2. Die spezifische Wissensposition der Geistes- und Sozialwissenschaften
Der Mensch ist ein »sich selbst interpretierendes Tier« (vgl. Taylor 1985: 45–76). Und das bedeutet: Wie wir uns selbst verstehen, entscheidet darüber, wer wir sind und wer wir werden. Es gibt keine einheitliche substanzielle Natur des Menschen, aus der wir stabile Sets von Präferenzen oder Muster gesellschaftlichen Wohlergehens ableiten könnten. Der Mensch verfügt jedoch über die höhere Fähigkeit, die Regeln, Maximen und Leitprinzipien für sein Handeln selbst auszuwählen. Wir sind auch in der Lage, unsere wertgeladenen Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen, indem wir Theorien entwickeln, die auf Wertvorstellungen beruhen. Diese Wertvorstellungen kann man freilich für richtig oder falsch halten. Das ist der Grundgedanke der praktischen Normativität, also der Normen, die unseren sozialen Praktiken innewohnen.
Man kann die Geisteswissenschaften als einen Beitrag zur Heuristik ethischer Erkenntnis betrachten. Indem sie die menschliche Erfahrung in einem transkulturellen und multiperspektivischen Rahmen beschreiben, lassen sie uns die tiefen kulturellen und mentalen Unterschiede von Individuen und Kollektiven verstehen. Wir bedürfen also geisteswissenschaftlichen Wissens, um die Ethik und andere normative Disziplinen voranzubringen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen.
Die spezifische Wissensposition der Geisteswissenschaften lässt sich etwa unter Rekurs auf die »Unverzichtbarkeitsthese« (Gabriel 2020b: 3) beschreiben,4 also auf den Gedanken, dass die ungeheure Vielfalt subjektiver Positionen, von denen aus der Mensch die Wirklichkeit erfährt, für die Erkenntnis des Menschlichen unabdingbar ist. Es gibt kein Kalkül, das es uns erlauben würde, Diskussionen über die richtigen Ziele durch technokratische Lösungen zu ersetzen. Deshalb kann das Werden des Menschen auch nicht durch immer weitere technische oder technokratische Antworten auf unsere Probleme angemessen dargestellt werden. Die menschliche Existenz ist von Grund auf wertgeladen, sodass ein wertorientierter Ansatz in den Geistes- und Sozialwissenschaften unumgänglich ist.
Geisteswissenschaftliches Denken unterscheidet sich vom instrumentellen Gebrauch der Vernunft dadurch, dass es sich intensiv mit der Beschreibung synchron und diachron variierender Selbstverständnisse des Menschen befasst. Geisteswissenschaftliche Erkenntnisse, die sich auf kulturelle, symbolische Artefakte stützen (darunter auch, aber nicht ausschließlich künstlerische, religiöse und andere Ausdrucksformen von Werten), können somit zu einer Heuristik der Ethik beitragen.5 Wenn es einen Unterschied zwischen Wertvorstellungen und tatsächlichen Werten, also irgendeine Art von minimaler Objektivität in normativen Debatten gibt, dann besteht ein Bedarf an einer besonderen Methodologie der normativen Disziplinen – und wir sind der festen Überzeugung, dass die Geisteswissenschaften in der Lage sind, mit ihren bereits entwickelten Methoden dabei mitzuhelfen, die Bedingungen für einen sozialen Wandel zum Positiven hin zu präzisieren. Ihre Ergebnisse und Einsichten können so zur empirischen Forschung in den Sozialwissenschaften beitragen, die ihrerseits den sozialen Wandel im Tandem mit den Geisteswissenschaften aktiv mitgestalten werden.
Da die symbolische Ordnung unser Verhalten auch unter schwierigen Bedingungen (etwa denen einer Pandemie oder der Klimakrise) prägt, können wir unser Handeln weder verstehen noch gar ändern, ohne die Geisteswissenschaften einzubeziehen, die mit ihren Analysen zu einer Beschreibung und Neuausrichtung unseres Handlungsraums beitragen. Wie der Dichter und Kulturkritiker Bayo Akomolafe in seiner Grundsatzrede auf einem Workshop zur ›Objektivität in den Geisteswissenschaften‹ kürzlich sagte: »Die Zeit drängt – entschleunigen wir uns!« (Forum Humanum 2021, bei 1:26:35)
Um Werte ins Blickfeld zu rücken, müssen sich Wissenschaftler aus dem breiten Spektrum der Geistes- und Sozialwissenschaften an der Entdeckung, Produktion und Reproduktion von Werten beteiligen. Die Geistes- und Sozialwissenschaften geben implizit und explizit Werturteile ab. Diese lassen sich jedoch nicht auf jene Wertvorstellungen reduzieren, die ohnehin in der ›Gesellschaft‹ zirkulieren. Sie beruhen vielmehr auf den wissenschaftlichen, systematischen und methodischen Besonderheiten des Wissenserwerbs in jenen vielfältigen Disziplinen, die aufgrund ihrer besonderen epistemischen Position zu Recht zu einer Gruppe zusammengefasst werden.
Bei näherer Betrachtung erweisen sich viele unserer dringlichsten Probleme als solche, die in den Geistes- und Sozialwissenschaften bereits behandelt werden. Die existenzielle Bedrohung der Menschheit wirft die Frage auf, wie wir uns zur Natur verhalten sollen. Sie hat unsere Grundüberzeugungen darüber, wie die Wirtschaft organisiert werden sollte, nachhaltig erschüttert. Sie fordert Solidarität in einer Welt, die tief gespalten ist. Die Geistes- und Sozialwissenschaften haben bereits begonnen, auf all das zu reagieren, und daran können wir anknüpfen, um die Kluft zwischen ihnen und der Gesellschaft als Ganzer weiter zu verringern.
Es gibt viele Vorschläge, wie man etwa auf den Klimawandel reagieren kann – sie reichen von Geo-Engineering-Lösungen bis hin zur Hinterfragung der Ethik von Produktions- und Konsumgewohnheiten. Wie sollen wir diese Vorschläge bewerten, und welchen sollten wir Vorrang einräumen? Wer ist qualifiziert, diese Entscheidungen zu treffen, und aufgrund wovon? Das alles sind keine rein machtpolitischen, sondern auch Auslegungsfragen, und sie erfordern einen öffentlichen Diskurs, der von Experten für Werte und Wertvorstellungen gefördert und unterstützt wird, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen.
So befassen sich beispielsweise Geisteswissenschaftler, die auf dem rasch expandierenden Gebiet der Ökokritik arbeiten, mit Fragen wie den folgenden: Sind apokalyptische, Höllenszenen heraufbeschwörende Geschichten über den drohenden Klimazusammenbruch wirklich das geeignete Narrativ? Warum erzählen wir uns gerade diese Geschichten? Lässt sich das Wesen des Klimawandels unter imaginativen und affektiven Gesichtspunkten wirklich am besten mit quantitativen Begriffen wie ›1,5 Grad‹ darstellen? Und wie gut verträgt sich die Darstellung des Problems durch düstere Vorstellungen von Schuld und Sühne mit jener Art von Motivationen, durch die wir Menschen unsere grundlegenden Verhaltensweisen tatsächlich ändern? Wie Technologie und Naturwissenschaften uns helfen, Straßen und Computer zu bauen, so stellen die Geisteswissenschaften die Infrastruktur bereit, um Fragen wie die oben genannten aufzuwerfen und zu beantworten.
Als selbstbewusste soziale Wesen können wir gar nicht anders, als
- zu versuchen, uns einen Reim darauf zu machen, wie wir uns auf alles einen Reim machen.
- uns darüber klar zu werden, wie wir uns und den Dingen einen Sinn geben.
- uns der genaueren Art und Weise unserer Sinngebung bewusst zu werden.
Trotz des anhaltenden Vormarschs konsumistischer oder unternehmerischer Vorstellungen vom Selbst haben die Menschen auch weiterhin das Bedürfnis, den Dingen eine Bedeutung und ihrem Handeln einen Sinn zu geben. Die Debatten über Wahrheit und Objektivität in einer Welt der ›Fake News‹ und ›alternativen Fakten‹, über das Verhältnis zwischen Individualität und Gemeinschaft, über unsere Verantwortung füreinander, für nicht-menschliche Lebensformen, für die Erde als Lebensraum und vieles mehr müssen unbedingt weitergehen; ob dies auf eine hinreichend gründliche, behutsame und differenzierte Weise geschieht und zu konkreten Ergebnissen führt, wird auch vom Stellenwert der Geisteswissenschaften in unserer Kultur abhängen. Oder wie Martha Nussbaum es ausdrückt:
»Verantwortungsvolle Staatsbürgerschaft erfordert … viel mehr [als den Erwerb ökonomischer Grundkenntnisse]: die Fähigkeiten, historische Quellen zu bewerten; nach ökonomischen Prinzipien zu handeln und sie kritisch zu hinterfragen; Konzepte sozialer Gerechtigkeit zu beurteilen; eine Fremdsprache zu sprechen; und die Komplexität der großen Weltreligionen zu erkennen. Die reinen Fakten könnten noch ohne die Fertigkeiten und Techniken vermittelt werden, die wir mit den Geisteswissenschaften verbinden. Aber ein bloßer Katalog von Tatsachen ohne die Fähigkeit, sie zu bewerten oder zu verstehen, wie aus Einzelheiten ein Narrativ zusammengefügt wird, ist fast so schlimm wie Unwissenheit; denn die Schüler werden nicht in der Lage sein, die von Politikern und anderen Führungspersönlichkeiten verbreiteten Klischees von der Wahrheit oder falsche Behauptungen von stichhaltigen zu unterscheiden. Wenn Weltgeschichte und Wirtschaftskunde überhaupt zur Bildung intelligenter Staatsbürger beitragen sollen, müssen sie also geisteswissenschaftlich fundiert und kritisch ausgerichtet sein, und in der Lehre müssen sie mit Religionswissenschaft und philosophischen Theorien der Gerechtigkeit in Verbindung gebracht werden. Nur dann werden sie eine brauchbare Grundlage für jene öffentlichen Debatten liefern, die wir führen müssen, wenn wir bei der Lösung der größten Probleme der Menschheit zusammenarbeiten wollen« (Nussbaum 2016: 93–94).