3.Demokratische Revolution
Tocquevilles Analyse
3.1Demokratische Revolution als historische Entwicklung
Worin für Tocqueville die Quelle der historischen Entwicklung liegt und wie sie sich für ihn ausprägt, ist Bestandteil dieses ersten Abschnitts. Es soll dabei seiner historischen Analyse des Antriebes der bisherigen gesellschaftlichen Entwicklung gefolgt werden. Tocqueville ist bezüglich der Triebkräfte der Entwicklung eindeutig: »A great democratic revolution is taking place among us; everyone sees it, but not everyone judges it in the same way.«1 Der Prozess der Demokratisierung ist letztlich der Grundgedanke, der Tocquevilles Denken und auch seinem Opus magnum der De La Démocratie en Amérique zugrunde liegt.2 Auf der Demokratisierung aufbauend, erkennt Tocqueville bestimmte Folgen für die Erscheinung der Gesellschaft. Im Folgenden soll also erstens dargestellt werden, wie Tocqueville den Prozess der Demokratisierung beschreibt und zweitens, welche Folgen sich daraus aus seiner Sicht für die Gesellschaft ergeben.
Er sieht in der gesellschaftlichen Entwicklung, die er hier als große demokratische Revolution bezeichnet, einen Prozess zunehmender Gleichheit beziehungsweise des Fortschritts der égalité des conditions (Gleichheit der Bedingungen). Diesen Prozess begreift Tocqueville als unaufhaltbar. Die Lebensbedingungen der Individuen gleichen sich immer mehr einander an oder entgegengesetzt formuliert: Es ist ein Prozess der nachhaltigen Zurückdrängung und Eliminierung ständischer Hierarchien, Ungleichgewichte und struktureller Vorteile.3 Es ist ein Prozess des Rückganges der Bedeutung der Herkunft. Treiber oder »levelers«4 waren laut Tocqueville sowohl Monarchen als auch der Adel, und zwar immer in der Intention, die Macht des jeweils anderen Akteurs zu unterminieren. Die Demokratisierung ist damit eine historische Bewegung, die sich in unterschiedlichsten Ereignissen findet, und so konstatiert Tocqueville entsprechend zusammenfassend: »When you skim the pages of our history you do not find so to speak any great events that for seven hundred years have not turned to the profit of equality.«5 Es war demnach nicht erst die Französische Revolution, welche diesen Prozess auslöste, obgleich Tocqueville darin einen historischen Katalysator dessen sah.6 Gerade die moeurs (Sitten) sind dabei zentral: »[B]y this word I understand the whole moral and intellectual state of a people.«7 Es gibt nach Tocquevilles Verständnis Prozesse, die auf die mœurs und habitudes (Gewohnheiten) der Menschen einwirken und dort für die zunehmende Erosion der Struktur der aristokratischen Gesellschaft sorgen. Darunter fällt die Reformation, die philosophischen Arbeiten der Aufklärung und andere Entwicklungen.8 Darin besteht grundsätzlich das Verständnis von gesellschaftlichem (auch revolutionärem) Wandels und gesellschaftlicher Entwicklung Tocquevilles. Die genannten Ereignisse und Prozesse wirken auf den état social (Gesellschaftszustand oder einfacher: die Gesellschaft) ein und verändern dort langsam mœurs und habitudes. Ein veränderter état social bedingt dann ein Missverhältnis zum bestehenden état politique (politischer Zustand oder einfacher: die politische Verfasstheit einer Gesellschaft). Der état politique gleicht sich an oder wird daher dem état social nach und nach assimiliert.9 Geschichtliche Veränderungen beginnen demnach aus dieser Perspektive immer im Bereich der Ideen, Gewohnheiten und Sitten.
Die Gleichheit ist von Tocqueville als das zentrale Merkmal der neuen Welt beschrieben worden. »Equality forms the distinctive characteristic of the period.«10 Als solche ist sie im état social derart verankert, dass nur ein ungeheurer Aufwand von Gesetzesänderungen oder der Ablegung zentraler Gewohnheiten imstande wäre, um sie auszulöschen. Die Freiheit zu verlieren, das wird in den folgenden Abschnitten deutlich werden, bedarf hingegen nicht mehr, als sie fest genug zu halten. Aus der égalité des conditions gehen überall und ohne direktes Zutun der Individuen immerfort kleine Wohltaten und Genüsse hervor. Das ganze Privatleben ist davon durchdrungen. Entsprechend kommt der Genuss schlicht durch das Leben und ohne Opfer. Die Attraktivität der Gleichheit ist daher jederzeit bemerkbar und zugänglich. »So the passion to which equality gives birth has to be at the very same time forceful and general.«11
Die Welt, wie sie aus dem Prozess dieser ›demokratischen Revolution‹ oder der Demokratisierung hervorgeht und durch das zentrale Merkmal der égalité des conditions geprägt ist, ist eine gänzlich neue Welt, wie Tocqueville es ausdrückt. Es ist eine Welt, in der nicht nur Herrschaft und Regierung, sondern sämtliche Sozialbeziehungen umgeformt werden. Die neue Welt ist damit keine geografische Bezeichnung für das Land zwischen Atlantik und Pazifik, sondern ist vielmehr ein Ausdruck für das historische Ergebnis der Demokratisierung: eine Gesellschaft, in der alle traditionell-ständischen Bedingungen eliminiert, die Beziehungen und die gesamte individuelle Lebensführung hingegen durch die Gleichheit geprägt sind. Diese neue Welt bedarf einer neuen politischen Wissenschaft.12
Auffällig ist, dass Tocqueville den Begriff der Demokratie in einer eigenen Offenheit oder Vieldeutigkeit nutzt.13 Demokratie muss daher bei Tocqueville als Bezeichnung komplexer Zusammenhänge gesehen werden.14 Die demokratische Revolution ist ein Prozess, der alte Privilegienstrukturen zuerst unterminiert und letztlich vollends eliminiert. Durch die Demokratisierung können sich die Individuen einer persönlichen Unabhängigkeit erfreuen und in ihren Privatangelegenheiten frei agieren, und zwar, weil sie einander gleich sind und es keine strukturellen Ungleichheiten oder Hierarchien mehr gibt.15 Dieser Zustand beschreibt damit eine Situation oder ein gesellschaftliches Arrangement individueller Unabhängigkeit – niemand ist anderen strukturell vor- oder nachgeordnet, wie das in aristokratischen Gesellschaften noch der Fall war und alle haben (mindestens theoretisch) die gleichen Möglichkeiten und können ihr Leben nach eigenen Vorstellungen einrichten, ohne dabei an eine bestimmte und vorgegebene gesellschaftliche Ordnung gebunden zu sein. Die Individuen sind an Rechten gleich und alle Träger der Volkssouveränität. Außerdem haben alle, abgesehen ihrer physischen Unterschiede, die gleichen Chancen zu wirtschaftlichem Erfolg. Es gibt nicht länger irgendwelche Klassen, und selbst Reste solcher sind aufgrund der einsetzenden Mobilität derart instabil, dass damit automatisch eine gesellschaftliche Machtposition einhergeht.16 Die Gleichheit, die Tocqueville hier meint, ist weniger absolut zu sehen, sondern eher strukturell. Sie zeigt sich weniger beim einzelnen Individuum, sondern im Sich-in-Beziehung-Setzen mit anderen.17 Den Individuen der demokratischen Gesellschaften ist es, basierend auf der égalité des conditions und der daraus resultierenden persönlichen Unabhängigkeit, erstmals möglich, ihr Leben nach eigenen Maßstäben zu gestalten. Das ist die neue Welt.18
Neben der égalité des conditions gibt es in Tocquevilles Werk ein anderes großes Thema, die Freiheit, das andere essenzielle Motto der Französischen Revolution. Freiheit bestand seiner Wahrnehmung nach bereits in verschiedenen Formen zu anderen Zeiten und in anderen Formen. Der bestimmte und hervorstechende Wert der neuen Zeit ist die persönliche Unabhängigkeit.19 Diese persönliche Unabhängigkeit ist dabei Ausdruck der égalité des conditions. Gibt es keine ständische oder feudale Unterordnungsverhältnisse mehr, sind sich die Individuen einander also tatsächlich gleich, dann sind sie persönlich unabhängig voneinander. Aus dieser Perspektive ist eben die égalité des conditions der »premier fact«20 Tocquevilles Werk, wie Sheldon Wolin anmerkt. Gleichheit ist für Tocqueville eine vergleichende Kategorie, nur so kann sie als Beschreibung des fortschreitenden Prozesses der Demokratisierung dienen. So ist die US-amerikanische Gesellschaft von einer größeren Gleichheit gekennzeichnet als die französische vor der Revolution, um ein Extrembeispiel zu nennen.21 Freiheit hingegen versteht Tocqueville anderweitig, nämlich als Wert an sich, der nur als solcher und aus der Erfahrung heraus zu fassen ist.22 Freiheit bedeutet demnach das Fehlen von Zwängen und bedingt damit sowohl individuelle Unabhängigkeit als auch den Zugang zu, aber auch das Wahrnehmen der Möglichkeit der Selbstregierung. Freiheit geht in Tocquevilles Verständnis über persönliche Unabhängigkeit, die Ausdruck der égalité des conditions ist, hinaus und ist nicht synonym damit.23
Obgleich er sich in seinem Werk, wie sich später zeigen wird, durchaus kritisch mit der égalité des conditions auseinandersetzt, begegnet er dieser schicksalhaften Entwicklung – dieser fait providentiel (Tatsache der Vorsehung)24 – nicht mit totaler Ablehnung. Gleichzeitig ist er allerdings angesichts der Vehemenz der Entwicklung auch nicht naiv-euphorisch. Die Entwicklung der égalité des conditions nennt Tocqueville zwar ein Zeichen göttlichen Willens und insofern unausweichlich. Dennoch darf sein Verständnis nicht als ein deterministisches Geschichtsbild gesehen werden.25 Er begreift die Entwicklung der égalité des conditions, also die Demokratisierung, als eine Bewegung, die zwar über alles hinwegfegt, aber nicht alles festlegt. Die Demokratisierung sei demnach an sich bereits unaufhaltbar, aber dennoch noch nicht zu stark, nicht mehr gestaltbar zu sein. Die weitere Entwicklung der Gesellschaft ist noch nicht vollständig vorprogrammiert, sondern noch in gewissen Maßen gestaltbar.26 Der Prozess der Demokratisierung setzt die demokratische Gesellschaft einem endogenen und semioffenen Prozess aus.
»Die Vorsehung […] zieht um jeden Menschen einen Schicksalskreis, dem er nicht entrinnen kann; aber innerhalb dieser weiten Grenzen ist der Mensch mächtig und frei; so auch die Völker.«27
Die Demokratisierung sei zwar unausweichlich und göttlichen Willens, doch deswegen ist das Schicksal der Gesellschaft nicht vollständig festgelegt und durch eine schlichte Prophezeiung vorherzusehen. Darin drückt sich Tocquevilles Sichtweise aus, dass durch den Prozess der Demokratisierung die Gesellschaftsordnung und die gesellschaftliche Entwicklung kontingent geworden sind. Die Befreiung aus der Zeit des Feudalismus und der ständischen Ordnung ermöglicht Gestaltungsfreiheit innerhalb eines Rahmens, der durch die Demokratisierung selbst gesteckt ist. Anders ausgedrückt, gibt es innerhalb des Schicksals der Demokratisierung dennoch verschiedene Schicksale. Der Gestaltungsraum ist ein Spannungsfeld kontingenter Möglichkeiten. Die gesellschaftliche Realität ist für Tocqueville nie axiomatische Tatsache, sondern immer komplexes und kontingentes Ergebnis individuellen Handelns, sei es sich der Gestaltungsmöglichkeiten bewusst oder nicht beziehungsweise sei es ein die gesellschaftliche Entwicklung bewusst oder sich des Spannungsfeldes nicht bewusst.28
Tocqueville entfernt sich damit von der polit-philosophischen Tradition der normativen Konstruktion.29 Es geht ihm also nicht um das idealistische oder rein kontemplative Entwerfen politischer Ideen, sondern er entwickelt ein Verständnis von moderner Demokratie als Zusammenspiel aus den beobachtbaren état social und état politique, das einem anhaltenden Entwicklungsprozess ausgesetzt ist, vor dem Hintergrund der Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse.30 John-Stuart Mill schreibt über seinen Zeitgenossen entsprechend, dass er der erste sei, der die Demokratie als etwas Übergreifendes und in der Realität, nicht bloß gedanklich oder abstrakt Vorhandenes analysierte. Die Demokratie sei für Tocqueville durch zahlreiche Eigenschaften und nicht nur durch eine einzige gekennzeichnet.31 Damit stellt sich eine zentrale Frage, worin der Entwicklungsprozess der Demokratie mündet oder münden kann, und zwar in Abhängigkeit des Bewusstseins um das sich auftuende Spannungsfeld oder eben in Abhängigkeit der Existenz eines Kontingenzbewusstseins oder dessen Fehlens. Die gesellschaftliche Entwicklung sieht Tocqueville nicht als automatische oder natürliche Fortschreibung von Werten wie Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Vielmehr ist er sich der Möglichkeit von Brüchen, Eruptionen oder Sprüngen innerhalb dieser Entwicklungen bewusst.32 Er verzichtet daher auf die Modellierung dieses Prozesses in der Hoffnung, daraus belastbare Prophezeiungen ableiten zu können. Es gibt schlicht zu viele und unmöglich vorhersehbare Einflüsse. Das Schicksal demokratischer Gesellschaften ist eben innerhalb eines Rahmens kontingent. Daher kalkuliert Tocqueville also mit nichtintendierten Folgen des Prozesses und formuliert eine »Theorie der Einflüsse«33, wie Hubertus Buchstein und Siri Hummel es nennen, um diese nichtintendierten Folgen mit in Betracht nehmen zu können.
Er inkludiert Spielräume und verschiedenen Eingriffsmöglichkeiten in seinen Blick auf die Demokratie als état social und als état politique. Obgleich es also sicherlich erwünschte Wege gibt, in die diese Entwicklung einmünden kann, ist auch möglich, dass Wege beschritten werden, an deren Ende sich etwas einstellt, dass sich als eigentlich unerwünscht oder eben nicht-intendiert herausstellt.34 Das Schicksal der Gesellschaft ist nicht vorherzubestimmen. Tocqueville beschreibt die Entwicklung als ein komplexes Zusammenspiel von historischen Bedingungen, gesellschaftlichen Institutionen und Praktiken, Sitten sowie individuellen Einsichten und Bewusstsein.35 Rückkopplungen und Wechselwirkungen innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung sind von Tocqueville immer mitgedacht.
Die Wirkung der Demokratisierung auf die Gesellschaft beschreibt Tocqueville als soziale Erfahrungen, die Individuen mit der égalité des conditions machen. Diese sozialen Erfahrungen wiederum wirken auf die mœurs, habitudes sowie die croyances semblables (gemeinsame Ideen und Vorstellungen) der Individuen. Sie verändern und bedingen demnach den état social. Dabei ist wichtig zu betonen, dass Tocqueville auch darin kein deterministisches Verständnis von gesellschaftlichem Wandel oder der gesellschaftlichen Entwicklung ›versteckte,‹ sondern darin vielmehr ›Mechanismen‹ zu finden sind.36
Mechanismen bringen, so das hier zugrundeliegende Verständnis, als Arrangement bestimmter Zusammenhänge wahrscheinlich bestimmte Ergebnisse hervor, weil sie auf bestimmte Weise angerichtet sind.37 Die individuellen Handlungen sind daher von zentraler Bedeutung, da die Mechanismen darin passieren und die Handlungen damit eigentliches Schwungrad der Bewegung der Gesellschaft sind.38 Beziehungsweise ist es das individuelle Handeln, das, in einen bestimmten Handlungsmechanismus oder Handlungszusammenhang gestellt, das Resultat dieses Mechanismus hervorbringt. Die Erfahrungen sind für Tocqueville dabei keine theoretischen Variablen dieser Mechanismen, sondern ergeben sich aus seiner Beobachtung der Demokratisierung und deren Auswirkungen in der demokratischen Gesellschaft.39 Die verschiedenen sozialen Erfahrungen werden im nächsten Abschnitt genauer beleuchtet.
3.2Die verschiedenen Erfahrungen mit der Demokratisierung
3.2.1Macht der Mehrheit
In einer Gesellschaft, in der die einzelnen Individuen einander gleich sind, woher kommen dort Ansichten, Vorstellungen und Meinungen? Selbst wenn sich nicht alle vollständig in ihren Geisteskräften gleichen, der Gedanke der Gleichheit aber maßgeblich ist, wird Ungleichheit dahingehend schlicht nicht akzeptiert. Die wahrgenommene Gleichheit eines Individuums mit allen anderen ist für jedes Individuum in demokratischen Gesellschaften total. Es würde der Gleichheit fundamental widersprechen, wenn Annahmen und Meinungen von einzelnen Individuen formuliert und von allen anderen akzeptiert würden. Es wäre geradezu die öffentliche Anerkennung einer Superiorität und wäre entsprechend widersprüchlich zur Vorstellung von Gleichheit. Deutlich wird, dass die Totalität der Gleichheit nur in der individuellen Wahrnehmung eine Rolle spielt. Tocqueville ist sich bewusst, dass die égalité des conditions nicht total sein kann. Er betont daher gerade den für ihn neuen Umstand, dass sich Individuen trotz bestehender einzelner Ungleichheiten als einander gleich anerkennen.40 Hier drückt sich nochmals aus, dass und wie die Demokratisierung die sozialen Beziehungen insgesamt beeinflusst. Die égalité des conditions wird Grundlage der individuellen Positionierung und Selbstwahrnehmung in allen sozialen Beziehungen, und das uneingeschränkt.
Die égalité des conditions wirken direkt auf die Individuen in einer besonderen Weise. Tocqueville beschreibt die Amerikaner als hinsichtlich der Geisteshaltung oder ihrer individuellen Weltsicht sehr ähnlich: Sie suchen in sich selbst nach den Gründen und verlassen sich in fast allen Denkprozessen auf die eigene Vernunft.41 Sie sind sich also selbst erste Quelle für Erkenntnisse und Überzeugungen. Für ihn ist dies eine unmittelbare Folge der égalité des conditions, denn in einer dadurch gekennzeichneten Gesellschaft gibt es kaum eine geistige Größe mit genügend Autorität, um den einzelnen Individuen ihre Gedanken zu oktroyieren. Ihnen bleibt nur ihr eigene Vernunft als Quelle von Überzeugungen und angenommenen Wahrheiten.42 Die Interpretation und Erklärung der Welt kommt demnach von jedem Individuum mehr oder minder selbst. Aus diesem Grund schreibt Tocqueville, dass die US-amerikanische Gesellschaft vom Denken Descartes durchdrungen, dieses zugleich aber wohl kaum studiert ist.43 Es gibt kaum generationenübergreifende Verbindungen noch gesellschaftlich herausragende Einzelpersönlichkeiten oder gesellschaftlich-religiöse Hierarchien, die weitreichende und mit historischer Autorität auftretende Wissensbestände konstituieren könnten. Die Individuen sind daher auf sich selbst angewiesen. Sie sind sich selbst erste Autorität und wichtigster Orientierungspunkt. So gesehen ist die égalité des conditions überhaupt gleichbedeutend mit einer starken Bedeutungszunahme der eigenen Vernunft und damit auch des Individualismus,44 wie später noch deutlich wird. Mit der Bedeutungszunahme der Vernunft gewinnt auch der individuelle Zweifel an Gewicht. Je mehr sich die Individuen ihre Welt selbst erschließen, desto mehr Zweifel kommen an vermeintlich überzeitlichen Tatsachen auf. Der Zweifel erscheint dabei auf dreifache Weise: persönlich, politisch und theoretisch. Die cartesianische Denkweise ist eine Energie, die beständig die fundamentalen Gewissheiten der Individuen, die doch aber für die individuelle Zufriedenheit so essenziell sind, zu untergraben in der Lage ist.45 Daneben kann der Zweifel Unglauben schaffen und damit die Stützen der traditionalen Gesellschaftsordnung unterminieren. Sie ist damit ein Hauptgrund gesellschaftlicher Instabilität. Zuletzt ist der Zweifel Grundlage neuer Theorien, welche diesen neu einzufangen versuchen beziehungsweise der Welt neue Gewissheiten ermöglichen wollen.46
Es gibt kaum eine gemeinsame Wahrheit mit einem politischen Wert, weil niemand eine solche kennt oder auch nur für sich beanspruchen könnte, ohne dabei das Prinzip der Gleichheit zu verletzen. Einzig, was die Individuen für sich selbst denken, ist evident. Als Gegenmacht zum allgemeinen Zweifel bleibt nur die Mehrheit: »[I]n democracies, nothing of the majority can offer resistance.«47 Der Mehrheit kommt eine gesellschaftliche Macht zu, die für Tocqueville weit über die Macht absoluter Monarchen hinausgeht. Sie basiert auf dem Gedanken: »[T]here is more enlightment and wisdom in many men combined than in one man alone.«48 Außerdem gilt laut Tocqueville in demokratischen Gesellschaften auch, dass das Interesse der großen Zahl dem der kleineren immer vorgeht. Der Umkehrschluss ist bitter, bedeutet er doch, dass die Minderheit Unrecht oder eine falsche Einsicht, sicher aber nicht das maßgebliche Interesse hat. Sie wird sich daher zunächst nur sehr widerstrebend der Mehrheit unterordnen. Die Macht der Mehrheit braucht daher besonders die Gewöhnung. Dem anfänglichen Zwang folgt allerdings irgendwann die stille Anerkennung der Mehrheit, und zwar mit dem Hintergedanken, selbst zur Mehrheit kommen zu können und dann die Unterordnung der Minderheit ebenfalls zu erwarten.49 Hier zeigt sich ein erstes Mal, dass und wie Tocqueville Gesellschaft als etwas Dynamisches beschreibt. Gewöhnung hat etwas mit Wiederholung zu tun und Wiederholung bedeutet Bewegung. Die Macht der Mehrheit basiert nicht einfach auf dem theoretischen Gedanken der kollektiven Rationalitätssteigerung, sondern maßgeblich auf der Einsicht, dass Unterordnung unter die Mehrheit heute gleichbedeutend ist mit der Chance, morgen selbst die Mehrheit bilden zu können.
Das im Vergleich zur absoluten Monarchie Spezifische und Neue der Macht der Mehrheit als sittliche Macht zeigt sich in ihrem Einfluss auf das individuelle Denken. Kein Monarch und auch nicht die Kirche vermochten es etwa in der Geschichte, umstürzlerische Gedanken zu unterbinden. Über die Folter des Körpers oder das Einsperren des Gedankenträgers obsiegte dennoch immer die Idee oder der Gedanke. Kein herrschender Akteur vermochte bisher die Macht der Gesellschaft in sich zu vereinen. Erst die Mehrheit in der Demokratie hat die sittliche Macht, die ihr aus der Gesellschaft und der Gleichheit zukommt, auf das Denken direkt einzuwirken. Sie wirkt auf den einzelnen Willen, wie auf das individuelle Handeln und sie hemmt zugleich nicht nur die Tat, sondern auch den Wunsch zu handeln.50 Die Mehrheit, so notiert es Tocqueville an einer Stelle, zieht um alle Individuen einen festen Kreis. »Within these limits, the writer is free; but woe to him if he dares to go beyond them.«51 Was für die Schriftsteller im Besonderen gilt, gilt letztlich für alle Individuen generell. Dies ist die sittliche Macht der Mehrheit als öffentliche Meinung, wie sie auf das Denken, Fühlen und damit letztlich auf das Handeln aller Individuen wirkt. Die Quelle der sittlichen Macht der demokratischen Gesellschaft liegt in der jedem Individuum eigenen Vernunft, also in der allgemeinen Vernunft.52
Die Möglichkeit der freien Rede und Meinung nimmt für Tocqueville dabei eine zentrale Funktion ein, und zwar nicht nur für die Artikulation von Zweifeln am Bestehenden, sondern auch für die Konsolidierung der Macht der Mehrheit. Zunächst wird durch die Rede- und Meinungsfreiheit der bestehende Kanon an Überzeugungen infrage gestellt, aber über die Zeit, bemerken die Individuen, dass es niemanden gibt, der überzeugende Antworten auf grundsätzliche Fragen, etwa die Existenz von Gott oder nach dem Leben nach dem Tod, anbieten kann. Das führt dazu, dass die Individuen sich zunehmend auf ihre eigene Meinung zurückziehen, die jedoch unter dem Einfluss der Mehrheitsmeinung steht. Alle orientieren sich daran, wozu auch jeder andere potenziell zustimmen könnte; damit ergibt sich eine öffentliche Überzeugung. Insbesondere hinsichtlich der Grundannahmen der christlichen Religion, ist damit aber auch dem Fundamentalismus Tür und Tor geöffnet.
Doch für den Zusammenhang von Zweifel und Vernunft, also die cartesianische Denkweise, gibt es auch eine Grenze, wie Tocqueville feststellt: »If man was forced to prove to himself all the truths that he uses every day, he would never finish doing so.«53 Kein Individuum kann intellektuell vollkommen frei und unabhängig sein, sondern es bedarf auch aus der Perspektive der Zeit- und Ressourcenknappheit hinsichtlich einer doch über das Individuen hinausgehenden Autorität.54 Trotz oder gerade wegen der größeren persönlichen Unabhängigkeit der einzelnen Vernunft wird eine erneute Beschränkung dieser nötig. Die Notwendigkeit macht also, dass die Menschen doch gewisse Dinge annehmen, ohne sie selbst untersucht oder verifiziert zu haben. Aufgrund der égalité des conditions können solche Ansichten und Überzeugungen nur von der Mehrheit kommen, sie ist die einzig verbliebene mögliche Autorität, die nicht mit dem Gedanken der Gleichheit bricht.55
Von der Mehrheit der Individuen kommen dem einzelnen Individuum also Annahmen und Sicherheiten zu, worauf jedes Individuum die eigenen Gedankenkonstrukte aufbaut.56 Diese croyances semblables (gemeinsame Überzeugungen) sind das Fundament einer jeden Gesellschaft als Sozialkörper.57 Auf der einen Seite haben die Individuen eine hohe Meinung über die menschliche Vernunft allgemein, die letztlich einzig verbleibende Quelle von Erkenntnis sein kann. Auf der anderen Seite liegt die Wahrheit dann immer auf der Seite der größten Anzahl.58 Mehrere vernünftige Menschen werden als einsichtiger und weiser als wenige wahrgenommen.59 Die Gleichheit, die das Individuum von allen anderen unabhängig macht, liefert es allein und ohne wirksame Verteidigung der Mehrheit aus.60 Individuelle Autorität und gesellschaftliche Macht der Mehrheit sind also zwei Seiten einer Medaille. Somit verursacht die Gleichheit letztlich die paradoxe Folge unabhängiger und emanzipierter Individuen, die zugleich in der größeren Zahl eine neue und sogar stärkere Autorität finden. Größere Unabhängigkeit macht zugleich eine erneute Einschränkung dieser Freiheit notwendig.61 Diese Einschränkung wird verkörpert durch die sittliche Macht der Mehrheit als der neuen Autorität der demokratischen Gesellschaft, welche unzweifelhaft unabhängiger gewordene Individuen dennoch einem neuen Konformitätsdruck aussetzt.62 Damit hält auch eine gewisse Konservativität oder schlimmer sogar Stagnation Einzug in die Gesellschaft. Denn dass die Mehrheit innovative Ideen annimmt oder vertritt, ist angesichts ihrer Behäbigkeit eher unwahrscheinlich. Noch unwahrscheinlicher ist es allerdings, dass einzelne Individuen mit neuen Ideen durchdringen.63
Doch in demokratischen Gesellschaften hat die Mehrheit auch politische Macht, die ihr unabhängig ihrer sittlichen Macht zukommt; beide sind voneinander durchaus getrennt. Die Mehrheit ist es nämlich, der die gesetzgebende Gewalt willfährig folgt.64 Durch die unmittelbare Wahl geht die Zusammensetzung der gesetzgebenden Gewalt aus den Mehrheitsverhältnissen in der Gesellschaft hervor; sie ist Abbild der gesellschaftlichen Mehrheitsverhältnisse. Da sie zusätzlich auch nur für eine kurze Frist gewählt ist, fürchtet Tocqueville, dass sie gezwungen ist, nicht nur hinsichtlich der allgemeinen Ansichten, sondern auch gemäß der allgemeinen Leidenschaften zu agieren.65
Dazu kommt, dass Tocqueville einen Mangel an politischen Talenten beobachtet und diesen wiederum auf die égalité des conditions zurückführt. In einer Gesellschaft, die eher durch mittelmäßige Vermögen gekennzeichnet ist, wie Tocqueville das in den USA beobachtet, fehlt vielen Individuen angesichts der eigenen Geschäfte schlicht die Zeit erstens zur tiefgründig überlegten Auswahl. Außerdem ist es nur schwer möglich, dass sich in der Gesellschaft herausragend politisch talentierte Individuen zeigen. Drittens ist auch die Entwicklung politischer Talente erschwert. Die individuelle Disposition treibt die Individuen der demokratischen Gesellschaft immer eher zu neuem Streben nach ökonomischen Erfolgen und weniger zu politischer Tätigkeit. Der demokratischen Gesellschaft, in der jedes Individuum für sich die eigenen Geschäfte lenkt und davon nahezu vereinnahmt ist, fehlt beständig die Zeit zu tiefsinnigen Abwägungen; ständig muss es in großer Eile Entscheidungen fällen.66 Die ökonomische Abkömmlichkeit des Individuums ist laut Tocqueville auch die Ursache dafür, dass der Verständnisfortschritt und die individuelle Aufklärung gehindert sind.67 Eine Gesellschaft also, in der die Individuen mehr arbeiten müssen oder wollen, um einen eigenen Wohlstand zu produzieren oder zu erhalten, wird weniger geistige Hochbildung erleben. Das führt dazu, dass viele die art de juger (Kunst der Beurteilung) nur mittelmäßig beherrschen. Dabei spricht Tocqueville den Individuen, selbst der breiten Masse gar nicht ab, dass diese ehrlich das Beste für das Land und die gesamte Gesellschaft anstreben.68 Tocquevilles Meinung nach fehlen aber der US-amerikanischen und letztlich jeder demokratischen Gesellschaft herausragende Persönlichkeiten, die mit einer hohen Bildung ausgestattet, politisch weit zu blicken in der Lage sind und von deren politischen Führung daher eine qualitativ hochwertige Regierungspolitik zu erwarten ist. Die ursprünglich aus dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg hervorgehenden großen Persönlichkeiten sterben laut Tocqueville immer mehr aus.69 Demokratische Gesellschaften sind demnach mediokre Gesellschaften, was allerdings keine Bewertung, sondern schlichte Feststellung ist. Dies ist dennoch ein Einfallstor für charlatans (Scharlatane), die wissen, wie man mit den Wünschen und Ängsten der Menschen spielt, um selbst die Macht zu erlangen.70
Dabei ist es nicht die fehlende Kompetenz zur Auswahl solcher ›Staatsmänner‹, sondern vielmehr haben die Individuen kaum den Wunsch danach und ein Interesse daran.71 Daneben nennt Tocqueville den Neid, der Individuen daran hindert, diejenigen in die politischen Ämter zu bringen, die dazu am besten geeignet sind. Da alle gleich sind, sind auch alle gleich geeignet und damit kann niemand mehr geeignet sein als ein anderer und wenn, kann das niemandem zugestanden werden.72 Gleichzeitig stößt das politische Geschäft befähigte Personen geradezu ab, weil sie kaum sie selbst bleiben können und sich eher herabwürdigen müssen, um überhaupt vorwärts zu kommen.73 Die politische Macht wird in demokratischen Gesellschaften immer angezweifelt, denn sie bedeutet, dass jemand, der gestern Gleicher unter Gleichen war, heute primus inter pares ist; politische Macht ist so gesehen durchaus unangenehm zu nennen und erscheint weniger als Privileg, denn als Bürde.74 Generell beobachtet Tocqueville, dass die ökonomische Unabkömmlichkeit generell das Selektionskriterium ist und weniger die individuelle Qualifikation oder die Wahl. Es sind eben nicht alle und schon gar nicht alle gleich darauf aus, eine öffentliche Stelle zu bekleiden.75 Dies gilt dann auch nicht nur für politische Ämter, sondern auch für die Verwaltungsstellen, die durch Wahl besetzt werden. Tocqueville bemerkt zusammenfassend: »This simplicity of those who govern is due not only to a particular turn of the American spirit, but also to the fundamental principles of the society.«76 Die demokratische Gesellschaft geht demnach mit einer gewissen Mediokrität einher.77
Gleichzeitig steigert die politische Macht der Mehrheit die ohnehin bestehende Unbeständigkeit demokratischer Gesetzgebung, die laut Tocqueville ihrerseits ein strukturimmanentes Übel ist und auf dem wiederholten sowie häufigen Wechsel in der Legislative beruht.78 Doch nicht nur die Gesetze selbst, sondern auch deren Anwendung unterliegen dem demokratie-immanenten Wandel, der auch die Exekutive beständig austauscht. Da in demokratischen Gesellschaften die Mehrheit die einzige Macht ist, der zu gefallen wichtig ist, ist die Beteiligung an ihren Unternehmungen besonders rege. Sobald sich die Mehrheit jedoch einer anderen Sache zuwendet, schwenkt auch die Gesellschaft nahezu komplett auf diese neue Sache ein.79 Darin liegt für Tocqueville eine Begründung für eine gewisse demokratische Unstetigkeit.
Konkreter Ausdruck der Macht der Mehrheit ist das Prinzip der Volkssouveränität.80 Es ist laut Tocqueville das erste Prinzip:
»The people feel its popular origin and obey the power from which it emanates. The people rule the American political world as God rules the universe. They are the cause and the end of all things; everything arises from them and everything is absorbed by them.«81
Nicht grundlos erscheint darin auf mehr oder minder subtile Weise ein Vergleich zu einem typischen Ausspruch von Trauer christlicher Bestattungen: ›Aus der Erde sind wir genommen, zur Erde kehren wir zurück.‹ Dies soll zum einen den Kreislauf allen Lebens, die Verbundenheit von allem mit allem und zuletzt auch die göttliche Macht darin betonen. Hinsichtlich des Prinzips der Volkssouveränität geht nun alles aus dem Volk hervor und kehrt dahin zurück. Die Gesellschaft, beziehungsweise die Mehrheit der Gesellschaft, ist somit im Zeitalter der Demokratie die neue absolute Macht. Die von Tocqueville gesehene politische Macht der Mehrheit wird zusammenfassend anhand folgender rhetorischer Fragen in der De La Dèmocratie En Amérique deutlich:
»When a man or a party suffers from an injustice in the United States, to whom do you want them to appeal? The public opinion? That is what forms the majority. To the legislative body? It represents the majority and blindly obeys it. To the executive power? It is named by the majority and serves it as a passive instrument. To the police? The police are nothing other than the majority under arms. To the jury? The jury is the majority vested with the right to deliver judgements. The judges themselves, in certain states, are elected by the majority. However iniquitous or unreasonable the measure that strikes you may be, you must therefore submit to it.«82
Die Macht der Mehrheit ist eine neue Erfahrung der demokratischen Gesellschaft, und zwar sowohl hinsichtlich der Wirkung auf die mœurs als auch bezogen auf die politische Macht. Sie geht unmittelbar aus der égalité des conditions hervor: »The sources of this influence must be sought in equality itself.«83 Diese Erfahrungen bilden sich gewissermaßen anhand der égalité des conditions, die das gedankliche Fundament des Prinzips der Volkssouveränität ist und damit die institutionelle Grundlage aller Einrichtungen, die die politisch verfasste Demokratie charakterisieren, etwa die gewählte gesetzgebende Gewalt, die gewählte Exekutive, die inneren Zusammenhänge dieser einzelnen politischen Organe sowie wiederum deren Agieren unter der égalité des conditions.
»This political omnipotence of the majority increases, in fact, the influence that the opinions of the public would have without it on the mind of each citizen there; but it does not establish it.«84
Für Tocqueville sind es nicht diese oder jene gesellschaftlichen Institutionen, welche die Potenziale der Macht der Mehrheit grundlegen, sondern die égalité des conditions selbst.
3.2.2Tyrannei der Mehrheit
Je stärker diese Macht der Mehrheit die demokratische Gesellschaft insgesamt und das individuelle Handeln zu steuern in der Lage ist, erkennt Tocqueville darin den Samen von Tyrannei und genau das ist es, dass er angesichts der Bedingungen der demokratischen Gesellschaft in Amerika am meisten fürchtet. Ihn sorgt nicht die persönliche Unabhängigkeit, sondern die nur schwach vorhandenen Garantien gegen die potenzielle Tyrannei der Mehrheit.85 Nicht mehr Ketten und Henker sind also die Instrumente der Tyrannei, sondern die Kultur der demokratischen Gesellschaft kann es werden. Sie lässt den Individuen die körperliche Freiheit, beherrscht aber deren Geister.86 Mit anderen Worten ist diese Tyrannei nicht mehr auf die Macht der Gesetze oder eine andere direkte Form davon als Gewaltausübung aufgebaut, sondern basiert auf der antizipativen Internalisierung des Mehrheitswillens durch die Individuen.87 Es gibt keinen Ort an dem oder keine Person, bei dem oder der sich die Macht der Mehrheit konzentriert; es ist eine diffuse Macht. Sie ist in den mœurs verankert; sie wird demnach nicht mehr von außen aufrechterhalten, sondern hat ihre Quelle in den Individuen selbst. An dieser Stelle ist ein längeres Zitat angemessen, um zu verdeutlichen, für wie gewaltig Tocqueville die Tyrannei der Mehrheit potenziell hält:
»Princes had, so to speak, materialized violence; the democratic republics of today have made violence as entirely intellectual as the human will that it wants to constrain. Under the absolute government of one man, despotism, to reach the soul, crudely struck the body; and the soul, escaping from these blows, rose gloriously above it; but in democratic republics, tyranny does not proceed in this way; it leaves the body alone and goes right to the soul. The master no longer says: You will think like me or die; he says: You are free not to think as I do; your life, your goods, everything remains with you; but from this day on you are a stranger among us. You will keep your privileges as a citizen, but they will become useless to you. If you aspire to be the choice of your fellow citizens, they will not choose you, and if you ask only for their esteem, they will still pretend to refuse it to you. You will remain among men, but you will lose your rights to humanity. When you approach your fellows, they will flee from you like an impure being. And those who believe in your innocence, even they will abandon you, for people would flee from them in turn. Go in peace; I spare your life, but I leave you a life worse than death. [Herv. FB]«88
In eindringliche Worte kleidet Tocqueville die Wirkung der sittlichen und politischen Macht der Mehrheit, dieser potenziell tyrannischen Macht demokratischer Gesellschaften. Jedes Individuum sei frei, anders zu handeln, aber die Konsequenzen dessen seien ›schlimmer als der Tod‹. So gesehen ist es eine Macht, die tatsächlich jede bisher bekannte Form der Herrschaft überbietet. Sie hat es gar nicht mehr nötig, die Individuen körperlich zu züchtigen, weil deren Denken und Wollen selbst schon die Regeln antizipiert; die Menschen sind stable (anständig) hinsichtlich ihrer Moral.89 Es ist also gerade nicht die Schwäche, die Tocqueville am état social der Demokratie im Vergleich zur Aristokratie bemängelt, sondern vielmehr ihre fast unbegreifliche potenzielle Stärke.90 Der Missbrauch der demokratischen Instrumente ist daher die große Gefahr.91 Die Tyrannei der Mehrheit erscheint zunächst als ein begrifflicher Widerspruch in sich, doch beschreibt Tocqueville hier insbesondere die Auswirkungen der öffentlichen Meinung auf das individuelle Denken und damit auch die politische Allmacht der Mehrheit. Von diesem Gedanken ausgehend bewertet er:
»For me, when I feel the hand of power on my head, knowing who is oppressing me matters little to me, and I am no more inclined to put my head in the yoke, because a million arms present it to me.«92
Diese Macht ist neu, weil sie nicht die einer einzelnen Person oder eines bestimmten Herrschaftsapparates ist, sondern diffuser, unpersönlich, historisch emergent und letztlich ungeplantes Ergebnis individuellen Handelns. Dennoch ist die Tyrannei der Mehrheit nicht primär ein Problem der Mehrheit, sondern vielmehr Ausdruck einer homogenen und totalen demokratischen Kultur, die neben der allgemeinen Konformität keine oder kaum Alternativen beziehungsweise Alternativität kennt.
»In our societies, everything threatens to become similar, that the particular figure of each individual will soon be lost entirely in the common physiognomy.«93
3.2.3Gesellschaftliche Mobilität, Individualismus und Materialismus
Eine weitere Erfahrung mit der égalité des conditions liegt in der wachsenden oder überhaupt in der Existenz einer gesellschaftlichen Mobilität. Im Vergleich zu aristokratischen oder ständischen gibt es in demokratischen Gesellschaften überhaupt erstmals eine allgemeine Mobilität. So gibt es zwar auch in den USA trotz der allgemeinen Gleichheit noch Diener und Herren, deren Platzierung ist allerdings aufgrund der Beweglichkeit der gesamten Gesellschaft insgesamt sehr fragil und auch konditioniert. Die gesellschaftliche Mobilität, verstanden als Auf- und Abstieg, bedingt, dass es nicht mehr nur dieselben Menschen und Familien ›oben‹ sind. Beziehungen zwischen ›oben‹ und ›unten‹ sind nun vertraglich geregelt, aber außerhalb dessen begegnen sich die Menschen wieder als Gleiche. Die égalité des conditions werden so geradezu zur Basis dessen, was heute als der ›american dream‹ firmiert: die Chance aller, unbesehen der Herkunft die obersten gesellschaftlichen Positionen zu erreichen.94 Der eigentlich zu beobachtende Effekt von Reichtum, nämlich das Scheiden gesellschaftlicher Schichten und das Schaffen von Abständen zwischen Individuen, findet laut Tocqueville in den USA nicht statt. Aus temporären strukturellen Ungleichheiten werden aufgrund der allgemeinen Mobilität nie oder nur kaum stabile Hierarchien.95 »New families emerge constantly out of nothing.«96 Die allgemeine Betriebsamkeit sorgt laut Tocqueville für beständigen Aufstieg, Wechsel und Neuaufbau. Die Ressourcen scheinen unendlich; der ›Sog des Westens‹ ermöglicht immer wieder neue vielversprechende Unternehmungen. Tocqueville formuliert hier zwischen den Zeilen einen Gedanken, den er auch hinsichtlich der Folgen des Erbrechts andeutet:97 Die Verbindung zwischen den einzelnen Generationen geht zusehends verloren, weil das Erbe durch die Gesetzeslage ohnehin zerstückelt wird und auch die gesamte Betriebsamkeit beständig zu neuen Unternehmungen treibt, verweilt eine Familie kaum über Generationen an einem Ort. Demokratische Gesellschaften sind nach Tocqueville daher immer in ungeahnter Bewegung, weil Individuen und Sachen sich fortlaufend verändern. Darin erkennt Tocqueville schon wieder eine gewisse Monotonie, weil dieser fortlaufende Wandel nach einheitlichen Kriterien abläuft.98 Die gesellschaftliche Mobilität setzt also nicht nur fortwährend die égalité des conditions durch, sondern sorgt auch für eine zunehmende Individualisierung und im Extremfall gar für die Isolation der Individuen, wie sich im Folgenden noch deutlicher zeigen wird.
In aristokratischen Gesellschaften sind die Generationen miteinander verbunden, weil es kaum gesellschaftliche Mobilität gibt, in den demokratischen Gesellschaften gibt es diese Mobilität und Tocqueville beobachtet, dass Zeitfaden zerrissen sind und die Pfade der Generationen verblassen.99 Die vorangegangenen Generationen verschwinden aus dem Blick und die nachkommenden sind kaum nah genug, um sich wirklich um sie zu kümmern, beziehungsweise ist es aufgrund der Aufteilung des Erbes und der Mobilität ohnehin unnötig, hier große Ambitionen zu zeigen. Mit der Zeit gibt es laut Tocqueville immer mehr Menschen, die zwar zu wenig ihr Eigen nennen können, um damit irgendeinen privilegierten Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen, aber dennoch genug, um sich ganz auf sich beziehen zu können. »[T]hey are always accustomed to consider themselves in isolation, and they readily imagine that their entire destiny is in their hands.«100
Unter der égalité des conditions richten sich die Individuen laut Tocquevilles Analyse insgesamt immer stärker auf sich selbst hin aus. Ein gewisser Selbstbezug ist demnach der Demokratisierung immanent. Diesen Selbstbezug bezeichnet Tocqueville als Individualismus und sieht darin gewissermaßen etwas Neues: die Selbstsucht. Gesellschaftliche Mobilität, Individualismus und Materialismus sieht Tocqueville tatsächlich in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander stehen – Individualismus und die passion du bien-être matériel (Leidenschaft für materiellen Wohlstand) treiben die gesellschaftliche Mobilität an.101 Der Individualismus erscheint nicht als übersteigerter Egoismus, sondern vielmehr als feste und friedliche sittliche Grundlage der demokratischen Gesellschaft.102 Alle Individuen streben danach, sich oder ihre Familien von der großen Gesellschaft zu distanzieren und danach, sich um ihre eigenen privaten Angelegenheiten kümmern zu können, denen eigentlich ihre wirklichen Leidenschaften zugeneigt sind. Solange die eigenen Bedürfnisse durch die eigene kleine Gesellschaft erfüllt sind, werden die Angelegenheiten der großen Gesellschaft nur zu gern unbeachtet gelassen.
Unter Individualismus ist laut Tocqueville damit ein Prozess der sozialen Desintegration zu verstehen, der die Individuen voneinander entfernt. Die Individuen fokussieren sich zunehmend ausschließlich auf ihre eigenen Bereiche und verlieren dadurch den Kontakt zueinander. Der Individualismus ist dabei ein verstärktes ursprüngliches Phänomen. Die Intensivierung beschreibt Tocqueville als Folge der égalité des conditions und der Emanzipation der Individuen voneinander. Der Individualismus wird laut Tocqueville immer mehr zu einer vertu publique (gesellschaftlichen Tugend):103 »[It is] an illness so natural and so fatal to the social body in democratic times.«104
Ist für Tocqueville die Selbstsucht noch ein dem Menschen schlicht spezifisches Laster, beschreibt er den Individualismus als demokratischen Ursprungs.105 Der Begriff umfasst damit nicht nur den Selbstbezug sowie die Fokussierung auf das Privatleben, sondern natürlich auch die wahrgenommene Machtlosigkeit und Isolation der Individuen unter der égalité des conditions.106
Die passion du bien-être matériel ist eine zentrale Beobachtung Tocquevilles in den USA. Auch sie ist eine der demokratischen Gesellschaft spezifische und, wie sich später zeigen wird, bedeutungsvolle neue soziale Erfahrung.107 Diese treibe laut Tocqueville die gesellschaftliche Mobilität an und ist in den USA durchaus allgemein. Überall und zu jeder Zeit ist gesellschaftlicher Auf-, aber eben auch Abstieg möglich. Die gesamte Gesellschaft ist in höchstem Maße betriebsam: »The concern to satisfy the slightest needs of the body and to provide for the smallest conveniences of life preoccupies minds universally.«108 In der demokratischen Gesellschaft, wo die ständischen Vorrechte aufgehoben, das Erbe regelmäßig geteilt wird und die Bildung allgemein steigt, die gesellschaftliche Mobilität also insgesamt zunimmt, regt sich eine allgemeine Begierde nach Wohlstand. Es ist eine mehr oder minder direkte Folge der égalité des conditions, woraus sich allen Individuen enorme wirtschaftliche Handlungschancen eröffnen.109 Insofern ist die passion du bien-être matériel Ausdruck der persönlichen Unabhängigkeit, der sich die Individuen als Folge der Demokratisierung erfreuen können. In der demokratischen Gesellschaft gibt es keine Grenze mehr für individuelles Streben, außer den individuellen physischen und psychischen Bedingungen. Dieser Umstand sorgt dafür, dass sich in demokratischen Gesellschaften die Individuen oftmals zu Großem berufen fühlen.110 Tocqueville nennt dieses Streben eine ungestüme und allgemein aufwärtsstrebende Bewegung.111 Doch die Bedingungen ihres realen Alltags stehen dem oft diametral entgegen. Ständig stoßen die Individuen auf gravierende und zugleich unvorhergesehene Schwierigkeiten.112 Die individuellen Grenzen ändern entsprechend nur die Form, nicht aber die Wirkung. Die Gleichheit aller hat alle auch zu gleichstarken Konkurrenten gemacht.113 Es zeigt sich eine zunehmende Diskrepanz zwischen der individuellen Wahrnehmung der eigenen Zukunftschancen und den reellen Möglichkeiten. Auch in Gesellschaften, die durch die égalité des conditions geprägt sind, gibt es demnach Grenzen des individuellen Strebens. Sind sich die Individuen gleich, ist es für alle Individuen obgleich möglich, letztlich immer schwieriger vorwärtszu- und der einheitlichen Masse zu entkommen. Letztlich behindern sich alle gegenseitig.114 Es ist, als ob mehrere Personen gleichzeitig durch eine Tür gehen wollen. Natürlich ergeben sich dennoch überall kleinere oder größere Unterschiede zwischen den Individuen, die auf der für Tocqueville göttlich verursachten individuellen Ungleichheit der Individuen beruhen.115 Dies widerstrebt natürlich der leidenschaftlich geliebten Gleichheit. Denn bei zunehmender Gleichheit, erscheinen die kleinsten Unterschiede bereits als Verletzung dieses Prinzips. Somit wird der Trieb zur Gleichheit selbst mittelbar zu einem eigenen Treiber individuell-materiellem Streben. »This is why the desire for equality always becomes more insatiable as equality is greater.«116
Die passion du bien-être matériel ist für Tocqueville eindeutig verbunden mit dem neuen bürgerlichen Mittelstand: »The passion for wellbeing is essentially a passion of the middle class; it grows and spreads with this class; it becomes preponderant with it.«117 Nun beobachtet Tocqueville in den Vereinigten Staaten eine Vielzahl mittlerer Vermögen, also einen zahlenmäßig großen Mittelstand. Diese mittleren Vermögen genügen den Individuen zwar, um sich Genüssen hinzugeben, dies ist allerdings immer mit der Unsicherheit verbunden, doch weiter für das Erreichte arbeiten zu müssen. Die Individuen sind daher fortlaufend damit befasst, materiellen Genüssen und Zielen nachzustreben, auch wenn diese unvollständig und flüchtig sind.118 Ständig zeigen sich den Individuen unzählige andere materielle Ziele, die ihnen durch ihr potenzielles Ableben möglicherweise verwehrt bleiben könnten. Das treibt ihr Streben noch weiter an.119 Tocqueville sieht nicht das erfüllte Bedürfnis oder den Besitz als größte menschliche Triebkraft, sondern das unerfüllte Bedürfnis sowie die ständige Angst120, bereits Erreichtes zu verlieren, treibt das individuelle Handeln maßgeblich an.121 Alles was dem individuellen Fortkommen und dem ökonomischen Erfolg zugutekommt wird stark forciert, alles eher Hinderliche hingegen vernachlässigt. Das Nützliche wird immer öfter dem Schönen vorgezogen.122
»I see an innumerable crowd of similar and equal men who spin around restlessly, in order to gain small and vulgar pleasures with which they fill their souls.«123 Über die Ursache dieser Unruhe ist sich Tocqueville gewiss:
»The taste for material enjoyments must be considered as the primary source of this secret restlessness that is revealed in the actions of Americans, and of this inconsistency that they daily exemplify.«124
Wohlstand und Reichtum bieten in der demokratischen Gesellschaft die letztverbliebenen Möglichkeiten, sich von anderen zu unterscheiden.125 So ist für Tocqueville nicht überraschend, dass die meisten Leidenschaften in demokratischen Gesellschaften die passion du bien-être matériel betreffen oder dieser entspringen.126 Weil der eigene Erfolg jedoch nie so groß ausfällt, dass damit vollständiger Müßiggang möglich ist, bleibt auch im Erfolgsfall immer eine letzte Unzufriedenheit bestehen. In Verbindung mit dem Streben des Individualismus, sich von seinen Mitmenschen abzugrenzen, erhöht gerade dieser Auswuchs des Wohlstandsstrebens, der sich auf Geldreichtum als Distinktionsmerkmal bezieht, die ohnehin darin liegende Gefahr der ökonomischen Überfokussierung. Durch Geldreichtum kann sich auch in der demokratischen Gesellschaft eine potenziell privilegierte Klasse bilden, die die eigenen Privilegien auch auslebt.127 Die Folgen dieser innergesellschaftlichen Unterscheidung sind jedoch begrenzt durch die allgemeine Dynamik und Mobilität, durch welche die demokratische Gesellschaft gekennzeichnet ist. Ersichtlich wird hier, dass Tocqueville durchaus einen ökonomisch fundierten Zugang hat und sehr sensibel die Einflüsse beschreibt, die eine sich vermehrt auch allgemein ökonomisch engagierende Gesellschaft auf die Individuen ausübt. Dabei betont er insbesondere die Effekte der Ökonomisierung auf die individuelle Lebensführung allgemein sowie die Herausbildung der Individuen als Konsumenten speziell.128
»Materialism is, among all nations, a dangerous sickness of the human mind; but it must be particulary feared among a democratic people, because it combines marvelously with the vice of the heart most familiar to these people.«129
Die passion du bien-être matériel wird für das individuelle Handeln schnell zum dominanten Orientierungspunkt, der durchaus in der Lage ist, andere und ebenfalls wichtige Dinge zu dominieren.
Obgleich zu Tocquevilles Lebzeiten, außer in Ansätzen in Großbritannien, noch nicht vom modernen Kapitalismus gesprochen werden kann, benennt er hier dennoch eine fundamentale Änderung, die auf einer veränderten individuellen Stellung zum materiellen Wohlstand beruht. Er beschreibt die Entstehung und die gesellschaftlichen Auswirkungen einer neuen kommerziellen Kultur, zu der sich die passion du bien-être matériel zunehmend verdichtet.130 Diese wird vermehrt von der Mehrheit verinnerlicht und durch die sittliche Macht der Mehrheit legitimiert. Die Individuen machen wiederholt die Erfahrung, dass sie zwar nicht alle ihre gesteckten wirtschaftlichen Ziele erreichen, aber ein mittleres Vermögen durchaus möglich ist. Dadurch wird das Streben immer wieder erneut angetrieben, denn es stellt sich nur in den seltensten Fällen eine befriedigende und beruhigende Zufriedenheit ein. Der Erfolg eines Individuums zeigt anderen was erreichbar ist. Daher dienen sich die Individuen gegenseitig als Antreiber individuellen Strebens.131 Bei Abweichung von diesem durch die Mehrheit vorgegebenen Weg droht nicht nur sehr wahrscheinlich der ökonomische Untergang, sondern die gesellschaftliche Ächtung – eine Folge ›schlimmer als der Tod.‹ Die matzeriellen Ziele drohen alle anderen Möglichkeiten, Gestaltungsspielräume und das Kontingenzbewusstsein hinsichtlich der gesellschaftlichen Entwicklung zu verdrängen; sie drängen sich zwischen ihre Seelen und Gott.132 Das ist Tocquevilles Bewertung der materialistischen Kultur und deren Folgen für die politischen Gestaltungsansprüche der demokratischen Gesellschaft.
So gehört die eine Vorstellung von Arbeit zu den tiefen und ehrlichen Grundüberzeugungen der demokratisch-mittelständischen Gesellschaft: Arbeit als die Grundbedingung materiellen Wohlstands.133 Das Streben nach ökonomischem Erfolg wird zunehmend allgemein.134
»If the taste for material well being is joined with a social state in which neither law nor custom any longer holds anyone in his place, it is one more great experiment to this restlessness of spirit; you will then see men continually change path, for fear of missing the shortest road that is to lead them to happiness.«135
Tocqueville beschreibt die Grundlage der Rastlosigkeit des individuellen wirtschaftlichen Handelns. Im Chor der demokratischen Gesellschaft droht das materielle Streben immer mehr zur dominanten Stimme zu werden und andere Stimmen zu verdrängen. Die wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft ist davon natürlich positiv beeinflusst. Selbst große Projekte lassen sich demnach in den USA scheinbar ohne große Anstrengungen ausführen, weil immer ein Großteil der Bevölkerung daran mitwirkt, und zwar unabhängig der Vermögen.136 Eine logische Folge dieser allgemeinen Betriebsamkeit ist, dass manchmal eine kleine Anzahl an Individuen verliert. Die Gesellschaft hingegen gewinnt durch das allgemeine Streben fortlaufend.137 Es zeigt sich das Zusammenspiel von passion du bien-être matériel und gesellschaftlicher Mobilität. Das kaufmännische Risiko wird zu einem bedeutenden Teil der vertu publique der demokratischen Mittelstandsgesellschaft.
Deutlich wird, dass Tocqueville eine potenzielle Konkurrenz zwischen dem Streben nach materiellem Wohlstand und anderen möglichen Handlungszielen erkennt, wobei die gesellschaftliche Sittlichkeit in Form der sittlichen Macht der Mehrheit aufseiten der passion du bien-être matériel steht und im Zweifel andere Handlungsvorhaben, vor allem anderen aber die öffentliche Unruhe, verurteilt bzw. missbilligt.138 Die demokratische Gesellschaft prämiert in erster Linie die passion du bien-être matériel. Der wirtschaftliche Erfolg als Leitbild ist eine Konsequenz der Auflösung gesellschaftlicher Hierarchien sowie der Erfahrung von gesellschaftlicher Mobilität oder, zusammengefasst, eine Konsequenz der Demokratisierung der Gesellschaft. Aus der Demokratisierung geht die demokratisch und materialistische Bürgergesellschaft hervor. Der öffentlichen Ruhe und Ordnung kommt aus dieser Richtung ein neuer Stellenwert zu; es ist geradezu das Distinktionsmerkmal der demokratischen Gesellschaft und Ausdruck ihres Liberalismus.139 »The love of public tranquillity is often the only political passion that these peoples retain.«140 In einer ruhigen und geordneten Gesellschaft lässt es sich am ehesten gut und erfolgreich wirtschaften. Daraus resultiert eine eigene Legitimation des status quo. Bewusste Gestaltung droht zunehmend an Bedeutung zu verlieren. Es sind eben die Freuden der Gleichheit, die sich allen unverzüglich und überall zeigen, wobei der Genuss der Selbstregierung, also der politischen Freiheit, allen fortlaufend Opfer, etwa an Zeit zum ökonomischen Streben, abverlangt.141
Nicht Unordnung und Anarchie, die sich aufgrund einer überhitzten Betriebsamkeit ergeben, fürchtet Tocqueville, sondern, wie sich später deutlicher zeigen wird, politische Apathie.142 Ihn sorgt, dass sich die allgemeine Betriebsamkeit mehrheitlich im ökonomischen Bereich abspielt, weswegen wenig Zeit und Willen bleibt, sich über größere gesellschaftliche Zusammenhänge Gedanken zu machen.143 Tocqueville formuliert hier eine Kritik an der materialistischen Kultur, die das Bewusstsein für Gestaltungsmöglichkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung zunehmend zu einer Belastung degradiert und damit einem an Bedeutung zunehmenden Zentralstaat eine neue Legitimation verschafft.
1Alexis d. Tocqueville: »DA I Bd. 1«, in: Eduardo Nolla/James T. Schleifer (Hg.), De la démocratique en Amérique, Indianapolis 2010, S. 1ff, hier S. 6.
Die bilinguale französisch-englische Ausgabe der De La Dèmocratie En Amérique von Eduardo Nolla ist in der internationalen Tocqueville-Forschung die wohl am häufigsten genutzte Ausgabe und erfüllt die neuesten akademischen Standards. Sie wird deswegen auch hier als Textgrundlage genutzt. Zum ›Standard‹ der Nolla-Ausgabe Skadi Krause: »Der Demokratietheoretiker Tocqueville. Kontexte, Interpretationen und Neuaneignungen«, in: Skadi Krause (Hg.), Erfahrungsräume der Demokratie. Zum Staatsdenken von Alexis de Tocqueville, Stuttgart 2017, S. 9ff, hier S. 10.
Eine beispielhaft am Begriff der intérêt bien entendu (wohlverstandenes Eigeninteresse) geführte Argumentation über die Schwierigkeiten und Herausforderung einer Übersetzung, nicht nur auf die klassische Übersetzungsarbeit bezogen, gibt Arthur Goldhammer: »Translating Tocqueville. The Constraints of Classicism«, in: Cheryl B. Welch (Hg.), The Cambridge companion to Tocqueville, Cambridge, UK 2006, S. 139ff, hier S. 144ff.
2Dieses Werk Tocquevilles ist in eine Arbeit sui generis. Vielen gilt es als präzise Reiseliteratur, anderen hingegen als polittheoretischer Text. Tocqueville selbst sah sein Werk deutlich nicht als Reisetagebuch. Er wollte folgenden Satz an den Anfang stellen: »The work that you are about to read is not a travologue.« A. d. Tocqueville, DA I Bd. 1 (2010), S. 3.
Hubertus Buchstein und Siri Hummel sehen in Tocqueville einen frühen Vertreter des »politischen Denkens« als einer Methode der Politikwissenschaft. Vgl. Hubertus Buchstein/Siri Hummel: »Demokratietheorie und Methode: Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill«, in: Harald Bluhm/Skadi Krause (Hg.), Alexis de Tocqueville. Analytiker der Demokratie, Paderborn 2016, S. 225ff, hier S. 240. Zur Methode des politischen Denkens siehe Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens, Stuttgart – Weimar 2001, S. 4.
Walter Reese-Schäfer etwa vertritt die Meinung, dass De La Dèmocratie En Amérique wissenschaftsjournalistisches Werk ist. Vgl. Walter Reese-Schäfer: »Tocquevilles Kunst des Schreibens. Journalismus und Salonkultur im Vergleich mit Heinrich Heine in Paris«, in: Harald Bluhm/Skadi Krause (Hg.), Alexis de Tocqueville. Analytiker der Demokratie, Paderborn 2016, S. 83ff.
Es gibt deutliche Unterschiede zwischen den tatsächlich auf der Reise verfassten Texten und denen, die von ihm im Nachgang verfasst wurden. Dazu folgende Standardwerke der Tocqueville-Literatur: Leopold Damrosch: Tocqueville’s Discovery of America, New York 2010; James T. Schleifer: The Making of Tocqueville’s Democracy in America, Indianapolis 2000; G. W. Pierson (1938).
Die Sprache, in der Tocqueville die De La Dèmocratie En Amérique verfasst, ist sicherlich auch ein Spiegel des Adressatenkreises, der über die klassisch politisch interessierten Intellektuellen hinausgeht. Dazu etwa Laurence Guellec: »Tocqueville und die Literatur«, in: Harald Bluhm/Skadi Krause (Hg.), Alexis de Tocqueville. Analytiker der Demokratie, Paderborn 2016, S. 189ff; A. Goldhammer, Translating Tocqueville (2006), S. 141.
In einem anderen Text beschäftigt sich Laurence Guellec mit der sprachlichen Intention der De La Dèmocratie En Amérique, die demnach in erster Linie einen Versuch Tocquevilles darstellt, Theorie und Praxis oder Denken und Handeln in einem zu behandeln. Vgl. Laurence Guellec: »The Writer Engagé. Tocqueville and Political Rhetoric«, in: Cheryl B. Welch (Hg.), The Cambridge companion to Tocqueville, Cambridge, UK 2006, S. 167ff.
3Tatsächlich steht die Gleichheit laut Tocqueville für jeweils extreme historische Zeitpunkte: »Wenn man darauf achtet, was sich in der Welt seit dem Entstehen der Gesellschaft vollzieht, wird man ohne Mühe entdecken, dass man die Gleichheit nur an den beiden Enden der Zivilisation findet. Die Wilden sind untereinander gleich, weil sie alle gleichermaßen verwundbar und unwissend sind. Die sehr zivilisierten Menschen können alle gleich werden, weil sie alle die gleichen Mittel zur Verfügung haben, Wohlstand und Glückseligkeit zu erzielen.« Alexis d. Tocqueville: »Denkschrift über den Pauperismus«, in: Harald Bluhm (Hg.), Kleine Politische Schriften, Berlin 2006, S. 61ff, hier S. 64.
Inwiefern sich darin eine Überzeugung Tocquevilles über die menschliche Natur finden lässt, ist streitbar. Sara Henary etwa erkennt darin vielmehr eine rhetorische Strategie. Vgl. Sara Henary: »Tocqueville and the Challenge of Historicism«, in: The Review of Politics 76 (2014), S. 469ff.
4A. d. Tocqueville, DA I Bd. 1 (2010), S. 8.
5Ebd., S. 9.
6Vgl. Alexis d. Tocqueville: Der alte Staat und die Revolution, München 1978, S. 35f. Tocqueville beschreibt dort, dass die Französische Revolution eine »Vollendung der langwierigsten Arbeit, der plötzliche und gewaltsame Abschluß eines Werkes, an dem zehn Menschenalter gearbeitet hatten«, war.
7Alexis d. Tocqueville: »DA I Bd. 2«, in: Eduardo Nolla/James T. Schleifer (Hg.), De la démocratique en Amérique, Indianapolis 2010, S. 277ff, hier S. 466f.
8Tocquevilles Methodik zeichnet sich durch die Entsagung persönlicher Wertungen aus: »I hope that you will find again in this second work the impartiality that seemed to be noted in the first.« Alexis d. Tocqueville: »DA II Bd. 3«, in: Eduardo Nolla/James T. Schleifer (Hg.), De la démocratique en Amérique, Indianapolis 2010, 689-985, hier S. 694. Tocqueville ist hinsichtlich der Demokratie nie (ver-)urteilend. Bezüglich der Debatte um die Unparteilichkeit oder Unvoreingenommenheit in Tocquevilles Werk siehe etwa Herbert L. Costner: »De Tocqueville on Equality: A Discourse on Intellectual Style«, in: The Pacific Sociological Review 19 (1976), S. 411ff.
Nach Raymond Boudon, der sich mit der Methodik Tocquevilles auseinandersetzt, finden sich in dessen Werk »Prozess[e] exogener Dynamik«, die bestimmte Innovationen auslösen und dann in die gleiche Richtung Wirkung entfalten. So war ein Schritt der historischen Bewegung der Gleichheit etwa Luthers Auflehnung gegen die kirchliche Macht, obgleich die weltliche Macht für ihn noch ein Tabu war. Descartes kämpfte wiederum gegen die weltliche, konnte sich aber nicht gegen die kirchliche Macht auflehnen und Voltaire gelang dann beides. Weiterhin erkennt Raymond Boudon in Tocquevilles Denken zirkuläre und kaskadenförmige Prozesse, auf die an geeigneter Stelle hingewiesen wird. Insgesamt gilt Tocquevilles Augenmerk komplexen Prozessen und Mechanismen, deren Analyse geradezu ein Charakteristikum seiner Methodik ist. Ferner versucht Tocqueville, trotz der Komplexität der Wirklichkeit, in dieser Kausalitäten zu finden und zu formulieren. Gerade begründe sich die Modernität Tocquevilles Analyse. Vgl. Raymond Boudon: »Tocquevilles Plädoyer für eine neue politische Wissenschaft«, in: Berliner Journal für Soziologie (2005), S. 459ff.
9Vgl. Eduardo Nolla: »Editor’s Introduction«, in: Eduardo Nolla/James T. Schleifer (Hg.), De la démocratique en Amérique, Indianapolis 2010, S. xlviiff, hier cix.
10A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 875.
Tocqueville ist dabei eindeutig ›Kind seiner Zeit,‹ denn die Gleichheit erscheint ihm, im Vergleich mit der Freiheit, als das jüngere Phänomen. Vgl. Skadi Krause: Eine neue Politische Wissenschaft für eine neue Welt, Berlin 2017, S. 50ff.
11A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 876.
12»A new political science is needed for a world entirely new.« A. d. Tocqueville, DA I Bd. 1 (2010), S. 16.
13James Schleifer zeigt zehn verschiedene Bedeutungen des Wortes Demokratie in De La Dèmocratie En Amérique auf. Vgl. J. T. Schleifer (2000), S. 325ff. Jack Lively findet deren sogar zwölf. Vgl. Jack Lively: The social and political thought of Alexis de Tocqueville, Oxford 1965, S. 49f.
14 Für Sheldon Wollin ist das Demokratieverständnis Tocquevilles näher an einem Modus gesellschaftlicher und kultureller Herrschaft, was Emile Durkheim kollektives Bewusstsein genannt hat und später Antonio Gramsci als Hegemonie beschreibt. Vgl. S. S. Wolin (2001), S. 251.
Hinter Tocquevilles Demokratiebegriff stehen mehrere Dinge: ein état social, eine historische Bewegung, ein état politique und auch ein gesellschaftliches Bewusstsein; Demokratie als Gegensatz zur Aristokratie ist die einzig mögliche Gesellschaftsform der Moderne. Für Hubertus Buchstein und Siri Hummel ist dieser vieldeutige Demokratiebegriff auch Ausdruck Tocquevilles Ablehnung eindeutig definierbarer Begriffe angesichts dieser vielschichtigen neuen Welt. Vgl. H. Buchstein/S. Hummel, Demokratietheorie und Methode: Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill (2016), S. 229.
Obgleich hier nicht das Ziel verfolgt wird, das Werk Tocquevilles in die eigene Rezeptionsgeschichte einzubetten, beziehungsweise auf darin referierte zeitgenössische Debatten einzugehen, erscheint es an dieser Stelle dennoch sinnvoll und wichtig auf den zeitgenössischen allgemein synonymen Gebrauch und das ebensolche Verständnis von Demokratie und Gleichheit hinzuweisen. So schreibt Basil Hall, dass die Gleichheit das Schlagwort der demokratischen US-Gesellschaft sei. Vgl. Basil Hall: Travels in North America in the Years 1827 and 1828, Edinburgh 1830, S. 81. Andere Belege finden sich bei S. Krause (2017), S. 97ff.
Wahrscheinlich war mindestens die Doppeldeutigkeit der Demokratie einmal als état social und als état politique beabsichtigt, wie die Entwürfe nahelegen.
15Norbert Campagna weist zu Recht darauf hin, dass es natürlich auch in Demokratien hierarchische Strukturen gibt. Dort sind sie oder sollten sie allerdings nicht, wie in Aristokratien, definitiv und ausschließend, sondern offen und dynamisch sein. Vgl. Norbert Campagna: Die Moralisierung der Demokratie, Cuxhaven 2001, 70, 77.
An dieser Stelle muss hinsichtlich der Gleichheit deutlich gemacht werden, dass für Tocqueville beispielsweise Frauen kaum unter diese Form der Gleichberechtigung fallen. Auch in der De La Dèmocratie En Amérique erscheinen sie als in ihrer gesellschaftlichen Wirkung und Entfaltung diskrimiert und marginalisiert.
Es lässt sich eine weitere Kritik an Tocqueville anbringen. Gleichheit ist für Tocqueville nämlich zunächst ein Phänomen der weißen (und vornehmlich männlichen) US-Amerikaner. Tocqueville selbst bemerkt, dass diese Ungleichheiten zwar amerikanisch, nicht aber demokratisch sind. Er hätte sie daher zunächst nicht zu beachten, um sich seinem eigentlichen Thema zu widmen. Vgl. A. d. Tocqueville, DA I Bd. 2 (2010), S. 516. Da es hier nicht um die Frage der Sklaverei oder die Vertreibung der indigenen Bevölkerung geht, wird dieser dennoch wichtige Aspekt hier nicht weiter verfolgt. Betont werden soll allerdings die immer kritische Haltung Tocquevilles zur Sklaverei. Verwiesen sei hier auf einschlägige Arbeiten dazu. Vgl. Donald J. Maletz: »Tocqueville’s Tangents to Democracy«, in: American Political Thought 4 (2015), S. 612ff; Alvin B. Tillery Jr.: »Tocqueville as Critical Race Theorist. Whiteness as Property, Interest Convergence, and the Limits of Jacksonian Democracy«, in: Political Research Quarterly 62 (2009); Cheryl B. Welch: »Creating Concitoyens: Tocqueville on the Legacy of Slavery«, in: R. Geenens/A. de Dijn (Hg.), Reading Tocqueville, London 2007, S. 31ff; Margaret Kohn: »The Other America: Tocqueville and Beaumont on Race and Slavery«, in: Polity 35 (2002), S. 169ff; Robert A. Strong: »Alexis de Tocqueville and the abolition of slavery«, in: Slavery & Abolition 8 (1987).
James Schleifer und auch Jean-Claude Lamberti gehen auf die Bedeutungsvielfalt des Gleichheitsbegriffes ein, die sowohl wirtschaftlich, politisch oder sozial gemeint sein oder Rechtsgleichheit und Gleichheit der Achtung bedeuten kann. Vgl. James T. Schleifer: »What Does Tocqueville Mean by Equality, Democracy, and Liberty?«, in: James T. Schleifer (Hg.), The Chicago companion to Tocqueville’s Democracy in America, Chicago 2012, S. 56ff, hier S. 56ff; Jean-Claude Lamberti: Tocqueville and the two democracies, Cambridge/Mass. 1989, S. 43.
Entscheidend ist jedoch der grundsätzliche und diese verschiedenen Facetten zusammenbindende Charakter der égalité des conditions, die die Individuen potenziell zu gleichen Teilen an der demokratischen Gesellschaft beteiligt und ihnen Rechte sowie Chancen in gleichen Maßen zukommen lässt. In dieser Hinsicht wird im Folgenden von égalité des conditions gesprochen.
16Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 700.
17Vgl. Marcel Gauchet: »Tocqueville, Amerika und wir. Über die Entstehung der demokratischen Gesellschaften«, in: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M. 1990, S. 123ff, hier S. 169.
18Insbesondere an der Begriffsnutzung bildet sich viel Kritik an Tocquevilles Methodik und Wissenschaftlichkeit. Jon Elster etwa sieht aufgrund der widersprüchlichen Struktur, der begrifflichen Vieldeutigkeit sowie einer darauf aufbauenden Tendenz zu Hyperbeln Tocqueville nicht als systematischen Denker. Jon Elster: Alexis de Tocqueville, Cambridge, New York 2009, S. 2. Zu dieser Kritik etwa Aurelian Craiutu: »Review of Jon Elster’s Tocqueville. The First Social Scientist«, in: Perspectives on Politics 9 (2011), S. 363ff; Aurelian Craiutu: »What Kind of Social Scientist was Tocqueville?«, in: Aurelian Craiutu/Sheldon Gellar (Hg.), Conversations with Tocqueville. The Global Democratic Revolution in the Twenty-First Century 2009, S. 55ff.
19Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 875.
20S. S. Wolin (2001), S. 98. Wahrscheinlich aus diesem Grund bezeichnet Cheryl Welch Tocqueville daher auch als »ersten Anthropologen der modernen Gleichheit.« C. B. Welch (2001), S. 50.
21Der Vergleich ist eine zentrale Methode Tocquevilles. Er nutzt sie in De La Dèmocratie En Amérique insbesondere in räumlicher Hinsicht, in dem er etwa die USA mit Frankreich, England oder der Schweiz vergleicht, aber in L’Ancien Régime et la Révolution auch zeitlich beziehungsweise historisch. Zu dieser Methode etwa vgl. Seymour Drescher: »Tocqueville’s Comparisons. Choices and Lessons«, in: The Tocqueville Review/La Revue Tocqueville 27 (2006), S. 479ff; Seymour Drescher: »Tocqueville’s Comparative Perspectives«, in: Cheryl B. Welch (Hg.), The Cambridge companion to Tocqueville, Cambridge, UK 2006, S. 21ff. Auch in den Reisenotizen der Englandreise und den Algerien-Schriften lässt sich diese Methode finden. Vgl. Alan S. Kahan: Alexis de Tocqueville, New York 2010, S. 61.
22Vgl. Melvin Richter: »Tocqueville on Threats to Liberty in Democracies«, in: Cheryl B. Welch (Hg.), The Cambridge companion to Tocqueville, Cambridge, UK 2006, S. 245ff, hier S. 247.
23Vgl. Roger Boesche: »Why did Tocqueville Fear Abundance? Or the Tension between Commerce and Citizenship«, in: History of European Ideas 9 (1988), S. 25ff, hier S. 35.
24Vgl. A. d. Tocqueville, DA I Bd. 1 (2010), S. 10.
25Vgl. J.-C. Lamberti (1989), S. 38f. Dazu auch Aurelian Craiutu: »Tocquevilles neue politische Wissenschaft wiederentdecken:. Einige Lektionen für zeitgenössische Sozialwissenschaftler«, in: Harald Bluhm/Skadi Krause (Hg.), Alexis de Tocqueville. Analytiker der Demokratie, Paderborn 2016, S. 33ff, hier S. 50; Harvey Mitchell: Individual choice and the structures of history: Alexis de Tocqueville as historian reappraised, Cambridge 2006.
26A. d. Tocqueville, DA I Bd. 1 (2010), S. 15. Dazu auch S. Drescher, Tocqueville’s Comparative Perspectives (2006), S. 25.
27Zitiert nach André Jardin: Alexis de Tocqueville, Frankfurt a.M. 2005, S. 246.
28Vgl. Cheryl B. Welch: »Tocqueville’s resistance to the social«, in: History of European Ideas 30 (2004), S. 83ff.
29Vgl. Harald Bluhm/Skadi Krause: »Tocquevilles erfahrungswissenschaftliche Analyse der Demokratie. Quellen, Konturen und Leistungsfähigkeit seines Konzepts«, in: Leviathan 42 (2014a), S. 636ff, hier S. 635. Dazu auch Harvey C. Mansfield/Delba Winthrop: »Tocqueville’s New Political Science«, in: Cheryl B. Welch (Hg.), The Cambridge companion to Tocqueville, Cambridge, UK 2006, S. 81ff, hier S. 101.
30Er ist daher einer der ersten, der, wie Harald Bluhm und Skadi Krause festhalten, am Übergang zu »modernen zukunftsbezogenen Bewegungsbegriffen« steht. Harald Bluhm/Skadi Krause: »Tocquevilles erfahrungswissenschaftliche Analyse der Demokratie. Konzept und Reichweite seiner »neuen Wissenschaft der Politik«, in: Harald Bluhm/Skadi Krause (Hg.), Alexis de Tocqueville. Analytiker der Demokratie, Paderborn 2016, S. 53ff, hier S. 54.
31Vgl. John S. Mill: The Collected Works of John Stuart Mill, Toronto 1977, S. 156.Aurelian Craiutu betont, dass gerade in De La Dèmocratie En Amérique eine Themenvielfalt behandelt wird, die heutzutage gar nicht mehr, aber auch zu Tocquevilles Zeit nur selten auffindbar ist. Es geht vom Wertegerüst der Demokratie über die Grenzen des Materialismus, die Bedeutung der Religion, den Wert der Zivilgesellschaft in der Demokratie und vieles mehr bis hin zu strukturellen Fragen der Zentralisierung oder Kommunalisierung. Vgl. A. Craiutu, Tocquevilles neue politische Wissenschaft wiederentdecken: (2016), S. 38. Über das wichtige Verhältnis von Mill und Tocqueville etwa Suh Byong-Hoon: »Mill and Tocqueville: a friendship bruised«, in: History of European Ideas 42 (2016), S. 55ff.
32Vgl. H. Buchstein/S. Hummel, Demokratietheorie und Methode: Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill (2016), S. 239.
Joseph Alulis bemerkt, dass für Tocqueville auch potenziell als Gleiche geborene Individuen um die Notwendigkeit einer Revolution wussten, um diese Gleichheit auch durchzusetzen. Gleichheit von Geburt oder theoretische Gleichheit ist demnach nicht synonym mit tatsächlicher und politischer Gleichheit. Vgl. Joseph Alulis: »The Price of Freedom. Tocqueville, the Framers, and the Antifederalists«, in: Perspectives on Political Science 27 (1998), S. 85ff.
Nathaniel Wolloch konstatiert, dass Tocquevilles moderate Form der Aufklärung für die Aufklärung als Megaprozess der Geschichte bedeutender sei als radikalere Formen. Nicht radikale Ideen der Demokratie, sondern moderate Ausdrücke davon hätten demnach der Demokratie insgesamt zum Durchbruch verholfen. Vgl. Nathaniel Wolloch: »Alexis de Tocqueville, John Stuart Mill, and the Modern Debate on the Enlightenment«, in: The European Legacy 23 (2018), S. 349ff.
33H. Buchstein/S. Hummel, Demokratietheorie und Methode: Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill (2016), S. 231.
34Vgl. H. Bluhm/S. Krause, 2014a, S. 636f.
35Harald Bluhm und Skadi Krause befassen sich damit eingehender und arbeiten präzise heraus, dass Tocquevilles Analyse der demokratischen Gesellschaft ein erfahrungswissenschaftlicher Ansatz ist, der innovativ innere, also individuelle, und äußere, also gesellschaftliche, Erfahrungen verbindend in den Blick nimmt. Vgl. ebd., S. 638.
36Mit Mechanismus ist hier daher etwas anderes intendiert, als Jon Elster mit dem Begriff meint. Er identifiziert in seiner Interpretation der De La Dèmocratie En Amérique verschiedene Effekte, die er als Mechanismen bezeichnet. J. Elster (2009), S. 2. An anderer Stelle ebenfalls dazu J. Elster (2009); Jon Elster: »Grundzüge kausaler Analyse in Tocquevilles Über die Demokratie in Amerika«, in: Berliner Journal für Soziologie (2005), S. 495ff.
37Ein solches Verständnis nutzen auch Peter Hedström und Christofer Edling. Vgl. Peter Hedström/Christofer Edling: »Analytische Soziologie in Tocquevilles Über die Demokratie in Amerika«, in: Berliner Journal für Soziologie (2005), S. 511ff, hier S. 513.
38Vgl. ebd.
39Das ist der Grund, warum Tocquevilles Ansatz auch als Wirklichkeitswissenschaft bezeichnet werden kann. Vgl. H. Bluhm/S. Krause, Tocquevilles erfahrungswissenschaftliche Analyse der Demokratie. (2016), S. 55ff.
40Die totale Gleichheit der individuellen Wahrnehmung ist daher weder Gleichheit überhaupt, sondern vielmehr eine individuelle Fiktion des demokratischen état social. Vgl. J.-C. Lamberti (1989), S. 46.
41Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 699.
42Vgl. ebd., S. 700f.
43Vgl. ebd., S. 699. Über Tocqueville und Descartes sowie Verbindungen zwischen ihnen vgl. L. J. Hebert: »Individualism and Intellectual Liberty in Tocqueville and Descartes«, in: The Journal of Politics 69 (2007), S. 525ff.
44Vgl. R. Boudon, 2005, S. 461f.
Norbert Campagna weist darauf hin, dass Tocqueville den Zweifel nicht als Grundlage eines allgemeinen Nihilismus betrachtete, sondern zusammen mit der Vernunft daraus etwas entstehen sieht. Vgl. N. Campagna (2001), S. 125.
Der Zweifel beschreibt auch in Tocquevilles eigener Biografie eine wichtige Phase der Entwicklung. Als Heranwachsender in Metz und bei seinem vielbeschäftigten Vater weilend (1820-1823), liest sich der jugendliche Tocqueville sozusagen mithilfe der väterlichen Bibliothek, die neben Descartes auch Voltaire und Rousseau kannte, in den Zweifel an der Welt ein. Dieser Zweifel an den Maximen der Zeit wird Tocqueville nicht mehr loslassen. Ganz besonders zeigt sich dies in seiner eigenen Positionierung gegenüber der Religion. Dazu Hugh Brogan: Alexis de Tocqueville, Cambridge 2006, 50-62; A. Jardin (2005), S. 53ff.
45Nach Matthew Sitman und Brian Smith ist um diesen Gedanken letztlich das gesamte Denken Tocquevilles über die Moderne gruppiert. Vgl. Matthew Sitman/Brian Smith: »The Rift in the Modern Mind: Tocqueville and Percy on the Rise of the Cartesian Self«, in: Perspectives on Political Science 36 (2007), S. 15ff.
46Vgl. S. S. Wolin (2001), S. 81f.
47A. d. Tocqueville, DA I Bd. 2 (2010), S. 403. Jürgen Feldhoff betont, dass die Erkenntnis, wonach »unter den Bedingungen der Gleichheit die Internalisierung des Mehrheitswillens zum Sozialcharakter eines Volkes werden kann«, auf Tocqueville zurückgeht. J. Feldhoff, S. 35.
48A. d. Tocqueville, DA I Bd. 2 (2010), S. 404.
49Vgl. ebd., S. 406f.
50Vgl. ebd., S. 417.
51Ebd., S. 418.
52Vgl. ebd., S. 600.
53A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 714.
54Vgl. Jean-Claude Lamberti: »Two Ways of Conceiving the Republic«, in: Ken Masugi (Hg.), Interpreting Tocqueville’s democracy in America, Savage, Md. 1991, S. 3ff, hier S. 14.
55Insofern verschwindet die Autorität nicht mit dem Aufkommen der persönlichen Unabhängigkeit, sondern ändert nur ihr Wesen. Vgl. Joshua Mitchell: »Tocqueville on Democratic Religious Experience«, in: Cheryl B. Welch (Hg.), The Cambridge companion to Tocqueville, Cambridge, UK 2006, S. 276ff, hier S. 294.
56Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 713.
57Vgl. Ebd.
58Vgl. ebd., S. 719.
59Vgl. A. d. Tocqueville, DA I Bd. 2 (2010), S. 404.
60Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 719.
61Robert Ballingall macht auf diese oftmals übersehene Facette in der De La Dèmocratie En Amérique aufmerksam. Tocqueville beschreibt demnach die Notwendigkeit von Autorität angesichts einer Gesellschaft der Mittelmäßigkeit und Konformität aufgrund der Gleichheit sowie der zunehmenden Isolation der Individuen. Vgl. Robart A. Ballingall: »›Working at the Same Time to Animate and to Restrain‹: Tocqueville on the Problem of Authority«, in: The European Legacy 24 (2019), S. 738ff. Dazu auch Oliver Hidalgo: Unbehagliche Moderne, Frankfurt a.M. 2006, S. 41; Karlfriedrich Herb/Oliver Hidalgo: Alexis de Tocqueville, Frankfurt, New York 2005, S. 62; S. S. Wolin (2001), S. 351f.
62Vgl. S. S. Wolin (2001), S. 355.
63Angesichts dessen fragt James Schleifer zu Recht: »Without new ideas or the freedom to express them, what would then become of culture progress?« J. T. Schleifer (2000), S. 279.
64Vgl. A. d. Tocqueville, DA I Bd. 2 (2010), S. 403. Lucien Jaume und Jürgen Feldhoff bezeichnen die Mehrheit daher als moderne Religion; als eine Religion, die nicht als Religion auftritt, die also von der Wirkung her der Religion ähnelt, nicht aber vom Wesen her. Die Mehrheit übt demnach eine ähnliche Steuerung und Regulierung des individuellen Handelns und der Lebensweise aus, wie vormals die Religion. Die Mehrheit ist der neue Prophet, dem die Massen gehorchen, dessen Willen sie sich unterordnen und dem sie gehorchen. Vgl. Lucien Jaume: Tocqueville, Princeton 2013, 65ff. passim; J. Feldhoff, S. 56.
65Vgl. A. d. Tocqueville, DA I Bd. 2 (2010), S. 403.
66Vgl. ebd., S. 316.
67Vgl. ebd., S. 315.
68Vgl. ebd.
69Vgl. ebd. Tocqueville bezieht sich hier besonders auf die berühmten Männer der Zeit der Unabhängigkeitskriege und der ersten Jahre der Vereinigten Staaten, wie Alexander Hamilton, Thomas Jefferson, John Jay, John Adams und andere mehr.
70Vgl. ebd., S. 316. Dies sei an dieser Stelle nur am Rande erwähnt. Allerdings wird darin deutlich, wie sensibel Tocqueville für die Wirkungen der égalité des conditions war und sogar Tendenzen des Populismus entdeckte, die sich daraus möglicherweise ergeben können.
71Vgl. ebd.
72Vgl. ebd.
73Vgl. ebd., S. 317.
74Vgl. ebd., S. 359.
75Vgl. ebd., S. 326.
76Ebd., S. 324.
77Vgl. S. S. Wolin (2001), S. 191f.
78Vgl. A. d. Tocqueville, DA I Bd. 2 (2010), S. 407f.
79Vgl. ebd., S. 408f.
80Vgl. A. d. Tocqueville, DA I Bd. 1 (2010), S. 91; A. d. Tocqueville, DA I Bd. 2 (2010), S. 598.
81A. d. Tocqueville, DA I Bd. 1 (2010), S. 97. Die Formulierung macht zum anderen deutlich, dass Tocqueville das Prinzip der Volkssouveränität als Entwicklung ›von unten‹ ansieht und nicht als eine oktroyierte Idee. Vgl. L. Jaume (2013), S. 24.
82A. d. Tocqueville, DA I Bd. 2 (2010), S. 414.
83A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 723.
84Ebd., S. 723f.
85Vgl. A. d. Tocqueville, DA I Bd. 2 (2010), S. 414.
Die despotisme démocratique (demokratische Despotie) ist ein Thema, dass Tocqueville so erst im zweiten Band der De La Dèmocratie En Amérique aufbringt. Die Tyrannei der Mehrheit ist dabei kein direkt genanntes konstitutives Element. Vielmehr sind beides Ausdrücke eines jeweils bestimmten historischen Kontextes und einer bestimmten biografischen Situation Tocquevilles, wie Melvin Richter zeigt. Dieser weist darauf hin, dass sich im Gesamtwerk Tocquevilles angesichts sich wandelnder historischer Kontexte auch dessen Sichtweise auf die Gefahren der égalité des conditions ändere. Das Gesamtwerk Tocquevilles sei demnach ein Spiegel seiner eigenen biografischen Situation. Melvin Richter beobachtet im ersten Teil der De La Dèmocratie En Amérique noch einen optimistischen Tocqueville, der zwar Gefahren und Herausforderungen der Demokratie, insbesondere die Macht und Tyrannei der Mehrheit benenne und beschreibe, für den aber die USA als das Land gilt, dass eine stabile und freiheitliche, soziale und politische Demokratie geschaffen hätte. Im zweiten Band hingegen, und unter dem Eindruck Tocquevilles eigener politischer Karriere, verfinstert sich dieses Bild. Plötzlich fürchte er den despotischen und zentralen Verwaltungsstaat. Nach den Erfahrungen des Staatsstreichs Louis Napoleons kippt der schon angeschlagene Optimismus noch etwas mehr, angesichts der Gefahren von Verwaltungsdespotie, Entpolitisierung, Apathie und Populismus. Vgl. M. Richter, Tocqueville on Threats to Liberty in Democracies (2006), S. 269ff; Melvin Richter: »Tocqueville and Guizot on democracy: from a type of society to a political regime«, in: History of European Ideas 30 (2004), S. 61ff. Dazu auch S. S. Wolin (2001), S. 339f; J. T. Schleifer (2000), S. 213.
Dennoch müssen sowohl die Tyrannei der Mehrheit als auch der despotisme démocratique als mögliche Ergebnisse der Bewegung demokratischer Gesellschaften und der égalité des conditions gesehen werden. Ferner ist die Macht der Mehrheit der demokratischen Gesellschaft immanent und insofern durchaus Bestandteil der despotisme démocratique, wobei bei dieser etwas anderes im Vordergrund steht. Es geht Tocqueville hier gerade nicht mehr um die Behinderung der Demokratie, sondern geradezu um ihre Pervertierung.
Aurelian Craiutu und Jeremy Jennings suchen entsprechend in der brieflichen Korrespondenz Tocquevilles in den Jahren nach 1840 nach möglichen Inhalten eines dritten Bandes der De La Dèmocratie En Amérique. Sie finden eine durchaus kritischere und teilweise desillusionierte Haltung Tocquevilles gegenüber den Chancen der demokratischen Gesellschaft. Vgl. Aurelian Craiutu/Jeremy Jennings: »The Third Democracy: Tocqueville’s Views of America after 1840«, in: The American Political Science Review 98 (2004), S. 391ff.
Diese Widersprüchlichkeiten in der Person Tocqueville beleuchtet Aurelian Craiutu: »Tocqueville’s Paradoxical Moderation«, in: The Review of Politics 67 (2005), S. 599ff.
Allgemein zu den Zusammenhängen Tocquevilles Biografie, seinen moralischen Vorstellungen und seiner Wahrnehmung Amerikas auf die Entstehung von De La Dèmocratie En Amérique etwa Arthur Kaledin: Tocqueville and His America, Yale 2011.
86Vgl. Roger Boesche: »Tocqueville: The Pleasures of Servitude«, in: Roger Boesche (Hg.), Theories of Tyranny. From Plato to Arendt, University Park 1996, S. 201ff, hier S. 234.
87Vgl. J.-C. Lamberti (1989), S. 119. Mit den Möglichkeiten oder auch der Bedeutung von Intellektuellen hinsichtlich der Macht der Mehrheit und deren Potenzial diese Macht und die Gesellschaft zu steuern, befasst sich James W. Ceaser: »Political Science, Political Culture, and the Role of the Intellectual«, in: Ken Masugi (Hg.), Interpreting Tocqueville’s democracy in America, Savage, Md. 1991, S. 287ff.
88A. d. Tocqueville, DA I Bd. 2 (2010), S. 418f. James Schleifer weist darauf hin, dass Tocqueville hier sehr stark und vielleicht zu einseitig auf die Mehrheit fokussiert ist und die Potenziale verkennt, aus denen auch aus der Minderheit freiheitseinschränkende oder -gefährdende Regime erwachsen können. Vgl. J. T. Schleifer (2000), S. 278.
89Vgl. A. d. Tocqueville, DA I Bd. 2 (2010), S. 420.
90Vgl. M. Bohlender, Tocqueville im Gefängnis (2016), S. 173.
91Vgl. A. d. Tocqueville, DA I Bd. 2 (2010), S. 424.
92A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 725.
93Alexis d. Tocqueville: »DA II Bd. 4«, in: Eduardo Nolla/James T. Schleifer (Hg.), De la démocratique en Amérique, Indianapolis 2010, S. 986ff, hier S. 1275. Dazu auch S. S. Wolin (2001), S. 188.
94Vgl. Ralf Dahrendorf: Die angewandte Aufklärung, Frankfurt a.M. 1968, S. 39f.
95An dieser Stelle wird wieder die Mehrdeutigkeit des Begriffes der égalité des conditions deutlich, womit einmal etwas Statisches, nämlich ein Zustand der Gleichheit und einmal etwas Dynamisches, nämlich das immer wieder vonstattengehende Gleichmachen in Form der gesellschaftlichen Mobilität gemeint ist. Darauf weist Jon Elster hin, der daran eine Widersprüchlichkeit in Tocquevilles Ausführungen erkennt, und zwar dahingehend, dass Freiheit auf Basis dynamischer Gleichheit, gerade wenn dynamische Gleichheit Freiheit voraussetzt, sinnfrei ist. Vgl. J. Elster (2009), 125ff., 185f.
96A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 884.
97Vgl. A. d. Tocqueville, DA I Bd. 1 (2010), S. 74ff.
98Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1090.
99Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 884. Diese Perspektive ist stark an Tocquevilles Erfahrungen in den nördlichen Bundesstaaten festzumachen. Denn in den südlichen Bundesstaaten entwickelt sich, aufbauend auf Sklavenarbeit, eine als durchaus quasiaristokratisch zu nennende gesellschaftliche Struktur, mit großen Grund- und Bodenbesitz und einzelnen enormen Familienvermögen.
100Ebd.
101Vgl. etwa die Ausführungen zu Democratic Materialism und Democratic Individualism von James T. Schleifer: »How Does Democracy Threaten Liberty?«, in: James T. Schleifer (Hg.), The Chicago companion to Tocqueville’s Democracy in America, Chicago 2012, S. 72ff, hier S. 72ff.
102Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 882.
103Vgl. ebd., S. 889. Dazu auch Roger Boesche: »The strange liberalism of Alexis de Tocqueville«, in: History of Political Thought 2 (1981), S. 495ff, hier S. 502.
104A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 891.
105Vgl. ebd., S. 883. Über die begriffliche Verwandtschaft von Egoismus und Individualismus in De La Dèmocratie En Amérique siehe J. T. Schleifer (2000), S. 308.
106Auch darauf weist James Schleifer ausdrücklich hin. Vgl. ebd., S. 304.
107Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 931.
108Ebd. Ausführlicher über diesen Zusammenhang ist etwa John A. Wettergreen: »Modern Commerce«, in: Ken Masugi (Hg.), Interpreting Tocqueville’s democracy in America, Savage, Md. 1991, S. 204ff, hier S. 210f.
109In L’Ancien Régime et la Révolution beschreibt Tocqueville, dass schon in den vierzig Jahren vor der Französischen Revolution eine rasante wirtschaftliche Entwicklung eingesetzt hat. Die darin zum Ausdruck kommende neue wirtschaftliche Fokussierung der Individuen ist Ausdruck der bereits vor der Revolution einsetzenden demokratischen Revolution. Die sich zunehmend ausweitende Gleichheit sorgte bereits vor der Revolution für einen gesteigerten Materialismus. Erst dieses Zusammenspiel ergab letztlich die materielle Grundlage der Revolution. Vgl. A. d. Tocqueville (1978), S. 169ff.
110Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 945.
111Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1119.
112Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 945.
113Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1119.
114Vgl. ebd.
115Ebd., S. 946.
116Ebd.
117A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 933f.
118Vgl. ebd., S. 933.
119Vgl. ebd., S. 944.
120Angst als Bestandteil politischen Denkens betrachtet Corey Robin in seinem Buch. Vgl. Corey Robin: Fear: The history of a political idea 2004, S. 73ff.
121A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 931.
122Vgl. ebd., S. 789. Die Menschen werden, so Tocquevilles Beobachtung, hauptsächlich und zunehmend in der Industrie engagiert sein, da dort die größten und schnellsten Gewinne zu erwarten sind. Vgl. ebd., S. 972ff. Für Tocqueville ist das geradezu eine globale Entwicklung. »What I say about America applies, moreover, to nearly all the men of our times. Variety is disappearing from the human species; the same ways of acting, thinking and feeling are found in all the corners of the world.« A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1091.
123Ebd., S. 1249.
124A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 944.
125Vgl. J. Feldhoff, S. 32.
126Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1090.
127Vgl. Alexis d. Tocqueville: »Notebook E«, in: Jacob P. Mayer (Hg.), Journey to America, New Haven 1962, S. 234ff, hier S. 258f.
128James Schleifer bezeichnet Tocquevilles Analyse daher als ein »powerful piece of economic (and moral) analysis.« James T. Schleifer: »Tocqueville’s Democracy in America Reconsidered«, in: Cheryl B. Welch (Hg.), The Cambridge companion to Tocqueville, Cambridge, UK 2006, S. 121ff, hier S. 133.
Obgleich Tocqueville durchaus polit-ökonomische Fragestellungen mitdenkt, ist er kein Theoretiker der politischen Ökonomie, die sich ausschließlich mit der Herstellung und den Bedingungen von Reichtum und Wohlstand beschäftigte. Tocqueville sah die Ökonomie immer als einen Bestandteil eines größeren theoretischen Zusammenhangs der Staatswissenschaft. Für Michael Drolet ist dies der Grund, warum sich Tocqueville trotz anfänglicher Zuneigung zu Jean-Baptiste Say, von diesem abwendete und Thomas Malthus Schriften für ihn wichtiger wurden, der seines Zeichens ebenfalls gegen ein solches enges Verständnis war. Vgl. Michael Drolet: »Democracy and political economy: Tocqueville’s thoughts on J.-B. Say and T.R. Malthus«, in: History of European Ideas 29 (2003), S. 159ff, hier S. 180. Tocqueville selbst sah sich nicht als politischer Ökonom, was auch ein Ausdruck der einsetzenden Abgrenzungsversuche der politischen Ökonomie von der Moralphilosophie und der politischen Philosophie ist, welche Tocqueville ablehnte. Gleichzeitig bricht Tocquevilles Verständnis, wie Michael Drolet ebenfalls aufzeigt, auch aus der Enge der französischen Physiokraten aus.
129A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 957.
130Aus diesem Grund konstatiert Richard Swedberg: »Tocquevilles Neue Welt ist mit anderen Worten eine Konsumkultur.« Richard Swedberg: »Tocqueville als Wirtschaftssoziologe«, in: Berliner Journal für Soziologie 15 (2005), S. 473ff, hier S. 481.
131Vgl. R. Boesche, 1981, S. 514.
132A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 937.
133A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 969.
134Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1120.
135A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 945.
136Vgl. ebd., S. 976.
137Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1104.
138Vgl. R. Boesche, Tocqueville: The Pleasures of Servitude (1996), S. 213.
139Vgl. R. Boesche, 1981, S. 514.
140A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), S. 1201.
141Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 3 (2010), S. 877.
142Vgl. A. d. Tocqueville, DA II Bd. 4 (2010), 1150 Fn. x.
143Vgl. ebd., S. 1147.