IV. Down to Earth
»How can we present a proposal intended not to say what is, or what ought to be,
but to provoke thought, a proposal that requires no other verification than
the way in which it is able to ›slow down‹ reasoning and create an opportunity
to arouse a slightly different awareness of the problems and situations mobilizing us?«
Isabell Stengers 2005
Astronautïnnen kehren, außer im zum Glück seltenen Katastrophenfall, »sicher zu Erde zurück«. Wäre eine Mission 2019 gestartet und lange ohne Verbindung zur Erde geblieben, fänden sich die Raumfahrerïnnen in einer radikal anderen, von einer Pandemie geprägten Welt ein, wie jene, die im Kalten Krieg gestartet waren und nach dem Fall der Mauer im November 1989 zurückkehrten. Dieses Buch mit dem allfälligen Verweis auf die SARS-CoV-2-Pandemie enden zu lassen wäre trivial, würde sie nicht ebenfalls in den Kontext planetaren Denkens eingeordnet. Denn in diesem Rahmen erscheint sie weder vergangen noch außergewöhnlich. Eine Pandemie dieses Ausmaßes, die den globalen Norden mehr schockierte als den Rest der Welt, war zu erwarten und in nationalen Katastrophenschutzplänen bereits antizipiert, ohne dass (abgesehen von einigen Staaten Ostasiens) notwendige Vorkehrungen getroffen wurden (Deutscher Bundestag 2013). Die epidemiologische Evidenz indiziert die Wahrscheinlichkeit ähnlicher Seuchen auch für die nähere Zukunft, mit eventuell noch höheren Wirkungen. Aus planetarer Perspektive war 2020 also ein eher normales Jahr, in dem übrigens die Summe der von Menschen hergestellten Dinge – von Maschinen bis Bauwerken – mehr wiegt als die gesamte Biomasse (Elhacham et al. 2020). Die Corona-Pandemie, das unvermeidbare »Wort des Jahres« 2020, ist ein klassisches meta-physisches Hyperobjekt, das sich trotz seiner offensichtlich drastischen Folgen üblicher menschlicher Erfahrung entzieht (Morton 2013) und das Walten planetarer Beziehungen wie in einer Nussschale verdeutlicht. Daran können wir noch einmal Kernelemente planetaren Denkens resümieren und – »down to earth« – Schlüsse für die »Universitas« und das politische Handeln ziehen.
Planetare Gesundheit
Im Herbst 2020 wurde die Massenschlachtung (»Keulung«) von Nerztieren in Dänemark gemeldet, die dort auf Farmen zur Herstellung von Pelzmänteln und Mantelkrägen gezüchtet werden. Auch in Spanien, den Niederlanden und den USA war das mutierte Virus auf Menschen übergesprungen, nachdem sich die Tiere zuvor bei Menschen angesteckt hatten. Als rund 200 Menschen infiziert und weitere erkrankt waren, ordnete die dänische Regierung an, mehr als 17 Millionen Tiere töten zu lassen. Die Jütland-Region wurde zum Sperrgebiet mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit erklärt, PCR-Massen-Tests wurden angeordnet. Die Krankheitsverläufe waren eher milde, aber man befürchtet seither, mutierte Viren könnten den Schutz durch Impfstoffe unterlaufen. Tierschützerïnnen nahmen den Vorfall zum Anlass, erneut ein Verbot der Nerztierzucht zu fordern. Der exemplarische Vorfall einer Zoonose, hier genauer einer Amphixenose (der Übertragung von Krankheitserregern von Menschen auf Tiere und zurück) macht bewusst, dass der Mensch evolutionär aus dem Tierreich stammt und somit, anders als es die typologische Trennung von Mensch und Tier auszusagen scheint, wechselseitige Krankheitsübertragungen keineswegs ausgeschlossen oder selten sind. Fast zwei Drittel menschlicher Erkrankungen werden durch Tiere übertragen,34 unter anderem Pest, Tuberkulose, Schweinegrippe, Tollwut, Milzbrand (Anthrax), Borreliose, Aviäre Influenza (»Vogelgrippe«), Taeniose (Bandwurm-Befall) u.v.a., darunter auch Ebola und HIV. Die bis dato überzeugendste Hypothese ist, dass auch die Übertragung von SARS-CoV-2 von einer Rhinolophus-Fledermaus (»Hufeisennase«) und einem weiteren Zwischenwirt auf den Menschen stattgefunden hat. Der erste Ausbruch wurde auf den »Wet Markets« von Wuhan vermutet, wo die Chance für das Überspringen von Viren über Artengrenzen besonders groß ist. Lebende und tote Wildtiere werden auf engstem Raum zusammengepfercht, geschlachtet, verkauft und gekocht, wodurch Menschen mit Blut und Körperflüssigkeiten der Tiere in Kontakt kommen.
Wir wollen den dänischen Fall hier nicht weiterverfolgen, bei dem die Legalität der Massentötung bestritten wurde und die Exhumierung der in Massengräbern verscharrten Tierkadaver notwendig war, weil deren Zersetzungsprozess Phosphor und Stickstoff im Boden freigesetzt hatte, die Trinkwasser und Badegewässer zu verunreinigen drohten. Auch wollen wir der Frage nicht weiter nachgehen, welche negativen Umweltfolgen – neben positiven Effekten kurzfristiger CO2-Einsparungen im Flugverkehr – die Pandemie durch Einmalmaske bis hin zu Einmalgeschirr mit sich bringt. Unter planetaren Gesichtspunkten legt das prekäre Verhältnis von menschlicher, tierischer und Umweltgesundheit eine Triangulation nahe, die über die anthropozentrische »Global Health«-Disziplin hinausreicht. Nicht von ungefähr hat die führende medizinische Fachzeitschrift »The Lancet« den Übergang von »Global Health« zu »Planetary Health« gefordert (Horton et al. 2014, Whitmee et al. 2015). Mit »Planetary Health« vollzieht sich die enthierarchisierung im Dreieck »Human – Animal – Environmental Health«, das die WHO im Konzept von »One Health« vereint hat. Die Wechselwirkungen zwischen den drei Polen Mensch – Tier – Umwelt werden in letzter Zeit wesentlich kritischer gesehen. Das Mensch-Tier-Verhältnis kennt eine bisweilen abgöttische Zuneigung (und Nähe!) zu Haustieren genau wie die rücksichtlose Schlachtpraxis (im Verborgenen) für den Fleischkonsum. Nachdem Massentierhaltung und Tierversuche zur Herstellung von Medikamenten, Kosmetika und anderem lange fast widerspruchslos als Begleiterscheinungen von Konsum, Wachstum und Fortschritt hingenommen worden waren, haben Tierschützerïnnen und akademisch die »Human-Animal Studies« Einwände vorgetragen, ohne die massenhafte Schlachtung und Quälerei beenden zu können (Jaeger 2020, Radhakrishna/Sengupta 2020). Cornelia Funke, die Autorin und Analytikerin von Märchen, konstatiert, dass es in indigenen Märchen vor der Christianisierung »ein ganz selbstverständliches Verhältnis zu Tieren und Pflanzen gibt, wo man mit ihnen redet und sie göttliche Qualitäten haben. Nach der Christianisierung sind das plötzlich nur noch dumme Geschöpfe, der Mensch ist maßlos überlegen.« (Funke zit. in Spreckelsen 2021). Doch ist die Erkenntnis durchgedrungen, dass Tiere ein Bewusstsein, einen Willen und Gefühle besitzen und ihnen als Mitbewohnern des Planeten mehr Respekt entgegenzubringen ist. Die Verbreitung vegetarischer oder veganer Ernährung, die auf den Verzehr von Tieren und Tierprodukten verzichtet, liegt ungenauen Schätzungen zufolge bei 8 bzw. 1-2 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland und ähnlichen Gesellschaften, mit steigender Tendenz unter jüngeren Alterskohorten (VegaWatt 2020). Das hängt auch damit zusammen, dass Massentierhaltung nicht nur Wohl und Würde der Tiere verletzt, sondern in erheblichem Umfang zu Klima- und Umweltschäden beiträgt.
Das betrifft die zweite Achse Tiere – Umwelt, hier die belebte und nicht-belebte Natur. Die Zerstörung und Überbeanspruchung natürlicher Ressourcen für die Ausbeutung von Rohstoffen, die industrielle Produktion und das Netz von Dienstleistungen hat die Lebensräume von Tieren drastisch reduziert, ein kapitales Artensterben verursacht und u.a. die unten noch genauer erörterten Korallenriffe zerstört. Diese Verdrängung schmälert zentrale »Ökosystemleistungen«, wie man die Bereitstellung natürlicher Ressourcen für die wirtschaftliche Reproduktion in anthropozentrischer Terminologie genannt hat. Das Ausmaß der damit verbundenen Naturzerstörung wird auch an der visuellen Dokumentation von Umweltschäden durch meist aus großer Höhe aufgenommene Fotografien von Sebastiao Salgado, Edwin Burtynski und weiteren Kollegïnnen der Magnum-Kategorie deutlich (exemplarisch Burtynsky et al. 2018). Während man die Ebola-Epidemie in afrikanischen Ländern symbolisch als aggressiven Akt »der Natur«, hier der Regenwälder, gegen den Menschen auffasste, hat sich seither die Erkenntnis durchgesetzt, dass diese und andere gefährliche Viruserkrankungen Resultat des massiven menschlichen Eingriffs in die Ökosysteme und genau wie der Klimawandel anthropogen verursacht sind (Quammen 2013, 2020, Vidal 2020). Viren sind hochgefährlich, aber Hauptgefährder sind Menschen, die »entlegene« Naturreservate für Rohstoffgewinnung und Städtebau erschlossen und sich in nächste Nähe zu einer aufgescheuchten Tierwelt begeben haben, die in degradierten Zonen nachweislich mehr Viren tragen und das Infektionsrisiko erhöhen. Würde man der Tierwelt also Akteursrang zusprechen (wie es viele Vertreterïnnen der »Human-Animal Studies« annehmen), könnte man fast von einer Notwehrreaktion sprechen.
Nur wer das Leiden der Natur angemessen einordnet und anerkennt, kann die bisher vorherrschende Fokussierung auf die dritte Achse Umwelt – Mensch vermeiden, welche auch die meisten »Global Health«-Programme bestimmt. Im Zentrum dieser Programme steht, neben der Bekämpfung von »Geißeln der Menschheit« wie Malaria, Pocken und Tuberkulose und der Eindämmung der Kindersterblichkeit, der Schutz des Menschen vor Gefährdungen durch Umwelt und Tierwelt. Oder die Prävention der u.a. durch die globale Erwärmung bedingten Zunahme von Tropenkrankheiten in klimatisch gemäßigten Zonen des Globalen Nordens, und die Zunahme der durch falsche Ernährung, Bewegungsmangel, Rauchen, Alkoholismus und Umweltverschmutzung bedingten »Zivilisationskrankheiten«. Dabei wird stets eine einseitig von der belebten und unbelebten Natur ausgehende Bedrohung unterstellt, weniger die anthropogene Disruption natürlicher Kreisläufe. In einer planetaren Perspektive sind deswegen alle drei Pole gleichrangig und relational zu behandeln. In diesem Sinne ist die SARS-CoV-2-Pandemie keine »Strafe Gottes«, eher eine Entgleisung des gestörten Verhältnisses von Mensch und Tier und Umwelt. Nicht-menschlichen Tieren und der nicht-belebten Natur kommt eine solche Wirkmächtigkeit zu, dass ihre Abstellung in reine Objektbereiche unhaltbar geworden ist.
Damit ändern sich die Parameter für Politik und Pädagogik, die ihren Horizont planetar erweitern müssen. Der Normalbetrieb von »Global Health« wird sich weiterhin auf intergouvernementale Aushandlungen und Abmachungen konzentrieren, um die Verfügbarkeit von Impfstoffen, die Dislozierung von Katastrophenmedizin, aber auch gesundheitliche Aufklärung und Prävention und die Mobilisierung von Ressourcen für die medizinische Forschung und therapeutische Anwendung zu sichern. Zu den UN-Nachhaltigkeitszielen gehören »Good Health and Wellbeing« (# 3) und »Clean Water and Sanitation« (# 6) an vorderster Stelle, und die Anwendung von Nachhaltigkeitszielen, darunter der Verfügbarkeit einer Grundversorgung im Krankheitsfall für alle, auf das Gesundheitswesen selbst gehört zu den Zielen der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2021). Dass »My Nation First«-Politikerïnnen gegen die WHO Stellung bezogen und sich Staaten wie die USA aus diesem multilateralen Kooperationsnetz zurückgezogen haben, schadet der Weltgesundheit und wird von der Biden-Administration gerade korrigiert. Intergouvernementale und transnationale Gesundheitspolitik ist durch die Pandemie-Erfahrung von einem »nice to have« zu einer Existenzvoraussetzung nun auch in den reichen Ländern geworden.
»Planetary Health« weitet den Blick und bezieht die belebte und unbelebte Natur als Mitakteurin ein. Es müssen in dieser holistischen Perspektive radikal neue Güterabschätzungen vorgenommen werden, die im Mainstream der öffentlichen Meinung oft lächerlich gemacht wurden, wenn von Naturschützerïnnen etwa der Schutz von Krötenwanderungen oder die Baumbesetzungen im schon stark reduzierten Hambacher Forst reklamiert wurden. Derartige Biotope und Stewardship für bedrohte Arten sind in der heutigen Weltgesellschaft essentiell. Das Artensterben wirft dabei auch sogenannte »Grün-Grün-Konflikte« auf, wenn etwa die Sorge um Zauneidechsen als Einwand gegen die Errichtung eines Gigawerks für Elektroautomobile in Brandenburg genommen wird.
Abb. 55: Gehäkeltes Korallenriff, Margaret Wertheim.
Foto/Quelle: © Wertheim 2020
Abb. 56: Infografik über die Möglichkeiten, ein Korallenriff zu schützen.
Grafik/Quelle: © NOAA 2021
Erläutern kann man dies an einem Beispiel politischer Kunst, dem »Crochet Coral Reef« (Abb. 55), ein »Work in progress« der australischen Künstlerinnen Margaret und Christine Wertheim, die in Kalifornien tätig sind. Ihre raumfüllenden, unter anderem bei der Kunst-Biennale 2019 in Venedig gezeigten Exponate stellen Korallenriffe dar, die von rund 10.000 Frauen in 40 Ländern in Häkelarbeit hergestellt werden. Korallenriffe sind die größten von Lebewesen (hier Nesseltieren) geschaffenen Strukturen im Meer, die wegen ihrer Abmessungen und Ausdehnung über rund 600.000 km² einen bedeutenden physikalischen und ökologischen Einfluss auf ihre Umgebung ausüben und darin den Regenwäldern verwandt sind. Das um 2007 in kleinen Galerien gestartete Gesamtkunstwerk kombiniert auf idealtypische Weise erstklassiges Handwerk, theoretische und experimentelle Wissenschaft, ökologische Reflexion, Feminismus und politisches Engagement (Wertheim 2009). Die Häkelarbeiten reproduzieren die hyperbolische Form lebender Korallen und eine nicht-euklidische Geometrie, die man im Kosmos vorfindet, dessen plastisch-skulpturale und poetische Qualität damit sichtbar wird. Die Exponate, die man nicht als banales »Kunsthandwerk« abqualifizieren darf, sind als Gemeinschaftswerk Teil eines kollektiven Engagements von Laien zur Rettung der Korallenriffe vor ihrer endgültigen Zerstörung durch die klimabedingte Meereserwärmung, Sedimenteinträge und Eutrophierung. Schon bei einer Erwärmung um zwei Grad sehen Meeresforscherïnnen die Gesamtheit der Korallenriffe gefährdet und damit ein komplexes marines »Ökosystem« zerstört, das für die Lebensgemeinschaft von Pflanzen und Tieren (wie Weichtieren, Würmern, Schwämmen, Stachelhäutern und Krebstieren) und als Heimat pelagisch lebender Fische elementar ist (Leinfelder 2017, 2018). Und sie fügen sich ein in »Advocacy«- und »Stewardship«-Aktionen; die überwiegend beim Tauchen und Fotografieren erfolgende Beobachtung des Zustands der Korallenriffe ist ein Beispiel transdisziplinärer Wissenschaft, in der sich Laien und Wissenschaft verbinden (Florida Keys/Key West 2020) (Abb. 56).
Diese Form transdisziplinärer Forschung ist ein Eckpfeiler planetaren Denkens. Sie nutzt die Beiträge diverser Wissenskulturen und Handlungsgebiete bei der Identifikation und Bearbeitung von Problemen und vertraut insbesondere darauf, dass die (Wieder-)In-Wert-Setzung materieller und ideeller Umweltgüter nur unter aktiver Beteiligung von »Laien« möglich ist (Bergmann et al. 2008, 2010).
Planetarities
Die pluri- und transdisziplinäre Arbeit der Geschwister Wertheim und ihrer Mitarbeiterïnnen rund um den Erdball erscheint uns als ein exzellentes Vorbild für eine transformative akademische Tätigkeit, die unter planetaren Gesichtspunkten nicht an den Mauern der Universität und ihrer spezialisierten Exzellenzziele enden kann. Damit ist keine oberflächliche oder Autonomie beschneidende Politisierung gemeint, aber eine Öffnung der Spezialdisziplinen für planetare Fragestellungen. Mit den »Environmental Humanities«, die sich in einer deutschen Übersetzung am ehesten zwischen ökologisch geprägten Geisteswissenschaften und Umweltwissenschaften verorten lassen, ist in den vergangenen Jahren ein derartiges Forschungsfeld entstanden, das sich vom »Nature Writing« über die Geschichte bis zur Anthropologie und Geographie mit der geistes- und kulturwissenschaftlichen Interpretation globaler Umweltprobleme beschäftigt. Ähnlich wie der Denkanstoß des Anthropozän sind die »Environmental Humanities« mit dem planetaren Denken verwandt, aber nicht identisch. Erstens fokussieren die »Environmental Humanities« ihrem Namen nach auf die Umwelt. Wie wir beispielhaft an der potentiellen Entwicklung des Umwelt- zum planetaren Recht und zuletzt an den »Human-Animal Studies« gezeigt haben, weitet die planetare Perspektive hier noch einmal den Blick, da sie erdsystemare, interplanetare und kosmologische Wechselwirkungen berücksichtigt. Zweitens sind die »Environmental Humanities« noch immer vornehmlich »Wissenschaften vom Menschen«. Zugespitzt formuliert, blicken sie aus Sicht der Kultur auf die von den Naturwissenschaften identifizierten Umweltprobleme und versuchen diese kulturell zu deuten. Vielversprechender sind Vorschläge zum Aufbau einer integrativen Grundlagenwissenschaft, wie etwa jüngst zur Gründung der Geo-Anthropologie, die sich den komplexen Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Erdsystem widmen soll (Rosol/Schlögl 2018).
Das planetare Denken strebt ebenso zur Aufhebung der zwei Kulturen, geht jedoch darüber hinaus, indem es die Erde auch im interplanetaren Vergleich und als Teil des Kosmos betrachtet. Im planetaren Denken steht ein Wissen zwischen den Disziplinen und das sie verbindende Wissen im Vordergrund, ebenso die Suche nach Synergien, womit etwa die konzeptionellen Gemeinsamkeiten der Erdsystemwissenschaften mit dem indigenen Ansatz des »Living Forest« in den Blick geraten. Vorgeschlagen wird also ein Forschungs- und Bildungsprogramm unter der Überschrift »Planetarities«, das sich der Planetarisierung des Sozialen genau wie der Sozialisierung des Planetaren widmet (Chakrabarty 2021, Clark/Szerszynski 2020, Leggewie/Hanusch 2020, Pauli/Sontheimer 2020). Die Studiengänge »Planetary Future Studies« an der Universität Amsterdam oder die »Anthropocene Studies« an der Universität Cambridge zielen in eine ähnliche Richtung:
»In the Bachelor programme Future Planet Studies (FPS) we address, as the name implies, the future of our Earth. What will our life look like on the short and long term? Can we continue our living patterns and shape our environment as we are currently doing? The programme of FPS therefore aims at providing solutions to future challenges. Interdisciplinary is an important tool as the majority of these challenges are found on the interface between science and society. […] Every semester focusses on a theme, such as water and food, where we bring together the relevant knowledge from fields in natural and social sciences within each course in order to teach and study the full scope of the our planets future challenges.« (University of Amsterdam 2021)
»This MPhil [Anthropocene Studies] provides students with the necessary knowledge and skills to study, explore and critique the implications, tensions and challenges inherent in the idea of The Anthropocene: What does it mean for humanity to be considered a geological force? How might this change how humans think about the environment, themselves and their actions in the world? How can the sciences, social sciences and humanities each contribute towards understanding the ‘grand challenges’ that The Anthropocene signifies? Who might promote, and who might resist, this proposed nomenclature signifying ‘the age of humans’?« (University of Cambridge 2021)
Vorstellbar sind diverse Formate – von einer Propädeutik, die gleich im Anfängerstadium den Blick für Wechselwirkungen schärft, über Zusatzzertifikate im Rahmen eines Studium Generale bis hin zu eigenständigen Master- oder Doktorandïnnenprogrammen. Oder es werden übergreifende Einführungssemester geschaffen, wie an der Leuphana Universität Lüneburg; dort werden in weitgehend interdisziplinären Modulen nachhaltigkeitsorientiert grundlegende Methoden für ein wissenschaftliches Studium ausgebreitet (Abb. 57).
Abb. 57: Das Leuphana Semester vermittelt zu Beginn des Studiums nachhaltigkeitsorientiert übergreifende Kompetenzen.
Quelle: © Leuphana Universität Lüneburg 2020
Zu den Kernaufgaben Forschen und Lehren gehört im aktuellen Portfolio der Universitäten der Wissenstransfer, die Übermittlung von Forschungsergebnissen in die Gesellschaft der »Laien«. Auch ist die Notwendigkeit und Nützlichkeit eines fundierten Wissenschaftsjournalismus durch die Pandemie unter Beweis gestellt worden. Auf die Weise öffnet sich die akademische Welt der sie umgebenden Stadtgesellschaft, der kommunalen Daseinsvorsorge und der demokratischen Partizipation; Universitäten, von unmittelbarem Praxisdruck entlastet, können mehr als bisher die planetare Reflexion anstiften, begleiten und moderieren. Herkömmliche Forschungsprojekte, denen Multi- und Interdisziplinarität oft nur formelhaft zur Selbstverständlichkeit geworden ist, müssen in planetarer Sicht inhaltlich und institutionell angeschärft werden. So wird die pädagogische Provinz aufgebrochen und stellt die Selbstgenügsamkeit der Universität erneut in Frage – nicht im Sinne unmittelbarer »Praxisrelevanz« oder oberflächlicher »Public Relations«, sondern als vertiefte Reflexion von Praxisproblemen planetaren Ausmaßes.
Planetares Denken kann das Bildungssystem nicht unberührt lassen, das in einen Wissenschaftsbetrieb mündet, der sich einem wahrlich nicht mehr zeitgemäßen Exzellenzbegriff verschrieben hat. Schülerïnnen, die 2019 Freitag für Freitag demonstriert haben und der »Schulschwänzerei« geziehen wurden, haben zu Recht gefragt, was sie in der Schule lernen sollen, wenn sie ohnehin keine Zukunft haben. (Das Pathos wirkt nur aus etablierter Sicht verfehlt.) In einem beliebigen Schulbuch wird Modernisierung nach dem Stand soziologischer Erkenntnisse der 1980er Jahre behandelt (Beck 1986) – in ihren Dimensionen von Individualisierung, Rationalisierung, Differenzierung und Domestizierung (van der Loo/Reijen 1992, Wagner 1993, Degele/Dries 2009). Man könnte die empirischen Indikatoren und normativen Implikationen der hegemonialen Modernisierungstheorie unter planetaren Gesichtspunkten fast herumdrehen. Kultur- und Sozialtechniken für den Planeten erfordern mehr Konvivialität, eine gewisse Wiederverzauberung, Entdifferenzierung der Funktionssysteme und insgesamt eine große Portion »Verwilderung«.
Die Schülerproteste von »Fridays for Future« waren schon vor der Pandemie rückläufig, im Großen und Ganzen sind die Schülerïnnen auf die Schulbänke zurückgekehrt und alles ging weiter wie bisher – bis »Corona« erneut alles änderte. Zunächst schien die Chance vergeben, den Aufbruch dieser Schülerïnnen-Generation in praktische Bildungsreformen für den Klimaschutz umzumünzen, doch nun sind umso mehr mutige Schulleiterïnnen gefragt, nicht nur die »Freitage« ausdrücklich zum Lernen für die Zukunft zu reservieren und Formate zu erproben, die lokalen und globalen Klima- und Umweltschutz befördern. Und Kultusministerien, die in der Unterbrechung des Schulalltags eine Chance zu einem im besten Sinne polytechnischen Lernen erkennen, das nicht nur Wissen über Kohlenstoffdioxid vermittelt, sondern es in die komplexen Herausforderungen der Nachhaltigkeit einbettet. Klimawandel – auch an den Schulen! Zu wünschen wären »Klima-Labs«, in denen sich Lehrerïnnen, Schülerïnnen, Verantwortliche für den Klimaschutz in Stadt und Land, Vertreterïnnen von Handel und Industrie sowie Hochschulen zusammenfinden, in denen noch viele Freitage für die Zukunft stattfinden (Barth 2015, Barth et al. 2020, Timm/Barth 2020, Brandt et al. 2021).
In ein derart reformiertes Curriculum gehört unverzichtbar die Kunst, die in der planetaren Bewusstwerdung eine erklärte Vorreiterrolle übernommen hat (Guinard et al. 2020 zur Taipei Biennal, Latour/Weibel 2020 im ZKM Karlsruhe, Klingan et al. 2014 im Haus der Kulturen der Welt, Berlin). Die zeitlichen, räumlichen und materiellen Skalen des Planeten fordern das menschliche Vorstellungsvermögen heraus, wenn etwa Sonnenwinde oder magnetische Wellen in eine für die menschlichen Sinne zugängliche Form zu bringen sind. Exemplarisch tun dies die Künstlerïnnen Rafael Lozano-Hemmer (Canada/Mexico), Claudia Müller (Chile), Paul Rosero Contreras (Ecuador) und Michelle-Marie Letelier (Deutschland/Chile) und (Dokumentar-)Fotografien, die sich den Wechselwirkungen zwischen Mensch und Planet widmen, wie die Plattform »Slideluck Editorial« (Page 2020, Vogue 2020). Nicht nur wird die Frage nach »Agency« neu gestellt, hinterfragt werden auch die Störungen eines harmonischen ökologischen Gleichgewichts durch so chaotische wie gewaltige Phänomene wie Erdbeben, Winde, Tsunamis oder Vulkanausbrüche (Bobbette/Donovan 2019).
Abb. 58: »Prometheus delivered«, Thomas Feuerstein, 2017.
Skulptur/Quelle: © Thomas Feuerstein 2017
Ein exemplarisches Werk ist die Arbeit »Prometheus delivered« des Wiener Künstlers Thomas Feuerstein von 2017 (Abb. 58). Darin wandeln chemolithoautotrophe (steinfressende) Bakterien Marmor aus einer klassischen Prometheus-Figur von Nicolas-Sébastien Adam aus dem Jahr 1768 in Gips um; in einem Bioreaktor werden daraus menschliche Leberzellen gezüchtet, die der Künstler auf einer aus dem 3-D-Drucker stammenden Form aufbringt. Dieses Sci-Fi-Projekt greift einerseits auf neueste Forschungen zur Züchtung künstlicher Organe zurück und erschafft dabei neue Leberzellen, andererseits auf mythologische Bildwelten wie die Geschichte des »Feuerbringers« Prometheus (Leggewie et al. 2013). »Delivered« spielt auf das Ausgeliefert(sein) des Gottes an, der den Menschen das Feuer gebracht hatte, wobei sich »delivered« auch als Hinweis auf eine Befreiung lesen lässt. Andererseits ist das Wort »Liver«/Leber Teil eines Wortspiels: Es ist jenes Organ des von Zeus an den Felsen gebannten Prometheus, von dem sich ein Adler nährt, das ihm aber auch nächtens nachwächst, auf dass seine Qual niemals endet. Feuerstein übersetzt den Prometheus-Mythos in einen (re-)produktiven Zyklus, der zwischen dem menschlichen Körper und der Skulptur einen tatsächlichen materiellen Bezug herstellt.
Abb. 59: Gaia, Luke Jerram.
Foto: © Southall, Quelle: My-Earth 2020
Ein populäreres Beispiel ist »Gaia« (Abb. 59). Das Werk des britischen Künstlers Luke Jerram mit einem Durchmesser von sieben Metern und 120 dpi detaillierten NASA-Bildern der Erdoberfläche ermöglicht es, den Planeten Erde in drei Dimensionen schwebend zu sehen. Kombiniert wird diese Optik mit einer speziell angefertigten »Surround-Sound«-Komposition des Komponisten Dan Jones. Das Kunstwerk ist 1,8 Millionen Mal kleiner als die wirkliche Erde, wobei jeder Zentimeter der von innen beleuchteten Skulptur 18 km der Erdoberfläche darstellt. Von 211 Metern Entfernung zum Kunstwerk ist die Erde so zu sehen, wie sie vom Mond aus erscheint. Die wechselnden Präsentationen des Oeuvres, das den »Overview«-Effekt auf die Erde zurückholen soll, kann man auf einer Webseite verfolgen (Jerram 2020, My Earth 2020).
Dr. Pangloss und die beste der Welten
Ein neues Curriculum zu etablieren, war die Absicht der europäischen Aufklärung. Dafür stand das Projekt der »Encyclopédie«, ein disziplinübergreifendes Kompendium des damaligen Wissens, das nicht zuletzt von Anstößen der Naturwissenschaften und planetarer Konstellationen inspiriert war. Einer ihrer Mitarbeiter war der Philosoph Voltaire. Pangloss taufte er einen Menschen, der übertriebenen Optimismus an den Tag legt und fest überzeugt ist, »in der besten der Welten« zu leben. Die Kunstfigur dichtete Voltaire in dem satirischen Roman »Candide ou l’optimisme« 1759 Leibniz und anderen an; sie traten den Gottesbeweis (Theodizee) mit der Überzeugung an, Gott habe in seiner Allmacht keine andere Welt erschaffen als genau die in Wirklichkeit existierende, eingeschlossen des in der Welt befindlichen Bösen, da es letztlich ja auch dem Guten diene. Um das zu widerlegen, schickte Voltaire Dr. Pangloss mit dem jungen Candid auf die Reise durch eine Welt voller Schrecken, deren Ansicht das Lesepublikum von grundlosem Optimismus abbringen sollte (Voltaire 1971).
Der planetare Hintergrund dieses Lehrstücks ist das von Voltaire bereits in seinem Langgedicht »Poème sur le désastre de Lisbonne« gewürdigte Erdbeben in Portugal, dem 60.000 Menschen zum Opfer gefallen waren und dessen Schub für Säkularisierung und Rationalisierung sorgte, wie wir im zweiten Kapitel erörtert haben. Dass nichts mehr bleiben solle wie zuvor, ist eine angesichts großer Katastrophenschäden häufig geäußerte Überzeugung, die in der Regel dadurch konterkariert wird, dass das Leben trotz aller physischen und materiellen Schäden hernach wenigstens auf den ersten Blick unverändert weitergeht. Eine Widerlegung des Gottesbeweises, die viele mit und nach Voltaire im Sinn hatten, steht hier nicht an, auch wenn manche das SARS-CoV-2-Virus für eine Strafaktion höherer Mächte halten oder es in quasi-religiöser Inbrunst verleugnen. Vielmehr kann man »nach« der Pandemie ganz säkular die Frage aufwerfen, ob man angesichts der relativ hohen Opferzahlen, der materiellen und finanziellen Schäden und vor allem der menschlichen und sozialen Irritationen eine Rückkehr zur Normalität postulieren kann – in die »beste der Welten« vor dem Jahr 2020? Wohl kaum.
Niemand kann bereits eine Bilanz dieser Pandemie ziehen, um nun in die eine oder andere erwünschte Richtung umzusteuern (Kortmann/Schulze 2020, Volkmer/Werner 2020). Zu erwarten sind eher tastende und widersprüchliche Lernprozesse, die sich zu einem unbekannten Ergebnis summieren, das man erst Jahre, vielleicht Jahrzehnte später bilanzieren können wird. Die Zweifel haben sich freilich verstärkt, dass die Menschheit vor dem »Ausbruch« der Pandemie in der besten der Welten gelebt habe, in die es nun – gut geimpft und einigermaßen immun – zurückzukehren gälte. Dabei sind Hoffnungen auf die Rückkehr zu gewohnten Sozialbeziehungen, Lebensstilen und Annehmlichkeiten des Lebens nur allzu verständlich und wird »the new normal« eher bedrohlich wahrgenommen. Doch stehen Krisen an, die noch schwerer zu lösen sein werden als »Corona«: der antidemokratische Backlash, diverse Spielarten des Terrorismus, ein Auseinanderbrechen der Europäischen Union, Eskalationen an geopolitischen Brennpunkten der Weltgesellschaft. Und nicht zuletzt: die Klima-Krise.
Gemeinsam erscheint beiden, der Klima- wie der Coronakrise, die globale Dimension und Unausweichlichkeit, auch was die Exponiertheit besonders vulnerabler Gruppen und die Außerkraftsetzung von Grundfreiheiten und Bürgerïnnenrechten anbelangt; bei allen Unterschieden der regionalen Betroffenheit und sozialstrukturellen Ungleichheit sind beide Krisen im emphatischen Sinne globale Erscheinungen (Milanovic 2020). Und es sind keine Naturkatastrophen im engsten Sinne, sondern anthropogen verursachte Sozialkatastrophen. Doch während »Corona« ein singuläres Ereignis mit einem Anfangs- und Schlusspunkt sein könnte (das sich freilich in vergleichbaren Pandemien wiederholen kann), ist der Klimawandel eine schleichende und säkulare Katastrophe; dort stehen die »tipping points« am Ende einer langen Entwicklung, während die Pandemie durch ein Kippelement getriggert wurde. Und während bei ihrer Eindämmung alles auf das verantwortliche Verhalten des Einzelnen ankommt, ist das klimagerechte Handeln Einzelner ohne institutionelle Skalierungen frustrierend irrelevant.
Unter dieser Bedingung lassen sich auch positive Kippelemente erkennen, die effektiven Klima- und Artenschutz wieder befördern, die also nicht die Sehnsucht nach der Rückkehr in eine Welt stärken, wie wir sie kannten, sondern den Mut zu transformativen Schritten steigern. Lässt sich also die erzwungene, fremdbestimmte Selbstdisziplin, d.h. eine massive Unterdrückung kurzfristiger Impulse zur Erzielung langfristiger Ziele, überführen in eine selbstbestimmte Selbstdisziplin zugunsten einer besseren Welt? Die Erdsystemforschung hat eher technisch-soziale Kippelemente (STE) in den sechs Feldern Energieproduktion, Urbanisierung, Finanzmärkte, Wertesysteme, Bildungswesen, Informations-Feedback ausgemacht, denen entsprechende Interventionstypen zugeordnet sind: Umsteuerung öffentlicher und privater Investitionen in die dezentrale Erzeugung alternativer Energie, CO2-freier Städtebau und Transport, transparente Informationen und Bildungsprogramme. Schlüsselakteure sind Regierungen mit hoher Hebelwirkung, Kommunen in der Nähe zur Lebenswelt, umweltfreundliche Peer-Gruppen, Nichtregierungsorganisationen und Akteurïnnen der politisch-kulturellen Bildung sowie nicht zuletzt die Finanzwirtschaft, die ihre Doktrin der Marktneutralität aufzugeben bereit scheint, indem sie »grüne« (bzw. »blaue«) Unternehmungen präferiert (Otto et al. 2020, FAZ.NET 2020). Manche Szenarien lass auch noch das 1,5-Grad-Ziel erreichbar erscheinen (Kuhnhenn et al. 2020). Normative Leitlinien sind die globale Klima- und Umweltgerechtigkeit und die Übernahme von sozialer Verantwortung auch für entfernte Erdenbewohnerïnnen, wir würden hinzufügen: ein planetares Bewusstsein. Dazu müssen multilaterale Politiknetzwerke gestärkt bzw. wiederhergestellt, supranationale Organisationen von den Vereinten Nationen bis zu Städtepartnerschaften ermächtigt, wissenschaftliche Expertise und Kooperation anerkannt und, da sich Kipppunkte regional unterschiedlich ausprägen, die Etablierung neuer Instrumente wie Öko-Regionen und Bürgerräte erwogen werden. Die größten Defizite bestehen im Ressortegoismus der Ministerialverwaltungen, die Umwelt- und Klimapolitik als separates Politikfeld zur nischenhaften Bedeutungslosigkeit verdammen, und in der fragmentierten Architektur globalen Regierens. Erst wenn beides überwunden wird, mündet planetares Denken in ein planetares Handeln, das über konventionelle Umweltpolitik hinausreicht.
Was also kann man aus der Corona-Krise prospektiv lernen? Die Pandemie hat die globale Vernetzung schockhaft ins Bewusstsein gehoben – kein Land ist eine Insel und das Virus kennt keine Grenzen. Brutal hat die Corona-Krise jenen Ausnahmezustand aufoktroyiert, den die Menschheit beim Klimawandel unbedingt vermeiden will, aber auch bewiesen, dass gewisse Freiheitsbeschränkungen hingenommen werden, um weit größere Freiheitseinschränkungen durch eine zerstörte Gesundheit zu vermeiden. In diesem Notstand wurden finanzielle und organisatorische Ressourcen in einem selbst nach der Finanzkrise 2008/2009 für undenkbar gehaltenen Umfang mobilisiert. Dieser Kraftakt, der dem punktuellen und plötzlich eingetretenen Notfall angemessen scheint, muss auch der schleichenden Katastrophe gelten, die wohl für niemanden mehr räumlich und zeitlich weit entfernt liegt. Für Anpassung und Vorbeugung wurden im Gesundheitswesen Investitionen getätigt und unerwünschte Wirtschaftsaktivitäten verhindert, die in der Klimapolitik ihresgleichen suchen. Im Blick auf Vorsorge und Nachhaltigkeit werden Klimainvestitionen umso teurer, je länger man mit ihnen wartet.
Die Pandemie hat das Bewusstsein einer Zäsur und der Unausweichlichkeit eines tiefgreifenden Wandels verstärkt. Schon haben sich gesellschaftliche Struktur- und Systemeigenschaften und -verhältnisse nachhaltig verändert; die »Subsysteme« Gesundheit, Wissenschaft und Politik sind wenigstens temporär aufgewertet worden, zugleich aber hat sich die soziale Ungleichheit innerhalb und zwischen den nationalen Gesellschaften verschärft. Transnationale Interaktionen sind ins Stocken geraten, die globalen Interdependenzen und Wechselwirkungen dafür aber noch deutlicher geworden. Auch werden spirituelle »Jenseits«-Erwartungen thematisiert, die zum einen planetare Demut üben, aber zugleich Eskapismus, Paranoia und andere pathologische Reaktionen nach sich ziehen. Die relative Autonomie der Subsysteme kann man nicht durch eine Unterordnung aller unter das der Wissenschaft (»follow the science«) unterlaufen, die Ungleichheit kann auch durch Transformationsmaßnahmen wachsen, und aus der Globalisierung steigt man nicht ohne Folgen aus – von »Corona« zu »Klima« führen daher weder direkte Analogien noch zwingende Schlüsse. Die Erfahrung der Pandemie kann mental genauso auf Verdrängung und Dissimulation anderer Krisenphänomene hinauslaufen wie Aufmerksamkeit schärfen.
Genau wie zur Aufhebung des hochspezialisierten Fakultätendiskurses an den Universitäten in eine holistische Richtung drängen daher Klima- und Artenschutz und ähnlich dringliche Aufgaben zu einer Reorganisation der Exekutive. Die in London tätige Wirtschaftsprofessorin Mariana Mazzucato (2021) empfiehlt, die notorischen »Silo-Interessen« einzelner Politikfelder – ein Exempel ist die völlig lobbyabhängige EU-Agrarpolitik – durch akteurs- und sektorenübergreifende »Missionen« zu überwinden, um Politikerfolge zu beschleunigen. Solche Missionen können die Krebsbekämpfung, Emissionsreduzierungen, die Vermeidung tödlicher Unfälle im Straßenverkehr oder die Stärkung der Prävention im Gesundheitswesen sein – oder eben Dekarbonisierung. Keines dieser Ziele kann von einzelnen Ressorts bewältigt, aber auch nicht zur »Chefsache« an der Spitze der Exekutive delegiert werden, vielmehr bedarf es der flexiblen Mitwirkung aller Ressorts, die über die Erreichung der gesteckten Ziele Sektor für Sektor Rechenschaft ablegen müssen.
Das Corona-Erlebnis kann also Energien bremsen oder Schwung geben für den nächsten Anlauf, den man ressortübergreifend auch »vor Ort« startet: Die auf der Erkenntnis »planetarer Grenzen« aufbauende »Doughnut-Ökonomie« haben wir im vorangegangenen Kapitel vorgestellt. Um diesen Ansatz zu erden, ist das Konzept auf die lokale Situation einzelner Städte herunterskaliert worden. Ein prominentes Beispiel, angestoßen durch die Erfinderin des Konzepts, Kate Raworth (2018), ist der »Amsterdam Doughnut« (Abb. 60), ein zukunftsorientiertes »Selfie« der niederländischen Großstadt, die durch viele progressive Vorstöße der Stadtentwicklung aufgefallen und international vernetzt ist. In acht Schritten möchte eine dortige Initiativgruppe zu transformativem Handeln übergehen (Boffey 2020, Raworth 2020): die aktuelle Lage Amsterdams in der Perspektive planetarer Grenzen spiegeln, eine ansprechende Zukunftsvision erarbeiten, lokale »Changemaker« und »Stakeholder« vernetzen, bestehende Initiativen erfassen, die grundlegenden Werte, Arbeitsmethoden und Narrative festigen, das »Momentum« erkennen oder erzeugen, vollzogene Schritte aus- und bewerten, ein anziehendes und lustvolles Erfolgsnarrativ darstellen. Lokale Ausgangslage und planetarer Kontext werden stets gegeneinander abgewogen. Lokal: Was würde ein »Doughnut«-Programm für die soziale Lebenswelt in Amsterdam und Umgebung bedeuten, was für das natürliche Habitat? Global: Was würde es sozial für die Menschheit bedeuten, und was für die Gesundheit oder Gesundung des Planeten als Ganzen?
Abb. 60: »The Amsterdam City Doughnut«.
Quelle: Raworth 2020
Der Ansatz ähnelt den in Deutschland eingerichteten Reallaboren. So heißen transdisziplinäre Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen, in denen sich Hochschulen, Kommunen, NROs, Unternehmen, staatliche Institutionen, Verbände unter dem Leitbild nachhaltiger Entwicklung als Pioniere des Wandels zusammenfinden. In dem experimentellen Setting werden unter Einbeziehung von Laien aus der Zivilgesellschaft Lösungen erforscht, erprobt und entwickelt (Reallabor Netzwerke 2020).35 Reallabore praktizieren im Sinne der oben geforderten polytechnischen Bildung »Citizen Science«, also die intellektuelle Mitarbeit, das lokale Wissen und die Bereitstellung von Mitteln und Ressourcen seitens interessierten Mitbürgerïnnen. Themenbereiche waren bisher Stadt(-teil-)entwicklung, CO2-Reduzierung oder Tourismusförderung; zu den Aufgaben von »Citizen Science« zählten die Beobachtung von Tier- und Pflanzenpopulationen und etwa die lokale Bestandsaufnahme von Insekten und Vogelarten, Gesundheitsfragen, Luftqualität oder Bildungsmaßnahmen.
Die Pandemie hat gelehrt, dass man auf die Resilienz, Anpassungsfähigkeit und vor allem Kreativität von Einzelnen und Gemeinschaften vertrauen darf, um Ausnahmesituationen zu meistern. Die Überführung der Pandemieabwehr in eine mittel- und langfristige Transformation legt vor allem den Übergang von der pandemiegebotenen Konzentration auf ältere Risikogruppen in die Zukunftssicherung der Jüngeren und Nachlebenden in einem neu zu bedenkenden Generationenvertrag nahe, die des Weiteren Fairness- und Inklusionsaspekte zur Gewährleistung von mehr sozialer Gerechtigkeit berücksichtigt und vom ad-hoc-Management auf langfristige Prävention umschaltet. Einen anderen Schauplatz nur scheinbar überwundener Ungleichheit und Diskriminierung hat die höhere Belastung von Frauen zur Behebung der Pandemiefolgen ins Licht gesetzt.
Dabei gilt es, die Demokratie gegen die von der Pandemie auf die Klimakrise projizierte Aufwertung autoritärer Politik als einziger Rettung in Schutz zu nehmen. Diktatorische Methoden, mit denen etwa die VR China die Pandemie eingedämmt hat (mit den Nebenfolgen, die man in den Konzentrationslagern im besonders betroffenen Xinjiang sieht), sind in demokratischen Rechtsstaaten nicht tragbar. Gefahr droht in liberalen Gesellschaften aber nicht nur »von oben«, seitens demokratisch legitimierter Regierungen, die den Ausnahmezustand für autoritäre Politik nutzen, sondern ebenso »von unten«, wo sich ein genereller Vertrauensverlust und der toxische »Widerstands«-Geist selbsternannter Querdenkerïnnen breitmacht. Dagegen helfen weiterhin eine ehrliche und transparente Kommunikation, die seriöse parlamentarische Debatte und die rechtsstaatliche Verankerung von Notstandssituationen sowie eine über den Tag hinausführende Erörterung zukünftiger Entwicklung durch strukturierte Bürgerïnnenbeteiligung (Leggewie/Nanz 2017). Tröstlich ist schließlich die in größten Katastrophenzeiten bestätigte Erkenntnis, dass immer Neues zu beginnen war, worin man weiter die Essenz des Politischen sehen darf (Arendt 1958).
Jan Vermeer, »Der Geograph«, 1669
Quelle: Wikimedia 2020d
Jan Vermeer, »Der Astronom«, 1668
Quelle: Wikimedia 2020e