III. Durchführung
»The biggest problem we face is a philosophical one:
understanding that this civilization is already dead.«
Roy Scranton 2018
»The biggest challenge is to save as much as we can:
as many trees, as many species, as many lives – soon, speedily, and without delay.«
Jonathan Franzen
Wie steht es nun um die menschlich-soziale Handlungsfähigkeit im Anthropozän, das als Hauptursache ökologischer Degradation Menschen identifiziert? Unterschiedlicher könnten die Positionen nicht sein. Zwei amerikanische Kommentatoren des Klimawandels, die dessen Wirkungen übereinstimmend katastrophal einschätzen, kommen zu weit divergierenden Schlüssen. Roy Scranton, Verfasser des Buches »We’re Doomed. Now What?« (2018), erklärt diese Zivilisation bereits für erledigt, sein Autorenkollege Jonathan Franzen fordert in einem sonst kaum weniger pessimistisch gehaltenen Essay rasches Handeln. Die Bandbreite der Positionen zu Klimawandel und Artensterben ist bekanntlich noch breiter gestreut: Leugnerïnnen und Verharmloserïnnen plädieren für ein kaum modifiziertes »Weiter so!«, andere visieren große technische Lösungen an, um der Folgen Herr zu werden – die oft ihr Ziel nicht erreichen oder schädliche Nebenwirkungen mit sich bringen.
Planetare Grenzen
Wie also, fragen wir in diesem Kapitel (auch als Politikwissenschaftler), lässt sich planetare Politik gestalten, die den tiefenökologischen Interdependenzen gerecht wird, ohne in aporetische Resignation und Apathie zu verfallen? Beginnen wir mit einer realistischen Lageeinschätzung. Für eine Zivilisation, die den planetaren Perspektivwechsel verweigert, sind die Überschreitungen der ökologischen Belastungsgrenzen zur veritablen Existenzbedrohung geworden. Planetar denkt, wer planetare Grenzen respektiert, die von der Erdsystemforschung plausibel erläutert worden sind, und am Horizont einer seit Jahrhunderten auf infiniten Fortschritt und ständiges Wachstum gepolten technischen Zivilisation steht – deutlich sichtbar – ein Stoppschild: »Do not enter!«14 Das schon häufig abgebildete Schaubild (Abb. 41) verdeutlicht, wo der Mensch diesen Warnhinweis ignoriert hat oder mit kaum gebremstem Tempo weiterfährt.
Abb. 41: Visualisierung der aktuellen Ausschöpfung und Überschreitung planetarer Belastungsgrenzen des Planeten.
Grafik: Müller 2019 nach Steffen et al. 2015, Quelle: Wikipedia 2021
Bei den biogeochemischen Kreisläufen (von Phosphor und Stickstoff) ist die Menschheit weit über die Grenzen hinausgeschossen, noch stärker, oftmals irreversibel, ist die Biosphäre versehrt. Das Ozonloch konnte geschlossen werden, doch die Klimakrise schreitet ebenso weit in den roten Bereich fort wie diverse Arten der Landnutzung. Andere Schadeinträge in die Bio- und Hemisphäre sind noch gar nicht kalkuliert und einbezogen. Menschliche Eingriffe können über Jahrzehnte relativ stabile planetare Zustände destabilisieren, bislang aber mit der partiellen Ausnahme des Ozonlochs diese nicht wiederherstellen. Es erscheint als narzisstische Kränkung des Homo sapiens, dass er mit planetaren Gesetzlichkeiten konfrontiert ist, die seine anmaßende Sonderstellung als Mensch komplett ignorieren. Und selbst wenn einige dieser Gesetzlichkeiten bekannt sind und Abhilfe zu schaffen wäre, kann sich der Planet über die selbstverstärkende Interaktion von »tipping points« (Kippelementen) des Erdsystems selbst bei Abbau einiger Stressfaktoren kasakadenartig in unvorhersehbare neuartige Zustände entwickeln (Abb. 42 und 43).
Abb. 42: Geografische Einordnung der wichtigsten Kippelemente im Erdsystem mit Angabe der Klimazonen. Die Kippelemente lassen sich in drei Klassen einteilen: Eiskörper, sich verändernde Strömungs- bzw. Zirkulationssysteme der Ozeane und der Atmosphäre und bedrohte Ökosysteme von überregionaler Bedeutung.
Grafik: Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung 2017, Quelle: PBP 2017
Abb. 43: Kippelemente in Kontext der Entwicklung globaler Durchschnitts-temperaturen.
Quelle: Cai et al. 2016: 521, © Nature Publishing Group
Abb. 44: Welche Kippelemente vom Überschreiten der 2-Grad-Schwelle betroffen sind
Quelle: Schellnhuber et al. 2016: 650, © Nature Publishing Group
Ein Europa besonders betreffendes Element ist die mögliche Umkehrung des Nordatlantik- oder Golfstroms, der das milde europäische Klima ermöglicht und als »Warmwasserheizung Europas« bezeichnet wird – die ausfallen würde, ohne dass Europa einen Klempner kennt, den man zur Reparatur einbestellen könnte (Buckley/Marshall 2016, Caesar et al. 2018). Die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Kipppunkten ist in Schaubild 44 berechnet worden.
Der Temperaturbereich, in dem der jeweilige Kipppunkt liegt, wird als Säule dargestellt (WAIS = Westantarktisches Eisschild, THC = thermohaline Zirkulation = Meeresströmungen, die Ozeane verbinden und sich zu einem globalen Kreislauf vereinen, ENSO = El Niño-Southern Oscillation, EAIS = Ostantarktisches Eisschild). RCP steht für »Representative Concentration Pathway«, mit denen die Klimaforschung arbeitet. Die untere Kurve bildet den Temperaturverlauf der letzten 22.000 Jahre und die Erderwärmung, die sich aus vier verschiedenen IPCC-Szenarien ergibt, ab. Es gibt also gute Gründe, die seit Langem bekannten Anzeichen drohender Kipppunkte ebenso ernst zu nehmen wie die im Jahr 2020 täglich verfolgten Infektionsketten und -verläufe.
»Follow the Science«? Angesichts solcher Megarisiken macht sich auch noch Demokratieskepsis breit: Wäre es nicht besser, die der wissenschaftlichen Expertise folgenden Maßnahmen administrativ-autoritär durchzusetzen, statt sich auf langwierige Aushandlungsprozesse und Kompromissbildung einzulassen? »Demokratie benötigt Zeit, und diese Zeit haben wir nicht mehr!« heißt eine häufig zu hörende Panikreaktion, die das hohe Gut bürgerlicher Freiheit und Beteiligung zur Bekämpfung eines natürlichen Übels aufzuopfern bereit ist. Zu Unrecht wurde der Klimaforschung, genau wie neuerdings der Virologie, ein direktiver Ansatz angelastet, als hätten Wissenschaftlerïnnen die Ergebnisse ihrer Forschungen und Messungen als alternativlose Positionen verkündet und auf ihre »Umsetzung« in politische Schritte gedrängt. Dieses Missverständnis mag auf beiden Seiten vorhanden sein, aber es entspricht keineswegs dem Selbstverständnis des Mainstreams von Wissenschaft und Politik, die jeweils auf ihre Autonomie achten und Übergriffe zurückweisen.15 Sich angesichts der planetaren Grenzen aber noch auf ein positivistisches Wissenschaftsverständnis und das Ideal völlig wertfreier Objektivität zurückzuziehen, wäre verfehlt: Wissenschaftlerïnnen dürfen nicht schweigen, wenn sie die Folgen unterlassener Handlungen für die Zukunft des Erdsystems erkannt haben, und sie sind aufgefordert, an der Lösung gesellschaftlicher Probleme und Krisen mitzuwirken, wie das in der Pandemie mehr oder weniger unter Beweis gestellt worden ist. »Listen to the scientists!« (Greta Thunberg) ist die richtige Forderung. Und jede politisch-administrative Entscheidung muss sich auch im Notstands- und Katastrophenfall an den Maßstäben freiheitlich-demokratischer Verfassungs- und Rechtsstaaten messen lassen.
Planetare Politik
Als ein früher Symbolort planetarer Politik mag das Althing auf Island (»Thingvellir«) stehen, das auf dem Foto vor diesem Kapitel sowie dem Gemälde weiter unten (Abb. 45) zu sehen ist. Dort wurde eines der ältesten noch existierenden Parlamente der Welt gegründet, das über Jahrhunderte hinweg in der Silfraspalte tagte, in der die Erdplatten Europas und Amerikas aufeinandertreffen. Die landschaftlichen Gegebenheiten boten Schutz und Versorgung im Tal, so dass die Volksvertreter aus unterschiedlichen Inselteilen anreisen und den mehrtägigen Beratungen beiwohnen konnten. Parlamentarische Debatte auf schwankendem Boden mit ungewisser Erfolgsaussicht, wie aktuell das wirkt. In Frage steht heute aber die menschliche »Agency« im planetaren Maßstab (Betsill et al. 2020).
Abb. 45: In der Silfraspalte kam ab 930 das isländische Parlament zu politischen Beratungen über mehrere Tage zusammen. Zu sehen ist hier ein Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, das eine Zusammenkunft im 11. Jahrhundert darstellt.
Bild: William Gershom Collingwood ca. 1897, Quelle: British Museum 2020
Planetare Problemstellungen wie Klima- und Artenschutz erfordern hohe lokale Aufmerksamkeit, sind letztlich aber nur überregional und multilateral zu bearbeiten, wir meinen: im Zuschnitt einer »planetaren Politik«. Nationale Regierungen müssen über den historischen Schatten der ihnen historisch zu Gebote stehenden Staatlichkeit springen und sich eine grenzüberschreitende Umweltverfassung geben, die bei analogen Agenden durch Internationale Gerichtshöfe und Streitschlichtungsverfahren bereits auf den Weg gebracht worden ist. Wir hatten notiert, dass »planetar(isch)« auch im politischen Vokabular keine Neuheit ist: Auch große Nationalisten der Zwischenkriegszeit wie Ernst Jünger und Carl Schmitt hatten die Zeichen der Zeit erkannt und die rauschhafte Erfahrung des Weltkriegs entsprechend verarbeitet (Auer 2013). Doch nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs erhielt das Planetarische eine ambivalente Konnotation. Carl Schmitt baute im »Nomos der Erde« frühere Überlegungen zum Völkerrecht in Richtung einer Großraum-Theorie aus, die den bekannten Gegensatz von Land und Meer um den Antagonismus von Land und Luft ergänzte. Die terranen Ortungs- und Ordnungslinien der Fläche, schon aufgehoben in der als ufer- und gesetzlos empfundenen Weite des Meeres (»alles Welle«), das die dem Deutschen Reich überlegenen Seemächte USA und Großbritannien beherrschten, erfuhren eine weitere Ent-Ortung in dem raumlosen Universalismus der Lüfte, beherrscht durch die Flugzeuge, Raketen und späteren Raumschiffe derselben Mächte plus der Sowjetunion. Für Schmitt war der Verlust der Fläche ein Indikator des »Nihilismus der Moderne« schlechthin, das Planetarische somit ein Ort von Wirklichkeitsverlust (Schmitt 1950, Gehring 2006). Martin Heidegger, für den die »planetarische Plattheit des Meinens und Redens und Schreibens« ein Ausdruck der »Seynsvergessenheit« war, spitzte im Spiegel-Gespräch von 1966 den Affekt gegen Kommunismus und Amerikanismus und allgemein gegen die moderne Technik und liberale Demokratie zu: »Inzwischen dürfte in den vergangenen dreißig Jahren deutlicher geworden sein, daß die planetarische Bewegung der neuzeitlichen Technik eine Macht ist, deren Geschichte-bestimmende Größe kaum überschätzt werden kann […] Es ist für mich heute eine entscheidende Frage, wie dem technischen Zeitalter überhaupt ein – und welches – politisches System zugeordnet werden kann. Auf diese Frage weiß ich keine Antwort. Ich bin nicht überzeugt, daß es die Demokratie ist.« (Der Spiegel 1976: 206).
Wir werfen einen Blick zurück und konfrontieren zwei antagonistische Positionen zweier Privatgelehrter, Panajotis Kondylis und Nicolaus Sombart, in einem postumen Streitgespräch. Der konservative Kondylis stellte Politik in einer 1992 erschienenen Schrift bereits im Titel ausdrücklich in den planetarischen Kontext. Da es eine der ersten Darstellungen dieser Art ist, wollen wir ein Stück folgen: Als planetarisch versteht er treffend eine Welt, in der »keine Entwicklung und kein Ort von vornherein und auf immer als uninteressant für bestimmte Mächte gelten können« und sich »alle Seiten gezwungen sehen, ihr politisches Verhalten mehr oder weniger, direkt oder indirekt eingedenk der Konstellation der Kräfte auf dem ganzen Planeten festzulegen«. Folglich gibt es »kaum internationale Politik auf regionaler Ebene ohne planetarische Aspekte und Implikationen« (Kondylis 1992: 3-4). Damit berücksichtigt Kondylis sozialgeschichtliche Bestimmungsmerkmale der »Globalisierung« seit dem 16. Jahrhundert: Die graduelle Entwicklung der Weltgesellschaft von einer eher langsamen und locker-punktuellen Besetzung weniger Machtpositionen durch eine feudal-aristokratische und merkantile Elite über die staatlich-militärisch abgesicherte Besetzung großer Territorien im liberalen Imperialismus zur vollendeten Weltgesellschaft auf der Grundlage massendemokratischer Egalität der Ansprüche »von unten«.
Damit wiederholt sich die innere Ausdifferenzierung laut Pandylis freilich um den Preis, dass der »Verwandlung der patriarchalisch-sippenhaft organisierten Gesellschaften in Massengesellschaften«, denen prinzipiell universale Rechte zugestanden wurden, außerhalb der westlichen Hemisphäre keine technischen und wirtschaftlichen Fortschritte korrespondierten und die soziale Anomie in der Regel durch »totalitäre oder autoritäre, religiöse oder cäsaristische Massenbewegungen« beantwortet wird. Die Gemeinsamkeit der Ziele – Freiheit und Wohlstand – trage dann »nicht etwa zur Milderung, sondern geradezu zur Intensivierung von Konflikten bei« – Gemeinsamkeit des Zieles heißt nämlich »Konkurrenzkampf um dieselben Ressourcen, um dieselben Räume und um dieselben Prämien« (ebd.: 18), die das globale Telos (oder Fatum) – die Massendemokratie – mit nationalistischen, traditionalistischen und regionalistischen Ideologien nur verkleiden.
Überkommene Staatlichkeit, kann man daraus schließen, steht in der Weltgesellschaft von zwei Seiten unter Druck: ökonomisch seitens einer »vaterlandslosen«, auf weitreichende Deregulierung drängenden Wirtschaftselite, konstitutionell durch überstaatliche Kontrolle der Rechtsstaatlichkeit im Inneren und der gebotenen Vertragstreue nach außen. Rechts- und linkslibertäre Strömungen setzten auf ein Absterben des Staats, weil die »unsichtbare Hand« des Marktes oder solidarisch handelnde Kommunen den Wohlstand besser und gerechter sichern würden. Doch wurde das Ökonomische immer »öffentlicher« und ein (gewandelter) Staatsapparat gerade im Hinblick auf seine Rolle eher noch wichtiger, Anreize zu stiften, Krisen zu managen und dem Gleichheitsprinzip durch gelegentliche Umverteilungen zu genügen. Die massendemokratische »Ökonomisierung des Politischen« greift nach Kondylis auf die planetarische Politik über, da auch die internationale Ordnung am besten durch Leistungssteigerung zu erhalten ist, insofern wurde der Traum wahr, Handel werde den Krieg ablösen. Zusätzlich würden die Menschenrechte auf materielle, also ökonomische Standards zugespitzt. Damit sei noch kein »point of no return jenseits aller Interventionismen und Protektionismen erreicht«; es frage sich, ob wirtschaftliche Globalisierung »die Beseitigung aller Grenzen oder die Errichtung neuer Wirtschaftsimperien nach sich zieht, gegen die sich andere abgrenzen müssen.« Kondylis’ Fazit lautet: »Nähe, nicht Distanz erzeugt Friktionen.« (ebd.: 27). Souveräne Staatlichkeit beenden auch internationale Organisationen und Gerichtshöfe nicht; ökonomische Entgrenzung und universalethische Grundsätze führten eher einen Funktionswandel herbei; der Staat, ein »unendlich plastisches und anpassungsfähiges Instrument« (ebd.: 29), biete sich sogar als Mittel zur Durchsetzung solcher Universalien an und halte die Kontrolle. Hier diagnostiziert Kondylis treffend: »Grenzen werden in normalen Zeiten (viel) durchlässiger, sie fallen aber nicht, sondern sie bleiben im Hintergrund als ultima ratio für den Notfall bestehen […]« (ebd.: 34). Für diesen Notfall gibt es kein besseres aktuelles Beispiel als die Dominanz nationaler Alleingänge in der Corona-Pandemie.
Am Ende stürzt unser konservativer Gewährsmann in Gemeinplätze und Provokationen ab. Seine Bemerkungen zu möglichen Konstellationen nach dem Kalten Krieg haben sich schon überholt, da er zum Beispiel einen amerikanisch-chinesischen Wettbewerb um die Supermachtposition noch nicht im Blick hatte. Und bei der Prognose eines möglichen Umschlags der Ökonomisierung zur Biologisierung des Politischen polemisiert Kondylis gegen »unsere Ethiker«, die sich an der Ausarbeitung des Menschenrechtsuniversalismus abmühen. Diesem lastet er an, dass »Individuen unabhängig von jeder anderen Zugehörigkeit, Eigenschaft oder Bindung« (will sagen: ihnen »nur« die gleiche Würde zugesprochen wird) bei der Konkurrenz um verknappte Ressourcen in einen Überlebenskampf Mensch gegen Mensch eintreten werden, da ihnen der Universalismus eben nur noch biologische Unterschiede gelassen habe: »Hier ist etwas viel Elementareres am Werk, nämlich die Aggression des Tieres, wenn ein fremdes Tier in sein Revier eindringt.« (ebd.: 54). Universalismus schlägt nicht Rassedenken, sondern gilt als dessen Ursache! So lautet auch Kondylis’ Schlussfolgerung zur ökologischen Krise: wenn nicht zurück zu Armutsidealen, dann zu »sehr handfesten sozialen Hierarchien« (ebd.), die von der Massendemokratie doch eingedämmt werden sollten.
Einen ganz konträren Strang planetarischen Denkens präsentierte 1964 Nikolaus Sombart, der Planetarisierung ebenfalls als Schicksal und Aufgabe annahm, diese aber mit der damals aufkommenden, an vielen Stellen implementierten Idee politischer Zukunftsplanung kombinierte. Planetarisierung und Planung fallen bei ihm in eins.16 Der Soziologe sah die Menschheit an einen Punkt gelangt, an dem Planung nicht mehr »utopisches Postulat (ist), sondern das eigentliche Politikum, um das alles politische Handeln sich dreht.« Denn: »Es geht primär darum, der Gattung Mensch ein Auskommen auf dem Planeten zu sichern.« (Sombart 1964: 36-37). Damit war neben dem atomaren Selbstzerstörungspotential auch schon der nicht zu ignorierende ökologische Raubbau angesprochen. »Planetarisierung heißt, daß die Menschheit total über ihren Planeten verfügt, gleichzeitig aber auch, daß sie ihm total anheimgegeben ist.« (ebd.: 39). Wie in Teilhard de Chardins Vision der »Noosphäre« verblassen die konstitutiven Gegensätze von Zeit und Raum und von Land und Meer; die Luft gilt als das eigentliche Element der Planetarisierung. Weil die voraussehbare Zukunft eine Projektion der innerweltlichen Daseinsbewältigung geworden sei, stellt der Plan als »Möglichkeit der Rettung […] immer auch die abgewendete – ins Positive gekehrte – Katastrophe« dar.17 Im Bewusstsein der kulturellen Mannigfaltigkeit der Welt und ihrer kybernetischen Rückkoppelungsfähigkeiten könne Planung der Kern der Friedenspolitik der »Einen Welt« bilden, exemplarisch in Gestalt internationaler Organisationen, die nunmehr statt konventioneller Diplomatie eine der Zukunft des Planeten verpflichtete »Weltinnenpolitik« (Carl Friedrich von Weizsäcker) treiben aus dem Pokerspiel früherer Zeiten, um die Macht werde ein Schachspiel. Damit seien weder Interessengegensätze noch Feindschaften aus der Welt, aber »Feind« sei nun derjenige, »der statt Schach zu spielen die Figuren umwerfen möchte« und die Ausführung des »Totalplans« verhindert. »Im technischen Sinne, ein Saboteur; im moralischen, der Friedensstörer; im juristischen, ›hostis generis humanis‹, wie weiland der Pirat.« (ebd.: 60).
Dass derartige Feinde der Menschheit auch heute zuhauf existieren, demonstriert die Revision des von Sombart als beispielgebend herausgestellten Atomstoppvertrags oder die Nicht-Ratifizierung von Klimaverträgen. Das ist der empirische Einwand gegen seine Aktualisierung der »politique positive«; der epistemische lautet, dass die Zukunft des Planeten eben nicht aus der omnipotenten Position des »savoir pour prévoir« (Auguste Comte) vorauszubestimmen ist. Beides, die Beharrungskräfte der Realpolitik wie der enge Anthropozentrismus, haben die von Sombart und der »politischen Kybernetik« seiner Zeit genährte Planungseuphorie abklingen lassen, ohne dass damit aber die Aufwertung des Planetaren als Medium der Zukunftsbewältigung verfehlt gewesen wäre.
Zwischen Gigantomanie und Kollaps
Der technische Planungsoptimismus ist keineswegs abgeklungen. »Pläne« zur Lösung planetarer Probleme kann man grob unterscheiden in
•pragmatisch-inkrementelle Lösungen, die technische Nachhaltigkeitsinnovationen in ein groß dimensioniertes Geoengineering überführen;
•ein noch darüber hinausführendes »Terraforming«, ein Erdenduplikat im Weltraum,
•evolutionistische Ansätze, die mit James Lovelock und anderen ganz auf künstliche Intelligenz setzen,
•im krassen Gegensatz dazu aus der »Collapsology« und »Deep Ecology« erwachsene Dystopien, die vergangene Großkatastrophen hochrechnen und als Handlungsoption eher Trauerarbeit und den Rückzug in lokale Nischen anbieten.
Diese vier Ansätze sollen nun knapp skizziert werden.
Geoengineering
Seit es eine fundierte, am Erdsystem orientierte Diskussion um den vom Menschen verursachten Klimawandel gibt, werden technologische Kompensationen im großskaligen Maßstab mit Auswirkungen auf den gesamten Planeten erwogen und ansatzweise erprobt. Exemplarisch skizziert das Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft zwei Strategien: »Carbon Dioxide Removal« (CDR, Kohlendioxid-Entnahme) greift mit der Beeinflussung des Kohlenstoffkreislaufs in den Naturhaushalt der Erde ein, um Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu entfernen und langfristig zu speichern. Damit soll die Ursache der Klimaerwärmung, die erhöhte Kohlendioxid-Konzentration, verursacht durch die Emissionen aus fossilen Energieträgern, beseitigt werden. Andere Methoden wie das »Radiation Management« (Abb. 46) greifen in den Strahlungshaushalt der Erde ein, damit weniger Strahlung die Erde erreicht oder Strahlung ins Weltall abgegeben wird, um die Erderwärmung zu reduzieren, auch wenn Treibhausgase, insbesondere das sehr langlebige Kohlendioxid, in der Atmosphäre verbleiben (DFG 2019: 23).
Abb. 46: Sonne dimmen, Erde kühlen: Strahlungsminderung durch Weltraum-spiegel, Wolkenproduktion, Aerosolreflektion, Pflanzenkohledüngung, CO2-»Capture« und -Lagerung, alkanische Zugaben ins Meer u.a. Beispiele für Geoengineering.
Quelle: Lawrence et al. 2018: 3
Mögliche Nebenfolgen, die Science-Fiction-Produktionen wie »Snowpiercer« (2014) ausgemalt haben, werden im Jargon der Risikofolgenabschätzung so formuliert: »Wer die Erdtemperatur großtechnisch beeinflussen will, greift in Energie- und Stoffkreisläufe des Planeten ein und beeinflusst das gesellschaftlich-politische Gefüge auf schwer vorhersagbare Weise.« (DFG 2019: 42). Daraus ergibt sich ein Dilemma: »Dürfen wir Menschen Climate Engineering einsetzen, oder sind wir angesichts der für viele Menschen und Ökosysteme bedrohlichen Erderwärmung womöglich sogar dazu verpflichtet?« (ebd.). Das Umweltbundesamt (UBA) entschied sich grundsätzlich gegen einen Paradigmenwechsel in der Klimapolitik: weg vom Vorsorgeprinzip eines ressourcenschonenden Umweltschutzes (Mitigation) zu einer gemeinlastfinanzierten Symptombekämpfung: »Geo-Engineering-Maßnahmen seien allenfalls als Notfalloption vorzusehen, um für eine Situation gerüstet zu sein, in der sich – trotz erheblicher Anstrengungen im Bereich der Minderung und Anpassung – der Klimawandel beschleunigt und daher zusätzliche Maßnahmen erforderlich sind.« (Umweltbundesamt 2011: 43). Den Paradigmenwechsel befürwortet hingegen das »Ökomoderne Manifest« der kalifornischen Denkfabrik »Breakthrough Institute«. Das Anthropozän figuriert hier nicht als ein den menschlichen Einfluss auf den Planeten problematisierender Epochenbegriff, vielmehr wird die Überzeugung vertreten, »dass Wissen und Technologie, weise angewandt, ein gutes, wenn nicht sogar großartiges Anthropozän ermöglichen können« (Asafu-Adjaye et al. 2015), insofern ökonomisches Wachstum und negative ökologische Auswirkungen durch technische Effizienzsteigerung entkoppelt werden: »Urbanisierung, landwirtschaftliche Intensivierung, Kernenergie, Aquakultur und Meerwasserentsalzung sind alles Prozesse mit einem nachgewiesenen Potenzial, die Beanspruchung der Natur durch den Menschen zu verringern und nichtmenschlichen Spezies mehr Raum zu geben. Zersiedelung, extensive Landwirtschaft und viele Formen der Energieerzeugung durch erneuerbare Energien erfordern dagegen mehr Land und Ressourcen und lassen der Natur weniger Raum.« (ebd.). 18
Abb. 47: Wie andere Planeten (Venus, Mars etc.) in bewohnbare erdähnliche Himmelskörper umgestaltet werden, so dass dort menschliches Leben mit geringem oder ohne zusätzlichen technischen Aufwand möglich wird.
Grafik: Daein Ballard, Quelle: Wikipedia 2006
Terraforming
Wenn die Erde auf Dauer keine günstigen Bedingungen für menschliches Leben mehr bietet, ist eine Antwort darauf im Weltall gefragt (Abb. 47). Erneut bot die häufig von Naturwissenschaftlerïnnen geprägte Science-Fiction den Reflexionsraum für Vorstellungen der Kolonisierung anderer Planeten: Wenn der Mensch die Erde seinen Bedürfnissen entsprechend zurichtet, kämen dafür dann auf der Grundlage von Raumfahrt nicht auch andere Himmelskörper in Frage? Jack Williamson hat dies früh im Magazin »Astounding Science Fiction« 1942 als Terraforming bezeichnet. 1953 wurde dies im »Journal of the British Interplanetary Society« unter dem Titel »Planetary Engineering« (Hope-Jones 1953) aufgegriffen, und in einer systematisierenden Darstellung des Astrophysikers Martyn J. Fogg heißt es: »Terraforming is a process of planetary engineering, specifically directed at enhancing the capacity of an extra-terrestrial planetary environment to support life. The ultimate in terraforming would be to create an unconstrained planetary biosphere emulating all the functions of the biosphere of the Earth — one that would be fully habitable for human beings.« (Fogg 1995: 3). Während Williamson von der »Pulp Fiction« kommend zu einem Großmeister der Science-Fiction avancierte (und übrigens auch den Begriff der Gentechnik einführte), war für eine an dem Thema seit den 1970er Jahren verstärkt interessierte »Scientific Community« zwischen NASA und Weltraumforschung ein anderes Werk der anerkannten Autoren Michael Allaby und James Lovelock einflussreicher. Sie legten 1984 in Form einer Fiktion eine futuristische Blaupause für die Begrünung des roten Planeten vor.19 Ausgehend von Lovelocks Gaia-Hypothese entfalten sie ein Szenario für die Besiedlung des Mars als erdähnlichstem Planeten im Sonnensystem und ziehen daraus geologische, ökologische sowie soziopolitische Konsequenzen. Wie beim Geoengineering existieren unterschiedliche Auffassungen, wie die gewünschten evolutionären Effekte zu erzielen seien. Sie unterscheiden sich auch im Ausmaß der Modifikationen:
»Lovelock and Allaby thus presaged a debate within the present day terraforming community as to whether the goal of planetary engineering should be to create as near an exact duplicate of Earth as possible, or instead might be seeded with a minimum inventory of life and left to develop in its own way. They supported the latter approach, content to envisage an anaerobic Mars, where humans no longer require pressure suits to venture outside their habitats, but still need breathing gear.« (ebd.: 14)
Abgesehen von den fehlenden Realisierungsaussichten stellt sich im Hinblick auf einen kaum zu prognostizierenden Ausgang vor allem die ethische Frage, ob derartige Eingriffe vertretbar erscheinen oder ob es sich im Gegenteil gar um das Ausagieren einer »dem Leben« aus evolutionärer Perspektive inhärenten Tendenz zur Transformation der Umwelt handelt. Nichtsdestotrotz existiert an der »Colorado School of Mines« seit 2017 der Studiengang »Space Resources«, welcher im Weltraumbergbau schult, um die benötigten Rohstoffe zur Besiedlung anderer Planeten im Weltraum selbst zu gewinnen oder, wie etwa im Fall Seltener Erden, durch Asteroidenbergbau auf die Erde zu transportieren. Der Traum von einem planetaren Plan B für die Menschheit, wird heute vor allem im »Silicon Valley« geträumt. Die von Elon Musk geleitete »Space Exploration Technologies Corporation« (SpaceX) ist ein privates US-amerikanisches Raumfahrt- und Telekommunikationsunternehmen, das bereits Astronautïnnen für die NASA transportiert und langfristig die Mission »Mars & Beyond: The road to making humanity multiplanetary« (www.spacex.com/human-spaceflight/mars) verfolgt. Der als Visionär auftretenden Multi-Milliardär, bekannt durch die Produktion von Elektroautos sowie Stromspeicher- und Photovoltaikanlagen durch seine Firma Tesla, sieht die Notwendigkeit, die Bedingungen für eine multi-planetare menschliche Zivilisation zu schaffen, um intelligentes Leben im Universum zu bewahren. Offen ist, welche Regierungsform auf dem Mars etabliert wird. SpaceX geht von einem Selbstverwaltungsprinzip aus, da keine erdgebundene Regierung Autorität oder Souveränität über marsianische Aktivitäten habe (Cuthbertson 2020), wohingegen die Koloniepläne namens »Mars 2117« der Vereinigten Arabischen Emirate Autoritarismus antizipieren lassen (Grove 2021).
Digitale Noosphäre
Ähnlich techno-optimistisch argumentierte James Lovelock im Hinblick auf das Potenzial künstlicher Intelligenz. In seinem »letzten Buch« annonciert der Hundertjährige im Novozän »Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz« (Lovelock/Appleyard 2020), in welchem Cyborgs als Akteure einer verantwortungsvollen Verwaltung planetarischer Ressourcen zum Wohl zukünftiger Generationen auftreten. Dies tun sie im Sinne einer »Planetary Stewardship«: Wenn die Menschheit sich bewusst wird, dass sie das Erdsystem maßgeblich mitformt, kann sie ihren Einfluss auch zur Stabilisierung des Systems einsetzen. Allerdings sei die konventionelle Kontrolle problematischer Faktoren nicht mehr ausreichend effektiv:
»The scale, speed and complexity of twenty-first century challenges suggest that responses based on marginal changes to the current trajectory of the human enterprise— »fiddling at the edges«—risk the collapse of large segments of the human population or of globalised contemporary society as whole. More transformational approaches may be required. Geo-engineering and reducing the human pressure on the Earth System at its source represent the end points of the spectrum in terms of philosophies, ethics, and strategies.« (Steffen et al. 2011: 752)
Lovelock stellt sich entschieden gegen beide Möglichkeiten eines ökologischen Kollapses und digitaler Manipulation. Das Anthropozän ist für ihn Durchgangsstation zur kosmischen Intelligenz, welcher der beschränkte menschliche Geist einsichtig unterzuordnen ist: »Wir haben unseren Part erledigt.« (Lovelock zit. in Müller-Jung 2019). Der Mensch hat seine Sonderrolle nicht nur zugunsten einer Gleichberechtigung aller natürlichen Spezies aufzugeben, sondern auch die künstliche Intelligenz als überlegen anzuerkennen. Dieser erklärte Posthumanismus verfällt aber in eine »contradictio in adjecto«, wie Ottfried Höffe herausgearbeitet hat:
Abb. 48: »Machine Vision«, Miguel Chevalier, 2019, Software : Claude Micheli.
Bild/Quelle: © Miguel Chevalier 2019
»Der Posthumanismus […] kann sein Leitziel, die Gleichberechtigung aller natürlichen Spezies, nur dann erreichen, wenn er die Gleichberechtigung auf einer zweiten Stufe negiert und dem Menschen die Sonderstellung einer Sonderverantwortung zumutet. Daher plädiere ich […] für jene Alternative zu Trans- und Posthumanismus, die ich ›Oikopoiese‹ nenne. Statt den derzeitigen Menschen zu überwinden oder ihn ganz hinter sich zu lassen, gestalte (-poiese) der Mensch sowohl seine natürliche als auch soziale Umwelt derart, dass sie zu seinem oikos, zu seiner vertrauten und vertrauenswürdigen Heimstatt, werde.« (Höffe 2020: 11, vgl. Fuchs 2020, Herbrechter 2009, James 2017)
Rückzug in die lokale Nische
So wie man aus dem Anthropozän in den bisher referierten drei Varianten ein forciertes Technikplanungsprogramm entwickeln kann, ist auch eine gegenteilige, mal quietistische, mal apokalyptische Wendung denkbar – die Resignation vor der planetaren Reichweite von Klimawandel und Artensterben und die Einfühlung in den planetaren Prozess durch eine achtsame lokale Existenzführung. So hat der Schriftsteller und Vogelfreund Jonathan Franzen ausgerufen: »Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?« (Franzen 2020).20 In der Einschätzung, »dass wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können« (ebd.), legt er eine ethische Kalkulation vor: Die finanziellen, gesellschaftlichen und intellektuellen Anstrengungen zur Verhinderung eines nun nicht mehr abwendbaren Klimawandels versteht Franzen als Vergeudung von Ressourcen, die beim humanitären Projekt der Vorbereitung auf den Katastrophenfall dann fehlen. Um steigende Temperaturen überleben zu können, »muss jedes System, ob es nun die natürliche oder menschliche Welt ist, so stark und gesund sein, wie wir es eben gestalten können«. Demokratische Resilienz verlässt sich eher auf eine kommunitaristische Praxis denn auf den abstrakten Kampf zur Rettung des Planeten. Anders als Vertreterïnnen von Worst-Case-Szenarien ist Franzen von einer »heiteren Hoffnungslosigkeit im Angesicht der ökologischen Katastrophe« (Fuller 2013) fasziniert:
»Any good thing you do now is arguably a hedge against the hotter future, but the really meaningful thing is that it’s good today. As long as you have something to love, you have something to hope for.« (Franzen, 2019)
Ein wichtiger Treiber der ökologischen Krisendiagnose der Gegenwart ist neben dem gefährlichen Klimawandel die Wahrnehmung eines massiv erhöhten Artensterbens von epochalem Ausmaß: Im Gegensatz zum bekannten »Hintergrundaussterben« handelt es sich jetzt um den Beginn eines Massenaussterbens, von dem sich in der Erdgeschichte bereits fünf anhand von Ablagerungen mariner Fossilien rekonstruieren lassen. Gremien wie der Weltbiodiversitätsrat der Vereinten Nationen (»Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services«, IPBES) vertreten die Annahme vom »sechsten Sterben« (Kolbert 2015), das im Gegensatz zu früheren erdgeschichtlichen Krisenzeiten maßgeblich auf anthropogene Faktoren zurückzuführen sei.21 Unabhängig von der Kalkulation des globalen Aussterberisikos für verschiedene Artengruppen respektive der Überlebenswahrscheinlichkeit von Arten resümiert der Weltbiodiversitätsrat in seinem Bericht von 2019, die Rate des weltweiten Artensterbens liege bereits jetzt mindestens zehn- bis einhundertmal höher als im Durchschnitt der letzten 10 Millionen Jahre (IPBES 2019).22 Gesellschaftspolitische Szenarien adressieren »Das Ende der Evolution« (Glaubrecht 2019) weniger als posthumane Zukunft, die unter dem Kürzel »INTHE« (»Inevitable Near Term Human Extinction«) diskutiert wird, denn als apokalyptische Prognose. In dieser Perspektive sind die menschlichen Handlungsmöglichkeiten und technologiebasierten Ansätze (z.B. Geoengineering) ungeeignet, um die Auswirkungen problematischer planetarer Entwicklungen aufzuhalten. Insofern erscheinen gegenwärtige Gesellschaftsmodelle bereits durch ein erhöhtes Auftreten von Klima- und Wetterextremen in ihrer Stabilität bedroht und ein Prozess im Gange, am Ende dessen die Daseinsvorsorge für eine Mehrheit der Menschen nicht mehr gewährleistet sein würde.
Das zentrale Motiv dieses zwischen kritischer Wissenschaft und politischer Bewegung changierenden Diskurses ist der »Kollaps«. Unter diesem Titel untersuchte der Geograph Jared Diamond in historisch vergleichender Perspektive die Frage »Warum Gesellschaften überleben oder untergehen« (Diamond 2006).23 Der Bestseller rekonstruiert die gesellschaftlichen Reaktionen auf Veränderungen der – nicht nur natürlichen – Umwelt als entscheidenden Faktor. Während Diamond noch annahm, die Probleme seien nicht unlösbar und die Bedingungen für einen kollektiven Lernprozess gegeben, gewann in der öffentlichen Diskussion eine deterministische Perspektive an Kontur. Ein ebenfalls breit rezipierter Essay unter dem deutschsprachigen Titel »Der Planet schlägt zurück« beginnt mit dem Satz »Ich verspreche Ihnen, dass es schlimmer ist, als Sie denken.« (Wallace-Wells 2017).24 Im Blick auf die Erkenntnisse zur Erderwärmung sei unsere Vorstellungskraft überfordert, um Ausmaß und Auswirkungen des Klimawandels vollumfänglich zu begreifen. Ein Schlüssel zum Verständnis der in Gang gesetzten katas-trophischen planetaren Prozesse seien Rückkopplungen und Kaskadeneffekte: »Wasserfälle und Lawinen der Zerstörung, die unserem Planeten einen Schlag nach dem anderen verpassen, immer heftiger und aufeinander aufbauend« (Wallace-Wells 2019a: 33). Auch sei schon die nüchterne Sprache der Forschung ungeeignet, die Dramatik der Entwicklungen adäquat zu kommunizieren. Das Klimasystem sei eine »wütende Bestie« (Wallace Smith Broecker zit. in Stevens 1998 [eigene Übersetzung]) und »das Leben« sei inhärent selbstzerstörerisch – so die (gegen »Gaia« gerichtete) »Medea-Hypothese« des Paläontologen Peter Ward.
Eine Entsprechung findet das vom Zweifel am Eintritt einer ökologischen Katastrophe befreite Denken in den populären Szenarien einer post-normalen Gesellschaftswissenschaft französischer Provenienz: »In collapsology, it is intuition – nurtured by solid knowledge – which will be paramount. All the information contained in this book, however objective it might be, does not therefore constitute formal proof that a major collapse will take place soon, it merely allows you to increase your knowledge so you can refine your intuition and finally act with conviction.« (Servigne/Stevens 2020: 98-99). Hier findet sich das Szenario eines Zusammenbruchs, der das global dominante thermo-industrielle Zivilisationsregime, wenn auch geografisch und temporal differenziert, überrollt, in der Konvergenz sich wechselseitig verstärkender Entwicklungen (Klimawandel, Ende der Ölressourcen, Verlust der Biodiversität, Instabilität des Finanz- und Wirtschaftssystems). An die Stelle mathematischer Modelle, über deren Annahmen auch in der Klimawissenschaft eine kontroverse Diskussion geführt wird,25 tritt hier eine durch wissenschaftliche Erkenntnisse fundierte, aber durch soziale Befindlichkeit und existenzialistische Ethik angereicherte, gleichsam »gewissenhafte« sowie anwendungsbezogene Antizipation: Ist der bevorstehende Kollaps als »fait accompli« akzeptiert, wird die Zwangsläufigkeit der Entwicklung erkennbar und das Interesse richtet sich wie bei Franzen auf die verbleibenden individuellen und kollektiven Gestaltungsmöglichkeiten.
Diese Perspektive umfasst die philosophisch-psychologische Dimension der Selbstsorge, aber auch Strategien der Suffizienz und Resilienz. Vor diesem Hintergrund postulieren die Vordenkerïnnen einer in Frankreich vernetzten akademischen Alternativbewegung, die bis in die Popkultur ausstrahlt,26 in einem weiteren Band: »Ein anderes Ende der Welt ist möglich: Den Zusammenbruch erleben (und nicht nur überleben)« (Servigne et al. 2018 [eigene Übersetzung]). Als Vordenker der »Post-Kollaps-Gesellschaft« (Heimrath 2012) geht auch Jem Bendell von einem unvermeidlichen gesellschaftlichen Zusammenbruch aufgrund des Klimawandels aus, der vermutlich in den 2020er Jahren in den meisten Ländern der Welt stattfinden werde. Vor diesem Hintergrund präsentiert er »einen neuen Meta-Rahmen für die Konsequenzen für Forschung, Organisationspraxis, persönliche Entwicklung und öffentliche Ordnung, genannt die Deep Adaptation Agenda« (Bendell 2018). Die »Tiefenanpassung« korrespondiere mit (supra-)staatlichen Strategien zur – beispielsweise gesundheitlichen – Anpassung an die Folgen des Klimawandels, die schon bei der Erreichung der vereinbarten Klimaziele notwendig erscheinen.27 Dabei diskutiert Bendell verschiedene Szenarien des Zusammenbruchs (Kollaps, Katastrophe, Aussterben). Man müsse sich an Probleme wie Hunger, Zerstörung, Migration, Krankheit und Krieg anpassen und nicht »stolz darauf sein, die Normen der heutigen Gesellschaft einzuhalten, auch wenn sie zusammenbricht« (ebd.). Insofern adressiert er vor allem die psycho-soziale Disposition für post-nachhaltige Verhaltensweisen.
Aufstand gegen das Aussterben – diese Forderung fiel bei der explizit an das Motiv des Massenaussterbens anknüpfenden Aktionsgruppierung »Extinction Rebellion« auf fruchtbaren Boden.28 Die programmatische »Hoffnungslosigkeit« figuriert hier als Voraussetzung für Handlungsfähigkeit: »Hope dies – Action begins« ist der Titel eines Readers von »Extinction Rebellion Hannover« (2019). Zentrales Vehikel ist der postulierte Klimanotstand, in dem die bevorstehende Katastrophe gesellschaftlich erfahrbar wird und der die Akteurïnnen zu zivilem Ungehorsam und gewaltfreier Rebellion ermächtigt, wenn nicht gar zwingt. Dabei geht es allerdings nicht um die Durchsetzung konkreter klimapolitischer Forderungen in etablierten demokratischen Verfahren, sondern um einen radikalen Systemwechsel – unabhängig davon, ob dadurch der Eintritt disruptiver Entwicklungen noch verhindert werden kann. Dies erfordere die Mobilisierung einer kritischen Masse der Bevölkerung, die für eine politische Transformation ausreiche.29 Dafür werden auch wissenschaftliche Methoden der Erkenntnisproduktion angenommen: »Wissenschaft wird systematisch in Veränderungsprozesse eingebunden. Durch Modellierung und Simulation der jeweiligen Konsequenzen von Veränderungsmaßnahmen oder deren Unterlassung kann Wissenschaft als Instanz ohne Partikularinteressen vermitteln und Bürgerinnen bei der Auswahl und Gewichtung der Variablen beteiligen«, referiert die damalige WBGU-Generalsekretärin Maja Göpel (2019: 44) in der deutschsprachigen Ausgabe des »Extinction Rebellion«-Handbuchs.
Obgleich die Kollapsologie ohne systematischen Bezug zur etablierten Kathastrophensoziologie30 auskommt, vertritt sie ein auch dort artikuliertes ökologisches Verständnis von Katastrophen, das solche nicht als singuläre Ereignisse isoliert, sondern in einen planetaren Zusammenhang stellt und häufig anthropogen induziert sieht.31 Die sozialstrukturelle Dimension wird dabei von der Kieler Schule der Katastrophensoziologie als »Krasser sozialer Wandel« (Clausen 1994) und »Entsetzliche soziale Prozesse« (Clausen et al. 2003) akzentuiert. Anwendungsbezogen werden Katastrophen als »besonders folgenschwere Schadensereignisse, bei denen (anders als bei Krisenfällen) die ›Wendung zum Schlechten‹ bereits unwiderruflich eingetreten ist« interpretiert und gemäß DIN-Norm 13050 durch den »Massenanfall von Verletzten und Erkrankten« (MANV) charakterisiert (Krisennavigator 2020). Vom konkreten Katastrophenmanagement durchweg abstrahierend, definiert Ulrich Beck die Risikogesellschaft als »eine Katastrophengesellschaft. In ihr droht der Ausnahme- zum Normalzustand zu werden.« (Beck 1986: 105). Diese Diagnose korrespondiert sowohl mit der Wahrnehmung einer Zunahme von Phänomenen, die als katastrophisch klassifiziert werden, als auch mit der Einschätzung einer gesteigerten Anfälligkeit von Natur und Gesellschaft für immer neue Risiken. Dadurch rückt die Messung von Vulnerabilität und Resilienz in den Fokus einer systemischen Katstrophenforschung, die an den Nachhaltigkeitsdiskurs anschließt. Für ihn bleibt, gerade aus planetarer Sicht, eine präventive Prämisse konstitutiv, die weder einen ökologischen, noch einen gesellschaftlichen Kollaps einzukalkulieren bereit ist. Doch kann die Kumulation von Kipppunkten und die Häufung von Katastrophenfällen einen Kollaps anzeigen.
Wir haben hier vier Auswege exemplarisch herausgegriffen, die vor dem Hintergrund ganz konträrer Weltwahrnehmungen die Bandbreite politischer Interventionen anzeigen, die bei Geoengineering und Terraforming technokratisch gerichtet, sich bei Lovelock und anderen künstlicher Intelligenz anvertraut und bei »Extinction Rebellion« radikalen Protest macht. Eine Perspektive »globalen Regierens« mit demokratischer Legitimation erscheint in allen drei Fällen nebensächlich oder fehlt fast völlig. Diesem Abgesang möchten wir mit dem Hinweis auf die aktuelle Debatte um eine globale Umweltverfassung und planetar erweiterte »Governance« entgegentreten. Dabei fragt sich vor allem, wie die in der akademischen Forschung und öffentlichen Wahrnehmung dominanten Erklärungsansätze von »Global Governance« und Internationalen Beziehungen durch eine planetare Perspektive bereichert werden können, die nicht-menschliche Akteure angemessen einbezieht. Und wie eine weltbürgerliche Perspektive zu entwickeln ist, die mundane Kosmo-Politen in eine weitere Kosmo-Logik überführt.
Eine Kosmo-politische Perspektive
In vor allem zwei Hinsichten ist der Kosmopolitismus im 20. Jahrhundert ausgebaut worden – in Richtung auf eine Transnationalisierung liberaler und sozialstaatlicher Verfassungsgrundsätze und in Richtung auf Institutionen »globalen Regierens«, das nationale Grenzen überschreitet und demokratisch legitimiert ist. In der Neuzeit waren Rechtsgarantien stets an den Nationalstaat gebunden, eine Standardannahme, auf welche die Durchsetzung von Menschenrechten letztlich angewiesen blieben. Jeder idealistisch motivierte oder in einem »Policy«-Feld wie »Umwelt« von der Sache her gebotene Überschuss blieb in diese Souveränitätsschranke verwiesen. Der grenzüberschreitende Charakter von Normen und Problemlagen wurde sehr wohl erkannt, aber die Akteure agierten weiter im systemischen Rahmen ihrer nationalen Verfassungsordnungen. Die Europäische Union sorgte allerdings mit ihrer speziellen, weder als Staatenbund noch als Bundesstaat einzuordnenden Mehrebenen-Architektur für eine Aufweichung eherner Souveränitätsvorbehalte (Wainwright/Mann 2018).
Gemessen daran, ist das Ziel eines »Global Environmental Constitutionalism« hoch ambitioniert. Verfassungen sind in der Moderne formuliert und verankert worden, um politische Macht zu zähmen und Alleinherr-scherïnnen und Oligarchïnnen an Regeln zu binden. Legalität und Legitimität staatlicher Ordnungen wurden durch Parlamente und Gerichte kontrolliert, die Gewalten geteilt und persönliche Grundrechte der zu Bürgerïnnen aufgestiegenen Untertanïnnen garantiert. So wurden deskriptiv Verhaltensregeln organisiert und präskriptiv Ideen und Normen niedergelegt. Der als Konstitutionalisierung bezeichnete Prozess, der eine Fülle von (kulturell geprägten, Suami et al. 2018) Varianten hervorgebracht hat, war dynamisch, nicht zuletzt seit den 1970er Jahren durch den Einschluss umweltpolitischer Verfassungsnormen. Im Übrigen unterstützte er den Prozess der Demokratisierung (beginnend mit der Festlegung freier, allgemeiner und fairer Wahlen, dem Ausbau der Rechtsstaatlichkeit und der Delegation politischer Kontrolle an eine Verfassungsgerichtsbarkeit), die Verfassungsgebung kann sich aber auch mit mehrheitsdemokratischen Entscheidungen des Souveräns reiben. Als globalen Konstitutionalismus kann man im Anschluss daran zum einen die Diffusion von Verfassungsregeln in bis dahin autokratisch regierten Gesellschaften, zum anderen die Übertragung konstitutioneller Vollmachten an transnationale Institutionen wie Internationale Gerichtshöfe und Organisationen identifizieren, die ein überstaatliches Recht kodifizieren. Übertragen auf ökologische Erfordernisse und im Rahmen von Konventionen zu Nachhaltigkeit kann man einen globalen Umwelt-Konstitutionalismus skizzieren, der nationale Verfassungsbestimmungen zum Umweltschutz aufgreift. Auch hier können Spannungen zwischen normativen Grundlagen, multilateralen Regulierungen und der Legitimation durch demokratische Mehrheitsentscheidungen und Bürgerbeteiligung entstehen.
Was können Beiträge des Rechts zum »Erdsystem« sein? Ursprünglich ein Mittel der Ausübung von Herrschaft, verwandelte Konstitutionalisierung das Recht in ein Mittel der Kontrolle beziehungsweise der normativen und prozeduralen Legitimation von Herrschaft; es bekam damit eine Garantiefunktion, die die Erwartungen der Individuen auf eine verlässliche und voraussehbare Grundlage stellte und mögliche Konflikte in einer transparenten und gewaltfreien Weise regelte. Dadurch gestaltet das Recht sozialen Wandel mit; es sichert den sozialen Frieden und die soziale Integration. Der Rechtsstaat, dem originär die Aufgabe des Schutzes der Individuen vor staatlicher Macht und Übergriffen Dritter zukam, übernahm im 20. Jahrhundert zunehmend Steuerungs- und Gestaltungsfunktionen, darunter die Aufgabe, Schaden abzuwenden. Massiver Schaden droht, wie dargelegt, vom gefährlichem Klimawandel und dessen Folgen. Ebenso evident ist, dass dessen Folgen und Begleiterscheinungen nicht »in einem Land« einzudämmen sein werden, vielmehr multilaterale Vorkehrungen der Vorsorge und Anpassung unabdingbar sind. Das umschließt großflächige Maßnahmen, die logistisch und finanziell nur in internationaler Zusammenarbeit möglich sind und, wo globale Gemeingüter betroffen sind, eine Intervention in nationale Angelegenheiten erfordern.
Ein Beispiel sind die von den meisten Industrienationen getätigten Subventionen in fossile Energieträger wie Stein- und Braunkohle, deren Emissionen hauptursächlich waren für Klimaschäden auf der südlichen Welthälfte, so dass der »Ausstieg« überfällig ist. Diesen treibt mittlerweile auch die Europäische Union voran, an deren Beginn bekanntlich einmal eine »Montanunion« mit einem Fokus auf Kohleförderung und Stahlproduktion stand; nach langem Zögern und Hinhalten haben sich die Mitgliedstaaten auf eine sukzessive Einstellung der staatlichen Unterstützung für Kohleenergie geeinigt und Beihilfen für Kohlekraftwerke nur noch bis 2025 zugelassen, wobei Kohle-Unternehmen großzügig kompensiert und Ausnahmeregelungen etwa für Polen eingeräumt worden sind. Für einen wirksamen Green New Deal bräuchte es ein weit stärkeres Engagement der EU.
So wie hier eine fossile Produktionslinie im Norden globale Schäden verursacht hat, verschlechtert analog die Schließung einer für das Weltklima bedeutsamen CO2-Senke im Süden, nämlich die von den Regierungen nicht verhinderte und stellenweise auch aktiv geförderte Abholzung des Regenwaldes in Brasilien, Indonesien und im Kongo, die Klimabedingungen auf der ganzen Welt (Czymmeck et al. 2020, WWF Deutschland 2020). Wenn der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro diese nur noch als kriminell zu bezeichnende Politik nicht nur toleriert, sondern aktiv propagiert und durchsetzt, wäre doch die Überlegung naheliegend, wie dem strafrechtlich beizukommen wäre – nicht nur innerhalb Brasiliens (etwa mit dem Einklagen garantierter Rechte von Indigenen), sondern zusätzlich durch legale Sanktionen internationaler Organisationen und Gerichte, bei denen Nichtregierungsorganisationen (NRO) Sammelklagen anstrengen könnten. Doch dafür, einer nationalen Regierung in den Arm zufallen, um überlebensnotwendige globale Gemeingüter zu schützen, besteht bisher kaum eine Handhabe.
Die Frage ist, ob dem rechtssystematische oder andere Gründe entgegenstehen. Umweltgefährdungen und -schäden wie den Klimawandel ordnet auch die Rechtswissenschaft als »globale« Umweltprobleme ein, »weil sie einerseits sowohl grenzüberschreitende, vielfach weltweite Gefahren für die Ökosysteme und die Menschen darstellen wie auch durch grenzüberschreitende Verursacherketten hervorgerufen werden und weil sie andererseits nicht durch nationalstaatliche Alleingänge erfolgreich bekämpft werden können, sondern dafür internationale Kooperationen unerlässlich sind (Koch/Mielke 2009: 403). Man kann hier von einer »doppelten« Globalisierung auf der Seite von Verursachern und Management sprechen, der bislang eine höchst unzureichende Globalisierung des Umweltrechts korrespondiert. Normativ wurde es angestoßen durch UN-Konferenzen (Stockholm 1972, Rio de Janeiro 1992), Berichte (Brundlandt-Kommission 1987) und konkretisiert in Protokollen, die Bemühenszusagen machten und eine auf den ersten Blick imposante Zahl bereichsspezifischer Abkommen sowie prozedurale Verfahrensregelungen (Aarhus-Konvention 1998) einbrachten. Neben Teilerfolgen wie der Bewahrung der durch FCKW-Emissionen bedrohten Ozonschicht, bei der Luftreinhaltung und gegen den »Abfalltourismus« sind im Bereich des Klima- und Artenschutzes jedoch kaum Durchbrüche zu verzeichnen. Es fehlt weniger an übergreifender Problemanerkennung und -messung als an »Compliance«, effektiver Überwachung und Vollzug des Prinzips der gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung (»Common But Differentiated Responsibilities«, CBDR). Zwar sind große Teile der internationalen Normen des Umweltvölkerrechts in EU-Recht und nationale Rechtsordnungen übertragen worden, aber die Wirkung der von den Vereinten Nationen geschlossenen Übereinkommen (Paris 2015) und der Einfluss ihrer Organisationen (UNEP) blieben begrenzt.
Druck machen die Nichtregierungsorganisationen, die sich zum Teil auch regierungsnah in die Ausformulierung von Umweltvölkerrecht eingeschaltet haben, ferner die Aufnahme von Umweltaspekten in die Praxis der weitaus mächtigeren Welthandelsorganisation (WTO). Umrisse einer globalen Umweltverfassung werden damit normativ und institutionell erkennbar, aber unter dem Druck eines (demokratisch legitimierten) autoritären Nationalismus in wichtigen Verursacherländern (USA bis 2020, Brasilien) und auf Grund der aus Gerechtigkeitsgründen gewährten Möglichkeit nachholender Entwicklung (China, Indien) haben sich globale Umweltübereinkommen zunehmend als schwach erwiesen, wie vor allem die Durchlöcherung des Pariser Klimaübereinkommens von 2015 zeigt. Die Rückwende zum autoritären Nationalismus hat nicht nur die politischen Kulturen polarisiert, sondern auch die Klimawende hinausgezögert – der blinde Anthropozentrismus beider Strömungen scheint gut zusammenzupassen.
Unverdrossen treiben einige Rechtswissenschaftlerïnnen das globale Umweltverfassungsrecht weiter voran, darunter der südafrikanische Jurist Louis F. Kotzé (2019), der die (von den meisten Juristïnnen wenig rezipierte) Anthropozän-Debatte einbezieht. Auch wenn derzeit keine globale »constituent power« zu erkennen ist, liefert Kotzé »ausreichende Beweise für die Existenz und allmähliche Entstehung von verfassungsartigen Merkmalen und Elementen im globalen Regulierungsraum« (2019: 131). Internationalistische (UN- und völkerrechtsbasiert), regionalistische (EU-basiert), regulatorische (vor allem seitens der WTO), zivilgesellschaftliche (NRO-zentriert) und transnationale (zwischenstaatliche) Ansätze ergänzen sich und können aus nationalen Gesetzgebungen und Rechtskulturen konvergieren (ebd.: 102-104). Kotzé sieht einen »constitutional moment« gekommen, wenn dem Anthropozän endlich das Potenzial einer »exceptional rule« (ebd.: 42) zugesprochen wird.
Idealtypisch baut sich hier eine Umweltverfassung vom internationalen über das transnationale zum planetaren Recht auf, vom menschenzentrierten über das naturzentrierte Umweltrecht zum planetozentrischen Recht. Wie ein »Internationales System« und »Internationale Beziehungen« unter Einbezug nicht-menschlicher Komponenten und Akteure aussehen könnten, wissen die Vertreterïnnen dieser Disziplin nur umrisshaft zu sagen (Corry 2020: 337), sie erkennen aber an, dass das vorfindliche globale Vertragssystem ungeeignet ist, die Bedrohung durch Klimawandel und Artensterben aufzuhalten (Pereira/Saramagon 2020). Dazu muss internationale Politik die Abhängigkeit von der nicht-menschlichen Natur besser verstehen und einbeziehen.32 Ein hervorstechendes Beispiel für eine Assemblage ist die Kombination von Menschen mit Automobilen. Sie wird (auch in kritischer Absicht) meist als Ergebnis individueller Konsumentscheidungen unterbewertet, mit der Menschen ihre persönliche Freiheit gewinnen. Und die Freiheit anderer Individuen beeinträchtigen: durch Millionen Verkehrstote und Schwerverletzte pro Jahr, durch die Zerstörung von Flora und Fauna, emissionsbedingte Gesundheitsschäden und den immensen Beitrag von Verbrennungsmotoren zum Klimawandel. Zum Motor internationaler Konflikte wurde das Auto durch die Abhängigkeit von Erdölimporten aus Regionen, die autokratisch regiert werden und sich mit Hilfe dieser Renteneinkommen Legitimation erkaufen, als internationale Akteure in der OPEC, G20 und Sportverbänden repräsentiert sind, aber auch kaum verdeckt als Sponsoren des Terrors auftreten. Gegenprogramme »grünen« Individualverkehrs, etwa durch Recycling, Geschwindigkeitsbegrenzungen, temporäre Fahrverbote, multimodale Mobilitätsangebote wie Car Sharing, Innenstadtmaut und neuerdings E-Mobile, haben an der Zentralstellung des Automobils bisher wenig verändert.
Abb. 49: Der Brontosaurus ist auch heute noch Maskottchen der Tankstelle und die Sinclair Oil Corporation unterhält unter https://www.sinclairoil.com/dino-merch einen Online-Shop, in dem Fanartikel gekauft werden können.
Foto/Quelle: © Sinclair Oil 2020
Was genau macht im Sinne einer »interspecies policy«, also einer artenübergreifenden Politik, den Akteursrang eines technischen Instruments wie des Autos aus? »Agency« ist in einer auf Diplomatie, Verhandlungen und Netzwerke ausgerichteten Disziplin wie den Internationalen Beziehungen für rational denkende und entscheidende menschliche Wesen reserviert und durchweg anthropozentrisch ausgerichtet (Betsill et al. 2020). Für einen planetozentrischen Ansatz, der relational, emergent und kontingent konzipiert ist, stellt »agency« nicht notwendig ein Attribut individueller Entitäten dar. Somit kann ein Auto ähnlich wie ein Pilz (Tsing 2017, Latour 2018), ein Berg (Youatt 2020) (und eben ein Mensch) auf Grund seiner phänomenologischen, affektiven und Erfahrungsbedeutung als Akteur auftreten, der den öffentlichen Raum physisch-materiell, symbolisch-auratisch und (im engen wie übertragenen Sinne) atmosphärisch besetzt. Sehr anschaulich ist dies am Beispiel der Tankstellen, die weltweit Orte einer sich über Jahrzehnte herausgebildeten und zur Normalität gewordenen Ölkultur sind (Buell 2012, Lemenager 2013, Barrett/Worden 2014, Wilson et al. 2017). Dass der fossile Brennstoff über Jahrmillionen durch planetare Prozesse entstanden ist, einst lebende Materie war und nun aus Erdöllagern gepumpt wurde, ist selbstverständlich und wird nicht hinterfragt. Analog zur Naturentfremdung kann von der Planetenentfremdung gesprochen werden. Wo besteht einfacherer und direkterer Kontakt zur Tiefenzeit des Erdsystems als an der Tankstelle, und wo erscheint das Verständnis um Planet-Mensch-Beziehungen zugleich weniger ausgeprägt? Auf diese Idee kam bereits Harry F. Sinclair, der Namensgeber der Sinclair Oil Corporation. Er sponserte nicht nur Dinosaurierausstellungen auf den Weltausstellungen in Chicago 1933-1934 sowie in New York 1964-1965 und entwickelte Sammelalben für Kinder, um den Link zwischen Erdöllagerstätten und dem Zeitalter der Dinosaurier herzustellen, er machte auch den Brontosaurus, der auch heute noch das Logo der Tankstellen ziert, zu deren Markenzeichen (Abb. 49).
Tankstellen können wir uns in gewisser Hinsicht als Planetenkundemuseen vorstellen, es fehlen lediglich informative Schautafeln an den Zapfsäulen sowie Warnbilder, wie wir sie von Zigarettenschachteln kennen, etwa mit Bildern von den Folgen des Unfalls des Öltankers Exxon Valdez. Zurück zum Automobil selbst. Dieses »handelt« insofern es weltweit eine vor allem maskuline Identitätskrücke bietet und eine weitreichende, meist unbewusste Definitionsmacht über Konzepte und Modi menschlicher Mobilität ausübt. Dadurch wird eine scheinbar apolitische Individual-Entscheidung zur hochpolitischen Kollektiventscheidung, die in der Vergangenheit und Gegenwart Kooperationen und Fusionen transnationaler Konzerne begründet hat und – gerade in Deutschland – regelrechte wirtschaftlich-technische Monokulturen entstehen ließ. Darüber hinaus wird das Automobil zu einer Determinante globaler Politik, deren effektive Kosten für Umwelt, Gesundheit und Wohlbefinden hingenommen werden, obwohl sie jeder rationalen Kosten-Nutzen-Rechnung widersprechen. Ähnlichen Rang wie dieser automobilen Mobilitätsprothese hat McLuhan den (elektronischen) Medien als verlängerten menschlichen Gliedmaßen zugewiesen, heute per Mobilfunkapplikation, die nicht zufällig mit Alexa oder Siri namentlich angesprochen, ernsthaft als »er« oder »sie« vermenschlicht und Haustieren gleich in eine Familie einbezogen werden.
Abb. 50: Unwahrscheinlich unmenschlich: Die nicht-menschliche Demokratie, wie hier von Sandra Eterovic imaginiert, dürfte, wenn überhaupt, nur über Proxis zu realisieren sein.
Bild: © Eterovic 2015, Quelle: The Conversation 2019
Für die Analyse Internationaler Beziehungen und Globalen Regierens wäre es der berühmte »Quantensprung«, wenn belebte wie nicht-belebte Natur als bisher »ausgeschlossene Andere« repräsentiert und Mitglieder der »Zoopolis« werden. Die Frage ist, ob diese Inklusion (nur) menschliche Handlungsparameter einschränken würde oder demokratische Legitimität durch eine neuerliche »Proxy-Repräsentation« erweitern könnte (Abb. 50). Wie radikal sollen wir diese Inklusion denken: Können Mensch mit Tieren sprechen und sie verstehen, können sie damit auch für Tiere sprechen – oder können Tiere an und für sich sprechen und auf ihre Weise an deliberativen Aushandlungen mitwirken (Meijer 2019)? Und dürfen sie dann Rechte ausüben, ohne im klassischen Sinne des Gesellschaftsvertrags auch Pflichten zu übernehmen (die Menschen ihnen ohne jede Reziprozität ohnehin aufbürden)? Hier betritt man den höchst spekulativen Bereich demokratischer Experimente: die Erweiterung des »zoon politikon« ist eine Bewährungsprobe planetaren Denkens, die in Bruno Latours »Parlament der Dinge« und Eva Meijers »interspecies democracy« – der Idee einer artenübergreifenden Demokratie – angedacht, aber noch nicht operativ ausgefeilt worden ist.
Anthony Burke et al. (2016) haben auf dem Weg dahin ökologisch inklusivere Governance-Institutionen mit der Quasi-Repräsentation nicht-menschlicher Wesen vorgeschlagen:
»15 regionale Ökosystemversammlungen zur Abdeckung der wichtigsten Biome der Erde und einen Erd-Systemrat zur Koordinierung integrierter Maßnahmen, zu denen auch die Vertretung von Staaten, indigenen Gemeinschaften und Proxies von Nicht-Menschen gehört. Solche Institutionen erfordern ein tiefes Engagement für die Komplexität und Vitalität der Biosphäre, Reflexivität und Demut für die Reparatur des Erdsystems und ein ständiges Bewusstsein für die aporetische Qualität der politischen Repräsentation als solche, um neue Formen der Politik und des Regierens ›zwischen den Arten‹ für und mit der Biosphäre als Ganzer.« (Burke et al. 2016: 33)
Jedenfalls impliziert das Planetare Denken nicht etwa das Ende »internationaler Politik«, sondern deren Radikalisierung (Corry 2020: 338). Zu vermeiden sind dabei Generalisierungen des »Humanen« genau wie des »Nicht-Humanen«. »Menschheit an sich« ist ebenso wenig eine Akteurskategorie wie die »Natur als Ganze«. Dem Multikulturalismus muss ein Multinaturalismus entsprechen und bei aller wechselseitigen Bedingtheit und Interaktion bleibt eine (nicht-cartesianische) Dualität bestehen. Sonst fallen in summarischen Aussagen zur »globalen Erwärmung« (ungleiche) Sozialstrukturen und (variierende) politische Akteure unter den Tisch (Corry 2020: 349-351, Rothe 2017).
Am ehesten könnten drei »Global Governance«-Protagonisten planetare Politik gestalten: die Europäische Union als bereits weit entwickelter supranationaler Akteur, der eine direkte demokratische Legitimation durch das Europäische Parlament und eine indirekte aus den nationalen Abgeordnetenhäusern vorweisen kann, spezieller dann »Environmental Non-Governmental Organizations« (ENGO) und Internationale Stewardship-Vereinigungen, wie die »Sea Shepherd Conservation Society« (SSCS) und die »Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services« (IPBES). Letztere ist eine UN-Organisation mit 136 Mitgliedsstaaten zur wissenschaftlichen Politikberatung zu Fragen der Erhaltung und nachhaltigen Nutzung von biologischer Vielfalt und Ökosystemdienstleistungen, die Anfang 2021 einen »One Planet Summit« abgehalten hat. Diese Elemente könnten sich zu einem Netzwerk der »Earth System Governance« fügen (Biermann 2014).33 Ziel muss sein, stabile Institutionen aufzubauen, die eine langfristige Ko-Evolution von planetaren und gesellschaftlichen Systemen garantiert, welche auf einer in Abbildung 51 dargestellten tiefenzeitlich verschränkten Ko-Evolution von Planet und Leben aufbaut.
Abb. 51: »Earth’s co-evolutionary ladder«.
Quelle: Lenton et al. 2004: 913, © Nature Publishing Group 2004
Der Austausch zwischen Leben und Planet hat die Evolutionsgeschichte der Erde seit ihrem Beginn vor etwa 4 Milliarden Jahren geprägt, wie die koevolutionäre Leiter darstellt (Abb. 51). Ein plakatives Beispiel soll dies verdeutlichen: Vor 3,5 bis 2,5 Milliarden Jahren nahm die Zahl der Minerale auf der Erde von 1.500 auf 4.000 zu. Das lag daran, dass in diesem Zeitraum die Sauerstoff-Produktion der ersten Lebewesen begann, im Laufe der Jahr-Milliarden reicherte sich der Sauerstoff in zunehmend hoher Konzentration in der Atmosphäre an; das führte zum einen zur Vergiftung vieler ursprünglicher Lebewesen auf der Erde, zum anderen oxidierten viele Minerale, die Erde »rostete« und wurde rot; auf diese Weise entstand eine überraschend große Zahl neuer Minerale als Grundlage zur weiteren Evolution von Leben.
Demokratisierung der Zeit?
Wir schließen das Kapitel mit einem Gedankenexperiment. Mitten in den Umbrüchen der französischen Revolution brachte Thomas Jefferson am 6. September 1789 kurz vor seiner Heimreise aus Paris in einem Brief an James Madison seine Sorge um die Unabhängigkeit der Generationen zum Ausdruck. Damals verhandelte die westliche Welt die moderne Demokratie vor dem Hintergrund eines neuen Zeitverständnisses: Der Erfahrungsraum trennte sich zunehmend vom Erwartungshorizont, womit die Zukunft offen, die Gegenwart nicht gottgegeben und die Vergangenheit als eine von vielen möglichen erschienen (Koselleck 1979). Das wurde im Sinne einer falsch verstandenen Fortschrittsidee als Blankovollmacht gewertet, doch Jefferson zufolge gehört »die Erde in ihrem Nießbrauch den Lebenden« (Jefferson 1789, [eigene Übersetzung]). Sie ist nicht beliebig nutzbar, sondern muss der folgenden Generation in mindestens gleichwertigem Zustand und schuldenfrei zur Verfügung stehen. Daraus leitete der spätere Präsident der Vereinigten Staaten einen radikalen Vorschlag ab: Verfassung und Gesetze sollen mit jenen erlöschen, deren Wille sie schuf – ansonsten würden die Toten über die Lebenden regieren. Hinter diesem Gedanken steht die Annahme kontingenter Zukünfte. Deren Repräsentation ist nicht nur aussichtslos, mit ihr regierten auch die Ungeborenen über die Lebenden. Statt also Gleichheit zwischen Generationen zu erzwingen, gilt es deren Unabhängigkeit zu sichern, um das Anfangenkönnen, eine aus der Natalität (Gebürtlichkeit) hervorgehende Kapazität des Menschen, in Freiheit zu ermöglichen (Arendt 1958). Jeffersons Gedankenblitz verweist auf die Temporalität der Demokratie: Jede Generation muss in einem Akt der Gründung Selbstwirksamkeit erlangen und verhandeln, ob Pfadabhängigkeiten (wie etwa die Subventionierung fossiler Brennstoffe) mit dem Gebot des »Nießbrauchs« vereinbar sind. So festigt das Loslassen des Älteren die demokratische Lebensart, indem sich jede Generation aufs Neue verfassungsgebend betätigt, und mit der Normalisierung des Wandels verschmelzen In- und Exnovation.
Demokratie planetar zu denken heißt in solchen zeitlichen Dimensionen denken und handeln, zu Ende gedacht auch eine Demokratisierung der Zeit. Denn planetare Verhältnisse sind zeitlich gestaltbar. Wenn die Zeit »aus den Fugen geraten« scheint, wie lassen sich dann alternative Zukünfte entwerfen und Retrotopien etwas entgegensetzen? Welche Form der Gesetzgebung kann politische Wahlzyklen mit geologischen Zeitskalen des Erdsystems übereinbringen? Womit kann man temporale Gewalt zwischen Generationen wie »Ewigkeitskosten« vermeiden (Beispiele sind die Langzeitfolgen von Bergbau und Atommülllagerung)? Lässt sich Digitalisierung nutzen, um eine Vielfalt von Eigenzeiten zu erhalten? Inwiefern beeinflusst die Desynchronisation sozioökonomischer Nachfrage und natürlicher Regeneration langfristigen Wohlstand? Legt man die in planetare Verhältnisse eingeschriebene Dimension der Zeit offen, erschließen sich neue Handlungsmöglichkeiten. Der Mensch kann sich aus seiner zeitlichen Unmündigkeit befreien. Die dadurch mögliche Demokratisierung der Zeit ist nicht nur ein Akt der Aufklärung, sondern erlaubt überhaupt erst die Regierbarkeit planetarer Verhältnisse. Hierzu müssen Menschen die Welt zeitlich interpretieren und zu verändern lernen. Da dies nicht wertfrei geschieht, gilt es Orientierung anzubieten, wie sie etwa in der Erweiterung des Kosmo- um den Chronopoliten denkbar ist, die dem Welt- den Zeitbürger zur Seite stellt, der nicht nur im Kantschen Sinne Hospitalität übt, sondern auch die dauerhafte Bewohnbarkeit des Planeten für komplexes Leben gestattet. Chancen auf ein gutes Leben gilt es folglich nicht nur unabhängig von räumlichen Umständen wie Geburts- oder Wohnort zu ermöglichen, sondern auch unabhängig von zeitlichen Faktoren wie der Generationsbindung oder gesellschaftlichen Eigenzeiten. Sodann lassen sich planetare Verhältnisse zielgerichteter regieren als bisher, etwa durch demokratisch verhandelte Arrangements von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft oder absichtsvoller Initiierung von Ruptur, Evolution und Konservierung.
Abb. 52: Wir sehen die Erdgeschichte und ihre Zeitalter in Form einer Spirale dargestellt. Zu erkennen ist etwa das späte Auftreten komplexen Lebens wie auch die Bedeutung von Landmassen hierfür. Das Anthropozän fehlt in dieser Darstellung noch.
Grafik: Graham/Newman/Stacy 2008, Quelle: © USGS 2008
Abb. 53: Tiefenzeitlich erstreckt sich das Universum über mehr als den doppelten Zeitraum der Existenz der Erde.
Grafik: © NASA, Quelle: Lower 2019
Generell dürfte »Tiefenzeit« für eine planetare Politik von besonderer Bedeutung sein, wie die Abbildungen 52 und 53 zum einen für das Universum und zum anderen für die Erde visualisieren. Das Konzept der »Deep Time« (Tiefenzeit) stammt aus der Geologie und umfasst den gesamten Zeitraum der Existenz des Universums und somit auch des Planeten Erde (Glikson/Groves 2015). Im Blick auf die Entwicklung eines planetaren Denkraums bildet sie ein bedeutendes Unterscheidungsmerkmal. Sie ermöglicht die Einbettung menschlichen Handelns in die Geschichte des Planeten und damit das Aufzeigen der (Ent-)Kopplung natürlicher und artifiziell geschaffener Rhythmen. Tiefenzeitliche Planet-Mensch-Beziehungen einzufangen versucht die Idee der »Timefullness«, indem sie auslotet was es zu einer zeitbewussteren Gesellschaft, letztlich zu einer poly-temporalen Weltsicht (Toulmin/Goodfield 1982, Bjornerud 2018) bedarf. Deep-Time Governance« ist aus wenigstens drei Gründen angezeigt (Hanusch/Biermann 2020, 2021): Erstens müssen Objekte sicher aufbewahrt werden. Dies umfasst die (un-)belebte Natur, wie z.B. Wildnisgebiete; künstliche, vom Menschen geschaffene Objekte, wie nukleare Abfälle oder auch wissenschaftliche Erkenntnisse und hybride Objekte, wie z.B. Infrastrukturen oder landwirtschaftliche Flächen. Zweitens müssen Populationen am Leben erhalten werden, menschliche wie solche in Flora und Fauna. Dabei darf das Überleben einer Population nicht auf dem Aussterben einer anderen beruhen und idealerweise auch nie unter Bedingungen, die die Selbstentfaltung einschränken (wie in Zoologischen Gärten). Drittens müssen neuartige Beziehungen zwischen dem Menschen und dem Erdsystem ermöglicht werden, die neue Ordnungen im und nach dem Anthropozän mitkonstituieren.
Jefferson schloss seinen Brief an Madison mit der Bemerkung »Auf den ersten Blick mag darüber als einer theoretischen Spekulation gespottet werden; aber eine nähere Prüfung wird es als gediegen und gesund erweisen« (Jefferson 1789, [eigene Übersetzung]). Es wäre höchste Zeit, diese Prüfung anzugehen. Der Glaube, unsere Demokratie verheiße in planetaren Zeiten ewige Stabilität, während sie vielerorts bereits mit ihren eigenen Mitteln ausgehöhlt wird, ist doch wohl »naiver« als die laufenden Experimente, sie mit Zuversicht und Wagemut zu erneuern. Das führt noch einmal zu den Kantschen Ideen der Hospitalität und Bewohnbarkeit. Dafür ist nicht zentral, was Leben ist oder wie es »gehandhabt« wird, vielmehr, was einen Planeten für die kontinuierliche Existenz von komplexem Leben empfänglich macht. Der Mensch steht nicht im Mittelpunkt einer »Wohnungsfrage«, eher die Bewohnbarkeit im Mittelpunkt der menschlichen Existenz. Der Planet ermöglicht den Menschen, der Mensch aber nicht den Planeten. Das geht einher mit semantischen Verlagerungen: Statt Reparieren rückt Behüten in den Vordergrund, statt Innovation Belebung, statt Wachsen Fördern, statt Autorität Emergenz und statt Karte Kompass. Es sei erlaubt, mit Zeilen aus dem in völlig anderem Kontext entstandenen Gedicht »Corona« von Paul Celan zu schließen: »Es ist Zeit, daß man weiß!/Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,/daß der Unrast ein Herz schlägt./Es ist Zeit, daß es Zeit wird./Es ist Zeit.« (Celan 1952)
»California Wildfires«
Foto/Quelle: © Noah Berger 2020