wissenslücken die praktische Erfahrung sowie die Gewöhnung der Individuen ihrer jeweiligen Unruhe entgegen.180
Den Erfahrungen mit der égalité des conditions und den daraus resultierenden potenziellen Gefahren für die demokratische Gesellschaft, die diese wie Rost befällt,181 steht nach Tocqueville in den USA einen Korrosionsschutz entgegen. Dieser Korrosionsschutz findet sich in den freiheitlichen mœurs, die sich aus dem wiederholten Bewegen in den gesetzlich geschaffenen Erfahrungsräumen ergeben. Nur durch die Dezentralisierung der Verwaltung, die Erfahrung von Solidarität und Ähnlichkeit in allen durch das droit d’association sowie auch auf der Institution des Geschworenengerichts beruhenden Erfahrungsräumen ist es möglich, dass die Individuen trotz der durch die Demokratisierung ausgelösten Pathologien in öffentlicher Freiheit leben können182 und die gesellschaftliche Entwicklung dauerhaft bewusst gestalten.
Das politische Handeln und die damit verbundene Erfahrung von Selbstwirksamkeit sorgen für die stabile Verbindung von Gleichheit und öffentlicher Freiheit. Die mœurs und Institutionen sowie das individuelle Handeln und die Erwartungen, Überzeugungen und Vorstellungen bestärken sich wechselseitig und bringen sich ebenso wechselseitig regelmäßig hervor.183 Die mœurs sind wiederholt Ergebnis als auch Voraussetzung beziehungsweise Bedingung. Die Demokratie ist als solche damit keine abstrakte Theorie oder etwas Statisches, das auf irgendeine Art festzuhalten möglich ist. Die Stabilität besteht vielmehr in der Bewegung; sie ist homöostatisch, stellt also ein Gleichgewicht in einem dynamischen System her. Die Stabilität ist nur als politisch, also sich fortlaufend gestaltend und verändernd, zu begreifen.184 Es ist demnach einmal der institutionelle Rahmen entscheidend, aber eben auch dessen Bedeutung für das individuelle Handeln. Allein gute Institutionen machen noch keine stabile und Demokratie – und daran wird wiederum Tocquevilles Zwischenposition zwischen Enthusiasmus und sorgenvoller Bewertung der Demokratisierung deutlich. Die Stabilität ergibt sich erst als fragiles Zusammenspiel beider. Die mœurs sind damit selbst nichts Überzeitliches, sondern Bestandteil der politischen Gestaltungsfreiheit sowie der politischen Dynamik.185 Politik ist in Tocquevilles Theorie damit die Quelle und Bedingung der Gestaltung eines unabschließbaren Entwicklungsprozesses der Gesellschaft.
Tocqueville reagiert auf die Feststellung, dass in der modernen Gesellschaft der Gleichheit ein gewisses Maß an Individualismus und Vereinzelung unumgehbar ist, nicht mit dem klassisch konservativen Versuch, alte Akteure oder Strukturen in diese neue Zeit und diese neue Welt hinüberzuretten, die vormals für politische Aktivität sorgten. Vielmehr verschreibt er angesichts dieser Diagnose mit den Erfahrungsräumen Verfahren und Institutionen, die politische Aktivität fördern, dauerhaft stabilisieren, verstetigen und die vorhandene Kontingenz der Entwicklung aufzeigt.
Es geht Tocqueville auch nicht allein um ein bestimmtes institutionelles Arrangement der Demokratie als politisches System. Bliebe die Demokratisierung allein auf die Frage des Zustandekommens der Regierung der demokratischen Gesellschaft bezogen, so würde dies kein Zustand öffentlicher Freiheit sein. Als Ausdruck wirklicher Souveränität und Autonomie ist diese für Tocqueville nicht abschließend im demokratischen Rechtsstaat oder dem repräsentativ verfassten politischen System grundgelegt, sondern vor allem durch die in der Gemeinde fundamentierte Selbstregierung verwirklicht.186
Dieser Zusammenhang erinnert stark an Tocquevilles Ausführungen über die despotisme démocratique. Auch dort herrschte das Prinzip der Volkssouveränität in der Hinsicht, dass die Individuen die Regierung zwar demokratisch legitimierten, aber dabei den eigenen notwendigen Beitrag, die Selbstregierung aufgaben. Tocquevilles Theorie der politischen Gesellschaftsordnung basiert daher auf der politischen Aktivität aller Individuen. Nur wenn die Demokratie ein von allen Individuen gelebter und belebter Zustand ist, ist öffentliche Freiheit auf die Dauer stabil mit Gleichheit und persönlicher Unabhängigkeit in Verbindung zu bringen. Das Gegenteil davon, also Politik, die lediglich auf eine bestimmte Elite begrenzt ist, bedeutete gerade keine öffentliche Freiheit, sondern unterwürfe diese ebenjener Elite. Damit verkomme aber die Idee der Freiheit zu einer bloßen Rechtfertigung deren Verwaltungshandelns. Tocqueville geht es keinesfalls darum, politische Eliten pauschal zu eliminieren. Vielmehr sind sich, seiner Vorstellung nach, alle Individuen aufgrund ihrer Sittlichkeit und ihres rationalen Interesses vollständig bewusst, dass nicht nur der Zusammenschluss mit anderen nützlich ist, sondern auch, dass solche Zusammenschlüsse zweitens notwendig Koordination und Führung bedürfen.187
Politik soll demnach nicht ausschließlich in repräsentativen Organen stattfinden, sondern in der gesamten Gesellschaft, in kommunalen Einheiten, Vereinigungen, politischen Parteien und anderen Bewegungen. Eine politisch aktive Gesellschaft sowie deren Bedingungen in den Gewohnheiten und mœurs der Individuen sind daher Sujet Tocquevilles Vorstellung der politisierten Bürgergesellschaft.188 So gestaltet die demokratische Gesellschaft ihre Entwicklung selbst politisch, also bewusst. Sie ist kein entkoppelter oder unbewusst ablaufender Prozess, der etwa nach ökonomischen Kriterien abläuft, sondern tatsächliche Funktion von bewusster Gestaltungsfreiheit. Tocqueville optiert damit allerdings nicht für einen zwanghaften Rahmen, der die Individuen zur Politik nötigt. Vielmehr sieht er in den US-amerikanischen Erfahrungsräumen Einrichtungen politischer Bildung und eines politischen Reifeprozesses, der eine sittlich festgefügte politisch dauerhaft aktive Gesellschaft reproduziert wird. So sieht ein Handlungszusammenhang aus, der den Individuen sowohl wirtschaftlich freies Handeln als auch die bewusste politische Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung ermöglicht. Tocqueville betont die Notwendigkeit dieser Einrichtungen und dieses Reifeprozesses.189 Der Handlungszusammenhang ist dabei nicht immun gegen Fehler, aber dennoch wird er von Tocqueville unterstrichen, weil die Individuen dadurch politisch aktiviert werden und sich über das explizite Ziel hinaus der Politik insgesamt zuwenden.190
Tocquevilles Vorstellung lässt sich demnach durch die acht folgenden Punkte kennzeichnen. Erstens respektieren alle Individuen die Gesetze und die Idee des Rechts. Das ist Folge einerseits der Architektur der demokratischen Regierung als gewählte Vertretung. Die Chance darauf, eines Tages über die Regierung zu verfügen sowie, dass sich die anderen dieser dann auch fügen, basiert darauf, sich heute der Regierung, ihren Gesetzen und Anordnungen zu fügen. Ferner temperiert die Möglichkeit, Gesetze direkt durch politische Macht zu ändern oder aber durch die Eingriffe des Obersten Gerichts als Verfassungsgericht potenzielle Gegnerschaften gegen Recht und Gesetz abzuwenden. Zweitens herrscht ein allgemeiner Respekt für- und voreinander. Das begründet sich darin, dass alle Individuen Rechte haben. Alle erwarten daher voneinander Respekt dieser Rechte, den sich alle gewähren, weil alle Inhaber von Rechten sind, und zwar in Tocquevilles Beschreibung sowohl von politischen Rechten als auch von Eigentumsrechten. Drittens erlernen die Individuen in den Vereinigungen politisch zu handeln und damit frei zu sein. Viertens erwächst der demokratischen Gesellschaft dadurch ein sittliches Gefüge, das die Individuen allgemein nicht nur zur gegenseitigen Unterstützung, sondern auch zum politischen Handeln und zur allgemeinen Beschäftigung mit den öffentlichen Angelegenheiten anhält. Dafür steht etwa die Lehre des intérêt bien entendu. Dadurch erkennen die Individuen fünftens neben ihrer leidenschaftlichen Liebe der Gleichheit auch die öffentliche Freiheit vernunftmäßig zu lieben. Damit verbinden sich sechstens für jedes Individuum persönliche Vorteile. Gut bestellte öffentliche Angelegenheiten haben einen privaten Nutzen sowie die gegenseitige Unterstützung größere kooperative Unternehmungen ermöglicht. Damit ergibt sich siebtens eine allgemein selbstregulierte und dennoch progressive Bewegung der demokratischen Gesellschaft insgesamt. Zuletzt erhebt sich achtens aus alldem ein starker und durch die Individuen bestellter, kontrollierter und geliebter Staat.191
5.2.1Über die Freiheit in der politischen Bürgergesellschaft
Die politische Praxis der Individuen in der politischen Bürgergesellschaft ist nicht nur Ausdruck eines rationalen Interesses. Sie ist zugleich auch Ausdruck und Bedingung der Verbindung von privater wie öffentlicher Freiheit der Individuen. Beide sind darin nicht mehr in Konkurrenz zueinander, sondern fruchtbar miteinander verbunden, wie im folgenden Abschnitt dargelegt werden soll.
Ohne Politik als von öffentlicher Freiheit und bewusster Gestaltung droht der Gesellschaft in der neuen Welt die despotisme démocratique und eine ökonomisch verengte, unbewusst ablaufende kontingente Entwicklung. Politik als Ausdruck von Freisein der Individuen ist damit die Gegenkraft zu den negativen Potenzialen der égalité des conditions.192 Ist das politische Handeln also gleichbedeutend mit Freisein, so wird es zur Bedingung von Freiheit, und zwar öffentlicher Freiheit als Ausdruck wirklicher Selbstregierung. Aus dauerhaftem und wiederholtem Freisein wird dauerhafte und stabile Freiheit. Die Individuen sind wirklich frei, drücken damit ihr eigentliches Wesen aus, wie Tocqueville es sieht, weil sie sich selbstregieren und sie regieren sich selbst, weil sie frei sind.193 »Action can only be learned in action«194, wie Bruce Smith diesbezüglich festhält. Öffentliche Freiheit bedeutet politische Praxis.195 Politik beschreibt Tocqueville in der politischen Bürgergesellschaft als einen durch bestimmte mœurs stabilisierten und abgesicherten Handlungsmechanismus.196 Der Inhalt und die Substanz der Erfahrungsräume und damit letztendlich das, was sich mit der Zeit in den mœurs sedimentiert, ist Freiheit – Freiheit von Zwängen, denn die einander und vor dem selbst geschaffenen Recht gleichen Menschen regieren sich selbst und ordnen sich aus Einsicht den notwendigen Regierungseinrichtungen unter, deren Besetzung ständig demokratisch ausgetauscht wird. Sie regieren sich selbst, bestimmen ihr eigenes Schicksal und genießen dabei die Unabhängigkeit, welche ihnen aus der égalité des conditions zukommt.197
Das droit d’association198 ist damit in Tocquevilles Reflexion weniger ein Zeichen des ›klassisch-liberalen‹ Misstrauens gegenüber der Macht der Mehrheit, sondern vielmehr die Manifestation öffentlicher Freiheit überhaupt, die eine »genuin politische Freiheit« ist, wie Philippe Chanial feststellt.199 Für Tocqueville ist das klassisch liberale Postulat der persönlichen Unabhängigkeit, nach dem sich das Individuum letztlich aus der öffentlichen Sphäre zurückzieht, die Demokratie daher potenziell unter politischer Apathie leidet und schließlich einzig eine negative Freiheit als Kategorie verschiedener Abwehrrechte existiert, eindeutig zu kurz gegriffen. Seine Einschätzung fällt tatsächlich viel positiver aus. Durch die Erfahrungsräume befruchten sich die Individuen gegenseitig und damit die Gesellschaft als Ganzes. Dadurch bleibt ein demokratischer Gemeinsinn erhalten; Individualismus, Individualität und individuelle Autorität und Unabhängigkeit auf der einen sowie ein Sinn für die Gemeinschaft auf der anderen Seite sind darin vereint.200 Diese hybride öffentliche und private Freiheit ist nicht mehr ein abstraktes Prinzip, sondern ein Wert an sich.201 So ist Freiheit letztlich kaum mehr definierbar und drückt in ihrer Undefinierbarkeit etwas geradezu Menschliches aus. Freiheit so verstanden kann nur wie das Leben selbst gelebt werden: in die Unsicherheit und Ungewissheit hinein. Tocqueville formuliert einen Freiheitsbegriff, nach dem die Individuen nur gemeinsam frei sein können – Isolation und Rückzug, aufbauend auf persönlicher Unabhängigkeit, waren hingegen geradezu Grundlage ihrer öffentlichen Unfreiheit und politischen Apathie.202 Die Struktur der US-amerikanischen Gesellschaft zeigt Tocqueville, dass gerade die organisatorische Fassung als Zusammenhang von selbstverantwortlichen Gemeinden der Vereinzelung und dem Rückzug der Individuen vorbeugt und gerade nicht Isolation der Individuen bedeutet, wie wohl die Sorge in Frankreich herrschte.
5.2.2Die neue politische Wissenschaft
Tocquevilles neue politische Wissenschaft203 beschreibt, so sollte deutlich geworden sein, im Kern und anhand des Beispiels der US-amerikanischen Gesellschaft eine Vision einer politischen Bürgergesellschaft, worin das politische Handeln der Individuen Bedingung der Stabilisierung des gesunden politischen Zustandes von Gleichheit und Unabhängigkeit ist und damit die Grundbedingung von Freiheit und bewussten Gestaltungsspielräumen überhaupt markiert. Es geht Tocqueville nicht um eine Theorie einer guten Regierung, sondern um die Bedingungen einer fortlaufend freien Gesellschaft, die sich der eigenen kontingenten Entwicklung bewusst ist und diese dauerhaft bewusst gestaltet und gerade darin ihre Freiheitlichkeit zeigt. Politik ist damit die Bedingung dafür, dass die Gesellschaft sich der Kontingenz des Fortschritts bewusst bleibt. Nur durch Politik als bewusste Gestaltung der eigenen Entwicklung kann die demokratische Gesellschaft ferner dauerhaft frei bleiben.
Der Kern Tocquevilles politischen Denkens befasst sich mit den »habitualisierten Praktiken (Sitten, Bräuche und Erfahrungsräume) und institutionalisierten Strukturen« der Demokratie, denn diese sind es, »die darüber entscheiden, ob sich die Handelnden als politische Akteure einer Gemeinschaft wahrnehmen können und ob aus Einwohnern Bürger werden«.204 Dabei geht es Tocqueville nicht darum, den Einwohner (bourgeois) als Metapher für den eigeninteressengeleiteten und seinen privaten Angelegenheiten nachgehenden Menschen, ganz im Bürger (citoyen) als dem mit den öffentlichen Angelegenheiten befassten und politisch aktiven Individuum aufgehen zu lassen. Vielmehr ist Tocquevilles Theorie der politischen Bürgergesellschaft der Versuch der Überbrückung und Verbindung der in inhärenter Spannung zueinanderstehenden Sphären von Öffentlich und Privat.205
Deutlich wird, dass die politische Praxis der Individuen Bedingung von Freiheit ist oder anders formuliert, dass das Fehlen eines solchen Handelns zu Despotie führt und Ausdruck einer rein aufs Private eingeschränkten Freiheit ist.206 Darin besteht Tocqeuvilles Intention:
»To point out if possible to men what to do to escape tyranny and debasement while becoming democratic. Such is, I think, the general idea by which my book can be summarized and which will appear on every page.«207
Das Individuum ist insgesamt die zentrale Figur in Tocquevilles politischem Denken.208 Die mœurs sind das Ergebnis politischen Agierens oder Handelns der Individuen in den Erfahrungsräumen, die damit zu den Produzenten der mœurs werden. Sie sind gleichzeitig aber auch ihre Träger, Anwender und Konsumenten.209
Die Dynamik, welche durch das politische Handeln angetrieben wird, sorgt gerade nicht für das ebenfalls mögliche Aufziehen der despotisme démocratique, sondern bildet aufgrund der freiheitlichen mœurs, eine stabile Verbindung von Freiheit und Gleichheit aus. Dieser politische Zustand ist stabil, weil er dynamisch ist und er ist dynamisch, weil die gesellschaftliche Entwicklung politischer Gegenstand und damit kontingent ist. Das ist die Demokratie, wie sie Tocqueville gesehen hat.210 Religion, associations und intérêt bien entendu sind damit Faktoren der Vervollkommnung der Demokratie.211 Tocqueville begreift alle verschiedenen Elemente und Erfahrungsräume als miteinander verknüpft. Alles sind Faktoren der, der politischen Bürgergesellschaft inhärenten, Selbstheilungs- oder vielmehr Abwehrkräfte gegen die Gefahren der despotisme démocratique.212 Auch hier zeigt sich wieder, dass Tocquevilles Begriffsverständnis von Demokratie umfassender ist und deutlich mehr und andere Formen der Beteiligung der Individuen am politischen Prozess inkludiert.213
Das sittliche Gefüge ist Bestandteil des dauerhaften Entwicklungsprozesses und insofern natürlich auch selbst kontingent. Ist die politische Praxis die Grundlage einer demokratischen Gesellschaft in Freiheit und selbst Ergebnis des Handelns in den Erfahrungsräumen, so ist der politische Zustand der Demokratie selbst politisch. Nur weil und nur wenn alles in Bewegung ist, kann die demokratische Gesellschaft stabil und dauerhaft in Freiheit leben. Daran wird unmissverständlich deutlich, dass Politik Grundlage einer stabilen und dauerhaften Freiheit ist. Ohne politisches Handeln der Individuen erlahmt die allgemeine Bewegung und die demokratische Gesellschaft kippt aufgrund ihrer inneren auf der égalité des conditions beruhenden Dynamik um in den Stillstand, die politische Apathie und damit in die Unfreiheit der demokratischen Despotie. Politisches Handeln ist auch die Gewähr für das Kontingenzbewusstsein. Die dynamische und bewusst gestaltete Bewegung der demokratischen Gesellschaft bedeutet dauerhafte Freiheit unter den Bedingungen der neuen Welt. Daher ist politisches Handeln für Tocqueville eine essenzielle Aufgabe214 oder ist eben die »political liberty […] the greatest remedy for nearly all the evils with which equality menaces man«215. Öffentliche Freiheit lässt sich demnach nicht überzeitlich fixieren, kann keine übernormativen (auch im Sinne von unpolitischen) oder metaphysischen Grundlagen haben und ist immer nur als dynamisch zu beschreiben. Diese Entwicklungsoffenheit ist die Grundlage nicht nur einer stabilen und robusten öffentlichen Freiheit, sondern auch notwendig angesichts einer sich rasant entwickelnden und verändernden Gesellschaft.216 Das ist auch der Kern der Erkenntnis, die Tocqueville zwar in Amerika ereilte, die aber darüber hinaus Bedeutung hat – er hat in Amerika eben weitaus mehr als Amerika entdeckt.
»I admit that in America I saw more than America; I sought there an image of democracy itself; its tendencies, its character, its prejudices, its passion; I wanted to know democracy, if only to know at least what we must hope or fear from it.«217
Die Erkenntnis der essenziellen Bedeutung von Politik ist nicht gebunden an die Bedingungen in den USA, sondern an den historischen Prozess der Demokratisierung generell. Das ist der Horizont, in den Tocqueville blickte und der über die USA hinaus- und bis in die heutige Zeit hineinreicht.218 Die US-amerikanische Gesellschaft seiner Zeit ist für Tocqueville demnach ein Beispiel einer demokratischen Gesellschaft, die trotz ökonomischer Betriebsamkeit und eines allgemeinen Strebens nach materiellem Wohlstand die eigene Entwicklung nicht aus den politischen Händen gelassen hat, sondern diese beständig und in allen möglichen Facetten gestaltet. So vermeidet diese demokratische Gesellschaft das Umkippen in von eigentlich vorhandener Gestaltungsfreiheit in Unfreiheit. Nur durch wiederholte bewusste Gestaltung der Entwicklung bleibt das Spannungsfeld erhalten, welches sich aus dem Zusammenbruch ständischer Strukturprinzipien und der damit einhergehenden Unsicherheit der Entwicklung ergeben hat. Und nur in diesem Spannungsfeld besteht wirkliche Gestaltungsfreiheit.
Was passiert, wenn das politische Handeln nur beschränkt stattfinden kann und beschnitten ist, zeigt sich Tocqueville hinsichtlich der Februarrevolution 1848 in Frankreich. Kurz vor deren Ausbruch stellt Tocqueville fest, dass sie zwar noch nicht erkennbar ist, aber sie »steckt schon in den Gemütern«219. Die Interessen der Arbeiter sind, weil sie keinen politischen Raum hatten, nicht mehr politisch, sondern auf die gesamte Gesellschaft bezogen. Das Ziel der Arbeiter ist nunmehr keine neue Regierung, sondern die Zerstörung der bisher bekannten Gesellschaftsstruktur und deren Basis. Tocquevilles Auffassung nach ist die Revolution vielfach auf Regierungshandeln, vor allem aber auf die fehlende politische Einbindung der Gesellschaft als solche zurückzuführen:
»[G]lauben Sie, dass dieses befremdende und geschickte Schauspiel [der Regierung, FB], das mehrere Jahre der Öffentlichkeit dargeboten wurde, auf einer solch großen Bühne, vor der ganzen Nation, die es beobachten konnte, glauben Sie, dass solch ein Schauspiel dazu angetan war, die öffentlichen Sitten zu bessern?«220
Der Grund der Revolution liegt demnach in den mœurs. Dieses theatralische Regierungshandeln und das fehlende substanzielle politische Handeln der Individuen sorgten für Tocqueville gerade nicht für ein stabilisierendes sittliches Gefüge, sondern machten die Revolution wahrscheinlich.
Was beispielsweise die historischen Folgen der Februarrevolution 1848 in Frankreich sein werden, ob öffentliche Freiheit oder despotisme démocratique prägend sein werden, wie Tocqueville hinsichtlich der zivilisierten Welt fragt, ist demnach abhängig davon, was die demokratische Gesellschaft selbst daraus macht. Es ist dies die Sichtweise auf die Geschichte eines Sohnes einer französischen Aristokratenfamilie, die auch mit Glück die Zeit des terreur der Französischen Revolution überlebte, der die Zeit der Restauration erlebt, wiederum Zeuge ihres Zusammenbruchs und bald des napoleonischen Staatsstreichs 1851 werden wird. Erstaunlicherweise verteufelt Tocqueville vor diesem historischen Hintergrund die égalité des conditions nicht, sondern steht ihr nüchtern gegenüber, erkennt Schwächen als auch Potenziale. Während in Europa seit der Französischen Revolution beständig Unsicherheit, Krieg und ein Kampf der Systeme herrscht, sind die Vereinigten Staaten demgegenüber der einzige Staat, der trotz Demokratisierung Ruhe und Frieden genießt.221 Das stellt Tocqueville im Vorwort zur zwölften Auflage der De La Dèmocratie En Amérique fest und sieht damit natürlich über einige Entwicklungen großzügig hinweg. Aus diesem Grund und als Positivbeispiel interessieren sie ihn, denn daran kann er zeigen, dass gerade in der demokratischen Gesellschaft ein rationales Interesse an Politik erwachsen kann und eine allgemeine Sittlichkeit auszuprägen in der Lage ist, aus der wiederholt politisches Handeln und bewusste Gestaltung hervorgehen können. So kann die Gestaltungsfreiheit der neuen Welt und ein Bewusstsein der eigenen Entwicklungskontingenz organisiert und damit dauerhaft erhalten werden.222 Außerdem dient es ihm als Modell und damit auch als Ausweg aus dem Dilemma, dass unpolitische Individuen Erfahrungsräume politischen Handelns brauchen, um politisch zu werden und woher solche Erfahrungsräume kommen sollen. Die USA sind ein Modell, wie es gehen kann und von dem praktische Erfahrungen abzuschauen möglich ist.223 Als Beispiel sind sie damit zugleich auch mindestens ein gewichtiger Teil der Antwort auf die Frage der künstlichen Herstellung einer natürlichen (glücklichen) Fügung, die in den USA vorhanden war.224 Tocqueville ist sich der Schwierigkeit bewusst, die institutionelle Ordnung der USA zu übertragen. Weder diese noch der gesellschaftliche Geist, der dahinter zu erkennen ist, lassen sich synthetisieren. Nichtsdestoweniger bleibt außer dem Versuch der Implementierung erreichbarer Erfahrungsräume von Politik und damit der Erfahrung von Freisein keine Alternative für die öffentliche Freiheit der Individuen, ihre Fähigkeit zur Selbstregierung und der dauerhaften politischen Gestaltung angesichts der Demokratisierung, welche die neue Welt kennzeichnet.