12.Schluss
Das lange 19. Jahrhundert ist eine Zeit, die durch eine neue Unstetigkeit geprägt ist. Die sich langsam durch- und absetzenden Grundprinzipen der modernen Welt graben die Bedingungen der gesellschaftlichen Ordnung und Realität beständig um. Alles wird komplexer. Bestimmte Prozesse zeitigen Folgen, die weit über ihre eigentliche Quelle hinaus Wirkung entfalten. So sorgt etwa die Industrialisierung nicht nur für eine geänderte, differenziertere und technologisch weiterentwickelte Produktion, sondern bringt mit der sozialen Frage auch eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung hervor. Fortschritt, Wandel und Entwicklung haben rasant an Fahrt aufgenommen. Sie sind auch aufgrund ihrer Verschränkungen nicht mehr aufzuhalten.
Wie steht es angesichts dieser Entwicklungen um die Kontingenz, die neuen Freiheiten der Individuen und den neuen Gestaltungsspielraum der gesellschaftlichen Entwicklung? Am Schluss dieser Arbeit kommt diese Eingangsfrage wieder auf. Mit Tocqueville, Marx und Weber, als Zeitzeugen des langen 19. Jahrhunderts, ließ sich zeigen, dass es entweder immer noch schlecht um dieses so wichtige Freiheitsversprechen der neuen Zeit steht, mindestens aber neue Gefahren für sie heraufziehen können. Alle drei beschreiben entweder direkt oder potenziell despotische Zustände der Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert. Gestaltungsfreiheit hinsichtlich der gesellschaftlichen Entwicklung und ein Bewusstsein für die Kontingenz dieser Entwicklung dürfen offenbar nicht als natürliche Charaktereigenschaften der neuen Zeit gesehen werden. Denn obgleich alle drei einen Zuwachs an individueller Freiheit beschreiben, sehen sie eben auch Gefahren oder tatsächliche Beschränkungen der bewussten Gestaltungsfreiheit der gesellschaftlichen Entwicklung.
Alle beschreiben moderne Formen der Despotie, und zwar als gesellschaftliche Realität oder als Potenzial gesellschaftlicher Entwicklung unter den Bedingungen dieser neuen Zeit. Dahinter steht allerdings nicht eine neue Gewaltherrschaft einer Person oder einer Gruppe von Individuen. Moderne Despotie bedeutet nicht die Rückkehr ständischer oder monarchischer Prinzipien. Das Problem besteht auch nicht in der personalen Konzentration oder der Usurpation von Herrschaft. Moderne Despotie sehen alle drei, auf unterschiedliche Weise, als Folge und Ausdruck von Verlust, Aufgabe oder noch fehlendem Bewusstsein der Kontingenz gesellschaftlicher Entwicklung und den darin liegenden Gestaltungsmöglichkeiten. Moderne Despotien entwickeln sich also, so lässt sich an dieser Stelle resümieren, aus der mehr oder minder unbewusst vonstattengehenden und nicht bewusst gestalteten gesellschaftlichen Entwicklung, die von den Individuen selbst vorangetrieben wird.
Für Tocqueville sind die sozialen Erfahrungen mit der Demokratisierung Grundlage der Entwicklung der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Persönliche Unabhängigkeit, gesellschaftliche Mobilität, Macht der Mehrheit, Individualismus und Materialismus können ein eigendynamisches sittliches Gefüge und einen Handlungszusammenhang bilden, aus denen in der neuen Welt ein despotischer Zustand hervorgehen kann. Spezifischer Ausdruck davon ist für Tocqueville die passion du bien-être matériel. Tocquevilles Kritik adressiert die materialistische Konsumkultur der bürgerlichen Mittelstandsgesellschaft, in der das Streben nach materiellem Wohlstand alle anderen Ziele aussticht. Bewusst nach materiellem Wohlstand strebend, drohen die Individuen, so Tocquevilles Sorge, das Bewusstsein für ihre gesellschaftlichen Gestaltungsfreiheiten zu verlieren. Ihr Kontingenzbewusstsein droht immer stärker zu verblassen, wie die neue Konsumkultur an Stärke gewinnt. Wohlstand und Geldreichtum sind in der demokratischen Gesellschaft die einzigen Distinktionsmerkmale, die dem grundlegenden Prinzip der égalité des conditions nicht widersprechen, sondern geradezu die private Freiheit und persönliche Unabhängigkeit ausdrücken. Verausgaben sich die persönlich unabhängigen Individuen aber in ihrer privaten Freiheit, nach materiellen Gütern und Genüssen zu streben, besteht laut Tocqueville die Gefahr, dass sie die andere Seite ihrer Freiheit, die öffentliche Freiheit, also ihre gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten vernachlässigen. Im Kern kritisiert Tocqueville, dass die private Freiheit die öffentliche Freiheit verdrängt. Durch die allmähliche Aufgabe der Gestaltungsfreiheiten und durch das Verblassen des Kontingenzbewusstseins entsteht in der neuen Zeit die Grundlage einer neuen und modernen Despotie, der despotisme démocratique. Die demokratische Gesellschaft entwickelt sich langsam, aber sicher zur konsumorientierten und materialistischen bürgerlichen Mittelstandsgesellschaft. Diesem ètat social entspricht die despotisme démocratique als état politique. Die persönliche Unabhängigkeit und die private Freiheit, also die eine Seite der Demokratisierung wird dabei immer weiter forciert. Aus diesem Handlungszusammenhang kommt das individuelle Handeln immer stärker als politisch entwöhnt, als ein entpolitisiertes Handeln hervor. Den Individuen geht es dann nicht mehr um politische Gestaltung und Selbstregierung, sondern um die Erhaltung des status quo, der, ihren verfälschten einseitigen Eigeninteressen gemäß, scheinbar das beste Umfeld für ökonomischen Erfolg bietet. Politik hingegen erscheint als Ablenkung. Die despotisme démocratique beschreibt Tocqueville demnach als ein Ergebnis einer bestimmten Dynamik, die sich wiederum aus der nicht mehr bewusst gestalteten Entwicklung ergibt.
Für Marx ist die gesellschaftliche Entwicklung seit jeher durch einen Widerspruch gekennzeichnet, den zwischen angehäufter und unmittelbarer Arbeit. In der gesamten bisherigen (Entwicklungs-)Geschichte entdeckt Marx diesen Widerspruch in unterschiedlichen Formen. Der Widerspruch bringt immer wieder bestimmte Produktionsverhältnisse hervor. Dieser Entwicklung unterliegt eine Intensivierungsdynamik. Der Intensivierung dieses Widerspruchs folgt immer wieder eine revolutionäre Neugestaltung, bisher aber eben keine grundsätzliche Überwindung dieses Widerspruchs. Entsprechend der kapitalistischen Verhältnisse erscheint die moderne Gesellschaft zunächst als bürgerliche Klassengesellschaft. Durch die Reproduktion des Kapitals wird nicht nur das kapitalistische Produktionsverhältnis immer wieder hervorgebracht, sondern auch die bürgerliche Klassengesellschaft, mitsamt ihrer zwanghaften Charaktermasken und der Entfremdung. Das vermeintlich formell freie individuelle Handeln ist in der bürgerlichen Klassengesellschaft (vor-)bestimmt durch den Handlungszusammenhang der Despotie des Kapitals. Diese drückt sich für Marx in den abstrakten Charaktermasken aus, mit denen die Individuen als abstrakte Wesen an der bürgerlichen Klassengesellschaft teilhaben. Die Charaktermaske ›Proletarier‹ legt das Handeln der Arbeiter ebenso fest wie die Charaktermaske ›Bourgeois‹ das des Kapitalisten. Die Charaktermasken stehen daher für die Position eines Individuums innerhalb des kapitalistischen Produktionsprozesses. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse werden ihrerseits als Naturgesetz dargestellt. Das sich die Individuen durch ihr eigenes Handeln unbewusst immer wieder Unfreiheit produzieren, wird ihnen so als natürlich vorgegaukelt. Gleichzeitig wird so vorerst vermieden, dass sich ein Bewusstsein über die tatsächlich vorhandenen Alternativen, also ein Kontingenzbewusstsein bildet. So produzieren die Individuen unbewusst oder verklärt immer wieder die Grundlagen der Despotie des Kapitals, die ebenfalls ein Ergebnis einer Dynamik ist, in der die Gesellschaft es (noch) nicht geschafft hat, ihre eigene Entwicklung bewusst zu gestalten.
Spezifikum der okzidentalen bürgerlichen Gesellschaft ist laut Weber eine universelle Rationalisierung. Folge dieser Rationalisierung ist zunächst eine methodisch-rationale Lebensführung. Innerhalb des religiösen Rahmens des Calvinismus ist dies zunächst ein wertrationales Handeln: Am religiösen Wert der Vergewisserung des eigenen Gnadenstandes werden die Mittel des Handelns gemessen. Aus dieser wertrationalen wird allerdings zunehmend eine zweckrationale Orientierung. Mit der Zeit löst sich also das methodisch-rationale Handeln von der vormaligen religiösen Schale und breitet sich gesellschaftlich immer weiter aus. Der materielle Wohlstand und der ökonomische Gewinn werden zunehmend zum Selbstzweck. So entsteht allmählich der rationale Betriebskapitalismus. Dieses zweckrationale Handeln findet in der Bürokratisierung eine Entsprechung. Die Bürokratisierung ist ein mit der Ausbreitung der methodisch-rationalen Lebensführung parallel verlaufender Prozess. Folgen davon sind laut Weber bestimmte Vermassungsprozesse: Massendemokratie, Massenparteien und komplexer Massenstaat. Durch diese Vermassung wird die bürokratische Organisation selbst unumkehrbar, denn als solche komplexen Großgebilde sind sie nur noch bürokratisch zu händeln. Ebenso behandelt Weber auch den Betriebskapitalismus als alternativlose und unumkehrbare Entwicklung. So dringt der praktische Rationalismus in Form von Bürokratisierung und Betriebskapitalismus in immer mehr Lebensbereiche ein. Selbst die politische Gestaltung ist laut Weber stark davon bedroht, bürokratisiert zu werden. Die potenzielle Folge dessen ist, dass die bürgerliche Gesellschaft zunehmend im praktischen Rationalismus und Bürokratie erstarrt. Gestaltungsfreiheit und Kontingenzbewusstsein drohen im stählernen Gehäuse aus zweckrationalen Betriebskapitalismus und Bürokratisierung zu verkrusten und die gesellschaftliche Entwicklung selbst als Verwaltungsgegenstand unbewusst zu erhärten. Aus der Dynamik der Rationalisierung droht so ein Gesellschaftszustand hervorzugehen, dessen bewusste Gestaltung nurmehr Ausdruck von Verwaltungshandeln ist.
Alle drei behandeln die Individuen als Autoren ihrer sozialen Realität und der gesellschaftlichen Entwicklung. Eingebettet in eine bestimmte gesellschaftliche Entwicklung und aufgrund ihres Unbewusstseins beziehungsweise angesichts der allmählichen Abkehr von diesem Bewusstsein der Gestaltungsmöglichkeiten sind die Individuen dazu in der Lage sich selbst eine neue Despotie zu schaffen und diese sogar aufrechtzuerhalten. Der moderne Mensch wird nicht mehr unterworfen, er unterwirft sich selbst. Darin besteht geradezu das Neue dieser despotischen Formen, es sind immer Despotien ohne Despoten.1 Das ist das »Grundproblem«, mit dem sich alle drei befassen, allerdings »jeweils unter anderen Voraussetzungen«,2 wie Wolfgang Mommsen am Rande anführt. Bei allen ist das individuelle Handeln zwar formell frei, bringt aber, unter den dynamischen Bedingungen der neuen Zeit, dennoch fortlaufend Gefahren für die Gestaltungsfreiheit der gesellschaftlichen Entwicklung hervor oder hat diese überhaupt noch nicht hervorgebracht. Die Grundlage der Despotie steckt demnach im Bewusstsein über die gesellschaftliche Entwicklung, im Bewusstsein über die tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten diese zu gestalten und im Kontingenzbewusstsein, wonach die gesellschaftliche Entwicklung immer auch in andere Richtungen verlaufen kann.
Auffällig ist an allen kritischen Analysen, dass sie letztlich einen Mangel an Gestaltungsbewusstsein betonen. Die Despotien ohne Despoten sind immer gekennzeichnet durch einen Mangel oder gar das Fehlen von Gestaltungsfreiheit, und zwar aufgrund fehlenden oder eingeschränkten Kontingenzbewusstseins. In Tocquevilles Beschreibung der despotisme démocratique haben die Individuen ihre Gestaltungsmöglichkeiten aus den Augen verloren, weil sie mit Wohlstandsstreben nahezu völlig ausgelastet sind. Für Marx zeigt sich die Despotie des Kapitals gerade darin, dass alle Beteiligten unbewusst den Zwängen des kapitalistischen Verhältnisses selbst folgen und dass bisher niemand die bürgerliche Klassengesellschaft bewusst gestalten kann. Weber wiederum fürchtet um die Gestaltungsmöglichkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung aufgrund des Übergreifens der Bürokratie. Eine Verwaltung kann keine bewusste Gestaltung leisten, es liegt nicht in ihrer ›Natur‹. So erstarren Gestaltungsfreiheiten im bürokratischen Zwangsgriff. Hinter allen erscheint bereits ein verstecktes Plädoyer für die Politik.
Eine andere Ähnlichkeit besteht darin, dass alle drei die individuelle Freiheit in diesen tatsächlich oder potenziell despotischen Zuständen kaum gefährdet sehen, beziehungsweise die formelle oder negative Freiheit (Isaiah Berlin) geradezu eine zentrale Stütze der Grundlage dieser neuen Despotien ist. Die despotisme démocratique ist für Tocqueville geradezu Ausdruck der Aufgabe der öffentlichen Freiheit der Individuen zugunsten ihrer privaten Freiheit. Die Despotie des Kapitals ist laut Marx Ausdruck der formellen Freiheit der Individuen, zugleich aber auch ihrer sozialen Unfreiheit. Die formelle Freiheit erscheint als natürliche Ordnung. Das es darüber hinaus mehr oder noch eine andere Freiheit geben kann, ist in der bürgerlichen Klassengesellschaft verschleiert. Auch für Weber basiert die moderne bürgerliche Gesellschaft mit Bürokratie und Betriebskapitalismus geradezu auf formeller Freiheit. Sie war eine zentrale Voraussetzung der Entwicklung des modernen Kapitalismus und ist zugleich auch eingeprägte Eigenschaft der bürokratischen Verwaltung.
Die wesentliche Gemeinsamkeit aller drei besteht jedoch in ihren Antworten auf die Erfahrung von Despotie. Es geht nur mit Politik, und zwar als individuelle Praxis beziehungsweise als gesellschaftlicher Handlungszusammenhang. Dabei ist das, was Tocqueville, Marx und Weber jeweils unter Politik verstehen, wer sie betreibt und wo diese stattfindet, völlig unterschiedlich. In unterschiedlichen Formen von Politik sehen die drei jeweils Kontingenzbewusstsein und Gestaltungsfreiheiten in der Moderne auftauchen. Auch hier wird deutlich, dass allen drei zufolge in der neuen Welt nur noch die Individuen selbst die gesellschaftliche Entwicklung hervorbringen und verändern. Es gibt keine außerweltlichen Quellen mehr, auf die die gesellschaftliche Entwicklung zurückgeführt werden kann. Niemandem ist es wirklich mehr möglich, Fortschritt mit vermeintlich überzeitlich göttlichen oder etwa legitimistischen Begründungen zu erklären. Es zählen ausschließlich noch die Handlungen der Individuen, und zwar auch die nichtintendierten Folgen dessen. Indem die gesellschaftliche Entwicklung politisch wird oder bleibt, kann sie bewusst gestaltet werden und ist ein Bewusstsein der Kontingenz vorhanden.
Für Tocqueville spielen dabei bestimmte Erfahrungsräume die zentrale Rolle. Darin lernen die Individuen öffentliche Freiheit, also Selbstregierung und politische Gestaltung. Dabei geht es ihm nicht darum, eine tugendhafte Gesellschaft zu kreieren, sondern vielmehr eine politische Bürgergesellschaft zu beschreiben, die sich aus eigenem Interesse selbst regiert und die gesellschaftliche Entwicklung fortlaufend gestaltet. Weder durch Zwang noch durch Tugendhaftigkeit sind die Individuen Tocqueville zufolge dauerhaft zu politischem Handeln zu bewegen. Nur wenn es sich mit den eigenen Interessen verbinden lässt, sind die Individuen nachhaltig zu politischem Gestaltungshandeln fähig und willig. Während die Individuen die égalité des conditions und die persönliche Unabhängigkeit leidenschaftlich und insofern instinktiv lieben, kommt ihnen die Liebe der öffentlichen Freiheit und damit der politischen Gestaltung erst über die Erfahrung und das Verstehen zu, dass dies in ihrem eigenen Interesse liegt. Festhalten lässt sich, dass Tocqueville Politik als bewusste Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung sowohl selbst als einen Lernprozess beschreibt sowie als Ergebnis von Erfahrung benennt; sie damit Lernprozess und Lernergebnis zugleich – Politik sozusagen die Bedingung von Politik ist. Weiterhin zu konzedieren ist, dass in Tocquevilles Vision einer modernen Gesellschaft im politischen Handeln das Kontingenzbewusstsein aufrechterhalten wird. Öffentliche Freiheit, Selbstregierung und politische Gestaltung sind Möglichkeiten, die Tocqueville bereits als Bestandteile der demokratischen Gesellschaft anführt. Spezifikum der politischen Bürgergesellschaft ist es dann, die Entwicklung dauerhaft bewusst zu gestalten und sich tatsächlich selbst zu regieren, also die Potenziale auch tatsächlich bewusst zu nutzen. Außerdem drückt sich im politischen Handeln laut Tocqueville die vollständige Freiheit der neuen Zeit, also die Verbindung von privater und öffentlicher Freiheit, überhaupt aus. Insofern ist Politik ein Wert an sich, weil sich darin die öffentliche Freiheit und Selbstregierung der Individuen manifestiert. Tocqueville formuliert eine Vision einer modernen Gesellschaft, die geprägt ist durch eine moderierende Politik. ›Use democracy to moderate democracy«3 – damit hat Tocqueville das Areal und die Funktion von Politik beschrieben. Materialistisch orientierte Individuen, die ihr ökonomisches Streben mit der politischen Gestaltung verbinden, sind der Kern Tocquevilles Vision einer modernen Gesellschaft.4 Nur durch Politik und Selbstregierung können die Individuen die Handlungszusammenhänge dauerhaft bewusst gestalten und damit verhindern, dass aus einer unbewusst ablaufenden Entwicklung eine moderne despotisme démocratique entsteht.
Marx Vorstellung radikaler Politik ist Kampf, der gegen die unbewusste Eigendynamik der bisherigen Entwicklung gerichtet ist. In der radikalen Politik, also im Kampf gegen das Bestehende, zeigen sich die real vorhandenen Gestaltungsmöglichkeiten und werden sich die Individuen über die eigentliche Kontingenz der gesellschaftlichen Entwicklung bewusst. War bisher alles eine unbewusste Folge der ökonomischen Produktionsverhältnisse, Staat, Gesellschaft und Politik zwangsläufige Konsequenzen der ökonomischen Verhältnisse, wird durch die radikal-revolutionäre Politik die fundamentale Alternative deutlich und erkämpft. Kontingenz und eine freie bewusste Gestaltung sind demnach Phänomene, denen sich die Individuen erst bewusst werden müssen. Das Ziel radikal-revolutionärer Politik, so lässt sich festhalten, ist laut Marx die Überwindung des bisher die gesellschaftliche Entwicklung bestimmenden Gegensatzes von angehäufter und unmittelbarer Arbeit. Nur durch die Überwindung dieser bisherigen Geschichte, die nur ein Ablauf verschiedener Entwicklungsstufen dieses Widerspruches war, kann die gesellschaftliche Entwicklung erstmals anders aussehen. Die Bedingungen dieser Form radikaler Politik sind selbst Ergebnis des Verlaufs der Geschichte. Festzuhalten ist daher, dass diese Form der Politik und damit Kontingenz selbst auch Folgen des Gesetzes der Geschichte, ergo darin schon einprogrammiert sind. In der radikal-revolutionären Politik erfüllt sich nach Marx’ Dafürhalten das historische Schicksal. Von selbst erreicht die Entwicklung des Widerspruches von angehäufter und unmittelbarer Arbeit einen »archimedischen Punkt«5, von dem die Überwindung des Widerspruchs möglich ist. Marx’ Vision einer modernen Gesellschaft liegt folglich bereits in der historischen Entwicklung begründet. Sie bildet sich um seine Vorstellung einer überwindenden Politik. Die »stürzende Klasse« kann nur in einer Revolution dahin kommen, »sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden«6 Die Überwindung selbst ist dabei eine praktische Handlung und kein Automatismus, das Potenzial muss aktiviert werden. Radikal-revolutionäre Politik als praktische Handlung ist der letzte Schritt einer historischen Entwicklung, der allerdings bewusst gegangen werden muss. Das Proletariat als politischer Akteur der radikalen Politik ist Destrukteur der alten Klassengesellschaft und Konstrukteur einer neuen kommunistischen Gesellschaft zugleich.7 Es ist von Marx unklar gelassen, wie genau die kommunistische Gesellschaft, welche der bürgerlichen Klassengesellschaft folgt, aufgebaut und strukturiert ist. Es steht lediglich fest, dass darin menschliche Emanzipation, also die bewusste Herrschaft des Menschen über die Produktionsverhältnisse und die gesellschaftliche Entwicklung, erreicht ist. Festgehalten werden muss auch, dass es geradezu der Ausdruck der durch die radikal-revolutionäre Politik erreichten offenen gesellschaftlichen Entwicklung und des Kontingenzbewusstsein sowie Marx’ Wissen darum ist, dass er keine genaue Beschreibung der kommunistischen Gesellschaft angegeben hat. Roger Boesche fängt das in einem einleuchtenden Bild ein:
»To ask to know exactly what socialist society will be like is similar to asking Picasso, when he was alive, what he would be painting twenty years in the future.«8
Marx gibt nicht vor das Ergebnis der nun bewusst kontingenten Entwicklung zu kennen, ohne deswegen unsicher hinsichtlich des Prozesses selbst zu sein. In der kommunistischen Gesellschaft ist die Entwicklung keine Frage irgendeiner geschichtlichen Eigengesetzlichkeit oder irgendwelcher Sachzwänge mehr, sondern erstmals tatsächliches Ergebnis gesellschaftlicher Selbstgestaltung.9 Seongjin Jeong weist daher zu Recht darauf hin, dass sich Marx unter der kommunistischen Gesellschaft kein finales und abgeschlossenes, sondern ein »open model«10 der Geschichte vorstellte. An die Stelle historischer Widersprüche treten die tatsächlichen Widersprüche, die sich in einer kontingenten Entwicklung nun mal ergeben. Aber ab jetzt werden »[G]esellschaftliche Evolutionen aufhören, politische Revolution zu sein«11 – oder anders: sein zu müssen. Gesellschaftliche Entwicklung wird nun zur bewusst gesteuerten Weiterentwicklung.12 Erst nach der Überwindung der bisherigen Geschichte ist den Individuen ein wirklich freies Leben möglich, und zwar sowohl hinsichtlich ihres individuellen Lebens als auch bezüglich der freien Gestaltung aller weiteren Entwicklungen.
Weber sieht Politik als harte und entbehrungsreiche Arbeit. Bewusste politische Gestaltung muss die Konflikte der kontingenten gesellschaftlichen Entwicklung nicht nur aushalten, sondern dauerhaft wieder präsentieren und dennoch immer der Lage sein, zu Entscheidungen zu kommen. Politik ist für Weber kein Mittel, um eine bestimmte Despotie zu überwinden, sondern dafür verantwortlich, innerhalb des durch Bürokratie und Betriebskapitalismus abgesteckten Rahmens deren Eigendynamik immer wieder zu verflüssigen. Politik befreit somit die gesellschaftliche Entwicklung immer wieder aus den Erstarrungstendenzen, denen sie in der bürokratisierten Welt fortlaufend ausgesetzt ist. Nur durch Politik wird die gesellschaftliche Entwicklung dauerhaft fluide gehalten und wird deren Kontingenz immer wieder gezeigt. Die Ansprüche an Politik und politisches Handeln sind von Weber daher sehr elitär formuliert. Politik muss in der Kontingenz bewegungs- und entscheidungsfähig sein. Sie darf sich nicht im Streit erübrigen und damit von dieser Seite her Stillstand produzieren. Es geht Weber nicht um eine möglichst breit angelegte demokratische Politik, sondern um eine politische Herrschaft der unvermeidlichen bürokratischen Ordnung der modernen Gesellschaft. Politik ist damit für Weber widerständig. »Wider den Strom‹ der materiellen Konstellationen sind wir ›Individualisten‹ und Parteigänger ›demokratischer‹ Institutionen.«13 Politik muss sich fortlaufend der Erstarrungstendenzen erwehren und muss wider die irreversiblen Entwicklungen der Bürokratisierungen Widersprüche und Kontingenz sichtbar machen. Die plebiszitäre Führerdemokratie gewährt laut Weber diese Form elitären und widerständigen Politik, und bindet diese gleichzeitig demokratisch – das muss immer wieder betont werden. Ein starkes, demokratisch gewähltes Parlament, starke und selbstbewusste politische Parteien und letztlich die Direktwahl der obersten politischen Führungsperson sind demokratische Absicherungen dieser elitären Politik.
Politik ist bei allen kein außerweltliches oder außerhalb der individuellen Handlungen liegendes Instrument, dass in der neuen Welt die Despotie verhindert und Freiheit sichert. Politik ist ein Handlungszusammenhang, der den Individuen selbst ermöglicht die Erfahrung der Despotie zu verhindern oder ihr zu entkommen. Durch die politische Gestaltung sind die Individuen wirklich frei und bleiben es auch, weil sie selbst (bei Tocqueville und Marx) oder ihre politischen Vertreter (bei Weber) die gesellschaftliche Entwicklung bewusst gestalten und sich die Kontingenz der Gestaltung immer wieder bewusst machen.
Politik hängt damit bei allen eng mit Kontingenzbewusstsein zusammen. Bei Tocqueville schützt sie bereits vorhandenes Kontingenzbewusstsein, in dem sie die Individuen durch verschiedene Erfahrungsräume daran gewöhnt. Für Marx ist radikale Politik Ausdruck eines Kontingenzbewusstseins, dass sich das Proletariat über die Zeit angeeignet hat. Weber sieht in der Politik die einzige Möglichkeit, Kontingenzbewusstsein dauerhaft aufrechtzuerhalten und die gesellschaftliche Entwicklung sich nicht bürokratisch erstarren oder sich schließen zu lassen.
Deutlich wird dann auch, dass alle drei Heroen der Gesellschaftswissenschaft Visionen formulieren, in der das Handeln im Mittelpunkt steht. Es sind daher drei praktische Vorstellungen von Politik. Webers Vorstellung einer plebiszitären Führerdemokratie ist eine auf die Praxis abzielende Idee, die nicht idealistisch konstruiert, sondern vor dem Hintergrund seiner Analyse und Gesellschaftskritik als praktische Vorstellung geschrieben ist. Politik ist ein konkreter und praktischer Handlungszusammenhang. Dies macht Weber zu einem praktischen Philosophen.14 Marx’ Analyse der Geschichte und der bürgerlichen Klassengesellschaft sowie die Kritik an dieser entstand nicht nur »im Handgemenge«15, sondern zielt letztlich auch auf ein solches ab. Politik ist für Marx deutlich ein praktischer Handlungszusammenhang. Radikale Politik kann nur im Kampf gegen die bisherige Geschichte stattfinden. Marx selbst erscheint damit auch als praktischer Philosoph, der nicht bei der Analyse stehen blieb, sondern diese vielmehr nutzte, um daraus ganz praktisch Aufklärung und Bewusstseinswerdung anzuregen.16 Tocquevilles Vorstellung einer demokratischen und politisch lebendigen bürgerlichen Gesellschaft basiert wiederum auf einer Vorstellung von Politik, die im Kern erzieherisch ist und den Individuen die praktische Erfahrung des Nutzens gemeinschaftlich-politischen Handelns zeigt. Auch Tocquevilles Verständnis ist insofern praktisch.17 Die Individuen lernen durch ihr eigenes praktisch-politisches Handeln, frei zu sein und damit auch frei zu bleiben. Tocqueville betont dies, obgleich er in der demokratischen Regierungsform nicht die qualitativ beste erkennt.18 Doch angesichts der Schicksalshaftigkeit der égalité des conditions ist dies ein Preis, den er offenbar zu zahlen bereit ist. Tocquevilles ›neue politische Wissenschaft‹ für die neue Welt adressiert das praktische Handeln der Individuen. Politische Praxis als Reflexion einer kritischen Analyse ergibt die Substanz dieser praktischen Vorstellungen.19
Dabei bestätigt die Metaperspektive auf Tocqueville, Marx und Weber, dass Politik selbst kontingent ist. Die drei formulieren gerade keine gleichlautende, sondern in Abhängigkeit ihrer jeweiligen Analyse drei unterschiedliche Vorstellung von Politik. Obgleich alle auf das individuelle Handeln abzielen, Politik bei allen ein praktisches Handeln ist, unterscheiden sich die Vorstellungen doch teils gravierend, und zwar in Abhängigkeit von der kritischen Analyse. Hier soll nur auf wenige Unterschiede kurz eingegangen werden, weil es nicht Absicht dieser Arbeit war, einen systematischen Vergleich von Tocqueville, Marx und Weber anzufertigen. Darin besteht eine Grenze der vorliegenden Arbeit. Allein aus Platzgründen war ein solcher Vergleich hier nicht umsetzbar. Viel erreicht wäre tatsächlich, könnte die vorliegende Arbeit einen solchen systematischen Vergleich der drei Autoren anstoßen. Denn ein solcher würde nicht nur deutlich mehr Gemeinsamkeiten und Unterschiede zutage fördern, sondern sicherlich auch spannende Verbindungslinien in der politischen Ideengeschichte hervorbringen.
Eine wichtige Unterscheidungskategorie bildet das Politikverständnis generell. Radikal-revolutionäre Politik sorgt bei Marx für die Überwindung (überwindende Politik) einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung, das Erkennen und für die Etablierung einer fundamental anderen. Eigeninteressengeleitete Politik ist bei Tocqueville Gestaltungsinstrument der demokratischen Gesellschaft (moderierende Politik). Tocqueville zielt auf eine andere Orientierung des individuellen Handelns ab, nicht aber auf die Überwindung der demokratischen Gesellschaft insgesamt. Auch für Weber ist Politik ein Gestaltungsmittel innerhalb einer unumkehrbaren gesellschaftlichen Entwicklung. Bürokratisierung und rationaler Betriebskapitalismus sind für Weber irreversibel und alternativlos. Innerhalb dieser gegebenen Bedingungen soll es wieder eine maximale politische Gestaltung geben (widerständige Politik). Auch Weber geht es damit nicht um die Überwindung, sondern um die Erweiterung der Orientierungen individuellen Handelns. Außerdem ist Politik für Weber mehrheitlich eine elitäre Angelegenheit, während Tocqueville und Marx Politik als ein Handeln aller oder mindestens möglichst vieler begreifen.
Eine andere Kategorie von Unterschieden besteht in der Freiheit, die durch Politik erreicht wird oder dessen Ausdruck Politik ist. Basiert Tocquevilles Vorstellung von Politik geradezu auf der Verbindung von Eigeninteressen gemeinschaftlichen Interessen, kann Politik für Marx nur Ausdruck eines solidarischen und an gemeinsamen Interessen orientierten Handelns gegen die bisherige Geschichte sein. Daran wird auch ein anderer Unterschied deutlich, denn Politik ist für Tocqueville Ausdruck der Verbindung von privater und öffentlicher Freiheit. Politik ermöglicht so viel gemeinsame Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung wie nötig und so wenig wie möglich, was bedeutet, bei so viel eigennutzorientiertem wirtschaftlichen Handeln wie möglich. Das Ergebnis von radikal-revolutionärer Politik bedeutet für Marx hingegen die Auflösung von Eigennutz. Für Marx werden die Individuen durch die Überwindung der historischen Widersprüche erstmals wirklich aufeinander bezogen und gemeinsam wirklich sozial frei. Weber ist hingegen etwas näher bei Tocqueville, denn Politik erweitert die individuelle Freiheit, weil sie die Kontingenz der gesellschaftlichen Entwicklung immer wieder darstellt, in der sich die Individuen sich jeweils bewegen können. Allerdings fehlt bei Weber der klare Bezug auf eigennützige Motive. Weber sieht vielmehr die Bürokratisierung und den Betriebskapitalismus als gegebene Größen, mit denen Politik zu arbeiten hat.
Politik, das wurde ebenfalls in dieser Arbeit deutlich, ist kein überzeitliches Prinzip, sondern verändert sich selbst je nach analytisch-kritischem Hintergrund. Politik ist in der neuen Zeit demnach maßgebliches Instrument bewusster Gestaltung, aber immer selbst kontingent. Das ist auch gut so, denn als dieses Instrument muss Politik immer in der Lage sein, mit dem Fortschritt und der gesellschaftlichen Entwicklung mitzugehen, die ja nicht nur von der Politik abhängen, sondern etwa auch wirtschaftlich oder technologisch bedingt ist. Politik muss fähig sein, sich den Umständen entsprechend weiterentwickeln zu können. Nur so kann Politik dauerhaft Gestaltungsinstrument bleiben.
Das zeigt sich auch daran, dass zwischen den drei historischen Zeitpunkten und dem, womit Politik umgehen muss, eine Verbindungslinie finden lässt. Das heißt nicht, dass die Gedanken von Tocqueville, Marx und Weber zwangsläufig aufeinander aufbauen. Die drei unterschiedlichen Gesellschaftskritiken und die unterschiedlichen Gedanken über Politik sind allerdings mit zur Grundlage dessen geworden, was für den Nachfolger Ausgangsbedingung war. Die drei kritischen Analysen sind insofern historisch miteinander verbunden und damit auch die drei unterschiedlichen Vorstellungen über Politik.
Der gemäßigte Liberalismus eines Tocqueville arbeitete mit einer Vorstellung von politischen Strukturen, Handlungsrahmen und politischer Kultur. Die historische Kraft, die die Emanzipation des Bürgertums, eigentlich die der politischen Herrschaft generell erreichte, war der Liberalismus und dessen »programmatisches Ideal«20: Die bürgerliche Gesellschaft freier und gleicher Individuen. Diese Idee behauptet sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Sodann beginnen die inneren Widersprüche und die Eigendynamiken der gesellschaftlichen Entwicklungen wirkmächtiger zu werden. Die bürgerliche Gesellschaft trägt sozusagen schwer an den eigenen Erfolgen des bürgerlichen Liberalismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Ziel des Liberalismus war zunächst die Gewaltenteilung zwischen Monarch und Gesellschaft, nicht allerdings die Demission der Monarchie oder die Errichtung einer Republik.21 Diese Vorstellungen fanden allerdings mehr und mehr Einzug in die Gesellschaft. Der moderne Kapitalismus entwickelte sich außerdem zunehmend auf Basis dieser liberalen Werte und wirkte auf spezifische Weise auf die Gesellschaft zurück, wie Tocqueville zeigte. Die Individuen wurden stärker in wirtschaftliche Handlungszusammenhänge eingehegt und durch ökonomischen Erfolg aber auch selbstbewusster.
Daran entzündete sich die sozialistische Kritik, auch die von Marx. Sein und der Ansatzpunkt sozialistischer Gesellschaftskritik allgemein ist letztlich die Bewahrheitung der Sorge Tocquevilles, der despotisme démocratique, dass nämlich die bürgerliche Mittelstandsgesellschaft in ihrem materiellen Streben versinkt und sich der selbstgeschaffenen Verwaltung des status quo ergibt. Die Marx’sche Kritik hat nun ihrerseits eine Vorstellung einer Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung, die Freiheit ausdrückt und die Individuen aus der Despotie des Kapitals befreit. Inhalt dessen ist teils ein evolutionärer Zwischenschritt, beispielsweise das Massenwahlrecht und die republikanische Verfasstheit.22 Die bürgerliche Gesellschaft wird davon beeinflusst. Es hilft ihr, sich in modifizierter Form zu konsolidieren.23 Viel von der sozialistischen Kritik ist inkludiert worden und selbst zu einer politischen Gestaltungsmacht geworden. Generell sind Liberalismus und Sozialismus im Verhältnis ähnlich wie Vater zu Sohn; sie sind organisch miteinander verbunden. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass die Arbeitervereine von unzufriedenen Mitgliedern der bürgerlich-liberalen Bildungsvereine mitbegründet wurden, etwa von Ferdinand Lassalle, August Bebel und auch Wilhelm Liebknecht.24 Ebenso sind viele sozio-ökonomische Probleme mithilfe sozialistischer Forderungskataloge, formierter Interessen in den Arbeitervereinen und -parteien sowie der Angst vor einer erneuten sozialen Revolution aus dieser Richtung gemildert worden. Hierin sieht Harry Cleaver die eigentliche Intention hinter Das Kapital, die proletarische Klasse der über ihren eigenen Zustand aufzuklären und ihr damit ein Instrument an die Hand zu geben, diesen Zustand zu ändern.25 Dies sorge für eine bessere, wenngleich immer noch nicht gerechte Verteilung von Wohlstand und der allgemeinen Verbesserung der sozio-ökonomischen Lage in der Gesellschaft.
Obgleich sich sozialstaatliche Systeme entwickeln, der Staat als gestaltender Akteur stärker eingreift und insgesamt die staatliche Verwaltung an Bedeutung gewinnt, ist damit kein harmonischer Zustand erreicht. Webers Kritik am Bürokratismus und an der Alltagsmacht der Verwaltung setzt daran an, was gemäßigter Liberalismus und sozialistische Kritik miterschaffen haben: den modernen, komplexen und zentralen Verwaltungsstaat. Dieser bewundernswert leistungsfähige Verwaltungsstaat26 leidet, so Weber, unter sklerotischen Verfestigungen aufgrund hintergründiger bürokratischer Machtstrukturen. Die Entwicklung der modernen bürgerlichen Gesellschaft droht im stählernen Gehäuse zu erstarren. Eine nächste Stufe der Entwicklung wird nötig, die Stärkung des repräsentativen Parlamentarismus, also der Steuerungs- und Gestaltungsfähigkeit von Politik, die die Offenheit und Kontingenz der Entwicklung wieder deutlicher machen müssen.
Anders formuliert: Was Tocqueville erkennt und Marx dann als Eigenschaften der bürgerlichen Gesellschaft kritisiert, wird später zum Nährboden dessen, was Weber verflüssigen will. Zusammengefasst ergeben die einzelnen Thesen, dass es im langen 19. Jahrhundert einen Prozess gab, dessen Kern immer mit der Möglichkeit der bewussten Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung beschäftigt war und der immer die politische Herrschaft betraf. Jede Entwicklungsstufe wurde selbst Streitpunkt und damit Voraussetzung eines nächsten Schritts.27
Die überwölbende Thematik findet sich in der Frage der Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung und der Handlungszusammenhänge. Die Entwicklung ist heute gekennzeichnet durch eine nicht mehr zu eliminierende Pluralität. Im langen 19. Jahrhundert war sie geprägt durch eine Mischung sowohl moderner als auch traditionaler Elemente.28 Es musste damals gestritten werden und es muss heute gestritten werden. Das ›Schicksal‹ der Kontingenz muss organisiert29 und bewusst gehalten werden, und zwar vermittels Politik. Es wurde deutlich, dass Tocqueville, Marx und Weber völlig unterschiedliche Ideen von Politik entwickelt haben, aber jede für sich auf die Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung unter den Bedingungen des langen 19. Jahrhunderts bezogen war. Im übertragenen Sinn standen Tocqueville, Marx und Weber alle vor einem Waldstück, das für den einen ein Naherholungs-, für den anderen ein Forstwirtschafts- und für den dritten ein Jagdgebiet war. Gerade die Perspektive auf die drei Werke zeigt, wie unterschiedlich Reaktionen auf die Bedingungen der neuen Welt ausfallen können: von bürgerlich-interessierter Politik aus der Erkenntnis des Eigenwerts von Politik über radikal-revolutionäre Politik der Überwindung historischer Gegensätze bis hin zu elitärer Politik als Darstellung und politischer Kampf tatsächlicher Kontingenz. Die Grundlage von Politik selbst kann in der neuen Welt nurmehr die dynamische Analyse der Gesellschaft sein. Sie zeigt auf, wo die Eigendynamik der gesellschaftlichen Entwicklung gerade potenziell davoneilt. Es ist die Gesellschaftskritik, die diese Punkte genau herausgreift. Je nachdem kann oder sollte Politik so oder anders aussehen. Ohne überzeitliche Prinzipien und unter der Bedingung, dass die gesellschaftliche Entwicklung nur auf die Gesellschaft selbst zurückzuführen ist, unabhängig ob unbewusst oder bewusst, gibt es (zumindest bisher) keine andere Möglichkeit. Da andere Ursachen gesellschaftlicher Entwicklung fortfallen, wird die fortlaufende und insofern kritisch-dynamische Analyse der Gesellschaft immer entscheidender, um immer wieder auftretende notwendige Änderungen in der politischen Steuerung und Gestaltung zu finden.
Die Darstellungen der drei Vorstellungen von Politik war kein Selbstzweck. Im Gegenteil stellen sie ein Wissen dar, »aus dem jede Generation neu schöpfen kann«30, wie Henning Ottmann eingängig feststellt. Das Grundproblem, mit dem sich Tocqueville, Marx und Weber auf ihre Weise auseinandersetzen ist natürlich auch heute noch zu beobachten, allerdings und ebenso natürlich auf ganz andere Art und Weise.
Ulrich Beck deutete in den 1980er Jahren darauf hin, dass die gesellschaftliche Entwicklung maßgeblich durch zwei Prozesse gekennzeichnet ist, durch politische und durch ökonomische Erneuerung. Dabei sei es gerade die zweite Sphäre, in der sich die entscheidenden Entwicklungen abspielen, »die Verhältnisse des gesellschaftlichen Zusammenlebens um und um«31 graben. Problematisch daran ist, dass dies abgekoppelt von politischer Gestaltung geschieht und ökonomischer Fortschritt zu Fortschritt überhaupt wird. Vor diesem Hintergrund stellt sich Ralf Dahrendorf die Frage, ob die Gesellschaft lieber ökonomisches Wachstum oder politische Gestaltung ohne oder mit weniger Wachstum haben wollen, ob also tatsächlich im 21. Jahrhundert ein »Jahrhundert des Autoritarismus […] keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose«32 sei. Folgt man Colin Crouch, dann ist die Antwort darauf eindeutig ein: Nein, aber dennoch ist die Frage nicht weniger besorgniserregend. Er sieht im Zeitalter der regressiven Moderne33 die Postdemokratie aufziehen.34 Demnach seien im 21. Jahrhundert Prozesse zu beobachten, die die Demokratie von innen aushöhlen. An die Stelle von gemeinschaftlicher politischer Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung trete eine zwar demokratisch legitimierte, aber »bereits vorentschiedene Politik«35, wie Stefan Lessenich und Frank Nullmeier ergänzen. Dazu kommt eine bestimmte Form der Entpolitisierung, die zugleich Ausdruck einer Interessenlage an der Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung ist. Es ist insbesondere der arme oder fast arme Bevölkerungsteil, der sich von der Politik abwendet,36 während die Interessen globaler Unternehmen eine deutlich größere Rolle in der politischen Gestaltung spielen. In der heutigen globalisierten und digitalisierten Welt erscheint damit ein gewichtiges Problem: Globalisierung und Investitionsentscheidungen multinationaler Konzerne erscheinen heute für die gesellschaftliche Entwicklung weitaus größere Bedeutung zu haben als politische Entscheidungen. Zugleich sind diese Sphären gegenüber den bestehenden politischen Instrumenten zunehmend entrückt oder spielen in der politischen Arena ohnehin die wesentlichen Rollen. Die Individuen stehen in einer Entwicklung gegenüber, die zunehmend eine unbewusste Eigendynamik ausbildet. Entwicklung und Fortschritt gehen weiter, werden aber kaum noch durch die Individuen bewusst politisch gestaltet.37 Die Gefahr sich von der bewussten Gestaltung abkoppelnder gesellschaftlicher Entwicklungen ist damit kein Spezifikum des langen 19. Jahrhunderts, sondern eine Herausforderung der Moderne generell.
Ohne Zweifel sind die Vorstellungen von Tocqueville, Marx und Weber in die politische DNA heutiger demokratischer Gesellschaften eingegangen. Sie sind zu erkennen in einer lebendigen und politisch engagierten Zivilgesellschaft, in sozialstaatlichen Institutionen und politisch potenten Parlamenten, Parteien und starken politischen Persönlichkeiten. Tocqueville, Marx und Weber reflektierten ihre Vorstellungen von Politik auf die Analyse ihrer Zeit. Das ist es auch, was die heutige Zeit von ihnen lernen kann: Politik muss in der Moderne beständig mit den sich immer schneller verändernden gesellschaftlichen Bedingungen mitwachsen und sich anpassen. Politik ist kein überzeitlich festgelegtes Prinzip, sondern bedarf der regelmäßigen Analyse ihrer Wirkmächtigkeit und Anpassung. Es gibt kein ›Ende der Geschichte‹38 und demokratische Politik, westliche Systeme der parlamentarischen Vertretung oder der sozialliberale Wohlfahrtsstaat sind nicht der Weisheit letzte Schlüsse.
Nur der Mensch selbst ist für seine Gegenwart, aber auch für die Zukunft verantwortlich. Nach Tocqueville, Marx und Weber ist der Mensch dafür notwendigerweise auf Politik angewiesen. Durch Politik kann die gesellschaftliche Entwicklung bewusst gestaltet und Kontingenzbewusstsein aufrechterhalten werden. Durch bewusste politische Gestaltung bleiben moderne Eigendynamiken steuer- und gestaltbar. Ein Mangel an Politik und Kontingenzbewusstsein allerdings bildet weiterhin einen Hintergrund vor dem auch modernen Gesellschaften die eigenen Dynamiken über den Kopf wachsen und neue Formen von Despotie ausbilden können.39
Der moderne Mensch muss daher bewusst politisch sein. Nur eine bewusste politische Gestaltung kann dauerhaft die Grundlage für eine weiterhin freie und gestaltungsoffene Zukunft sein. So verstanden, ist Politik in der Moderne eine Notwendigkeit. Es gilt, was Jean-Paul Sartre für das Wesen des modernen Menschen konzediert: Der moderne Mensch ist dazu »verurteilt frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut«40.
1Das stellt Roger Boesche hinsichtlich Weber fest, verweist dabei aber direkt auch auf Tocqueville und Marx. Vgl. R. Boesche, Weber: The Inevitability of Bureaucratic Domination (1996), S. 357.
2W. J. Mommsen (Hg.) (1974b), S. 142.
3Zit. n. J. T. Schleifer (2000), S. 338.
4Mit diesem Programm ist Tocqueville seither mindestens in der US-amerikanischen Gesellschaftswissenschaft präsent. Dazu Matthew J. Mancini: »From Oblivion to Apotheosis: The Ironic Journey of Alexis de Tocqueville«, in: Journal of American Studies 45 (2011), S. 21ff.
5I. Mészaros (1973), S. 95.
6K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie (1959), S. 70.
7Vgl. H. Bluhm, 2010, S. 12.
8R. Boesche, Marx – Despotism of Class and Workplace (1996), S. 275. Es drückt sich hier die Idee des »Socialsm from below« aus, die Hal Draper so benannt hat. Vgl. Hal Draper: The Two Souls of Socialism, Berkeley 1966, 4 passim.
9Hier muss Roger Boesche widersprochen werden. Marx hat nicht nur eine weitere »theory of human nature« formuliert, sondern eine Gesellschaftstheorie entwickelt, um Fortschritt überhaupt zu einer Angelegenheit von bewusster menschlicher Gestaltung zu machen. R. Boesche, Marx – Despotism of Class and Workplace (1996), S. 254.
10S. Jeong, 2016, S. 133. Dazu auch R. Boesche, Marx – Despotism of Class and Workplace (1996), S. 279.
11K. Marx, Das Elend der Philosophie (1959), S. 182.
12Vgl. K. A. Megill, 1969, S. 392.
13M. Weber, Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland (1989), S. 270.
14W. Hennis (1987), 3f.
15Siehe den Buchtitel von Matthias Bohlender/Anna-Sophie Schönfelder et al. (Hg.): Kritik im Handgemenge, Bielefeld 2018.
16Esteban Torres spricht daher von Marx »theoretical practice«. E. Torres, 2018.
17Vgl. Brian Danoff: »A School or a Stage? Tocqueville and Arendt on Politics and Education«, in: Perspectives on Political Science 41 (2012), S. 117ff.
18Vgl. Yuval Levin: »Democracy and Human Nature: Lawler and Tocqueville on the Modern Individual«, in: Perspectives on Political Science 37 (2008), S. 142ff, hier S. 145.
19Vgl. E. Nolla, Editor’s Introduction (2010), cxxi. Auch Saguiv Hadari bezeichnet Tocquevilles Ansatz als »Theory in Practice.« Vgl. Saguiv A. Hadari: Theory in practice, Stanford/Calif. 1989.
20F. J. Bauer (2006), S. 46.
21Vgl. Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988; Dieter Langewiesche: »Republik, Konstitutionelle Monarchie und ›Soziale Frage‹«, in: Historische Zeitschrift (1980), S. 529ff James J. Sheehan: Der deutsche Liberalismus, München 1983.
22Vgl. K. Marx/F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1959), S. 470.
23Vgl. F. J. Bauer (2006), S. 15.
24Vgl. Christiane Eisenberg: »Arbeiter, Bürger und der ›bürgerliche Verein‹ 1820-1870. Deutschland und England im Vergleich«, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Bd. 3: Verbürgerlichung, Recht und Politik, Göttingen 1995, S. 48ff, hier S. 48.
25Vgl. H. Cleaver (2012), S. 66.
26Vgl. J. Kocka (2012), S. 140.
27Dies stellt etwa Gerd-Walter Küster schon für Marx und die Marxsche Theorie allein fest, die als Kritik der bürgerlichen Klassengesellschaft von Anfang an in der Krise war, weil sie beständig mit der gesellschaftlichen Entwicklung mitwachsen musste und vor diesem Hintergrund natürlich Spannungen entstanden. Vgl. Gerd-Walter Küster: »Kritik und Begriff der bügerlichen Gesellschaft«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 71 (1985), S. 96ff, hier S. 96.
28Vgl. Elisabeth Fehrenbach: Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß, München 1993, S. 3.
29So ein Unterkapitel in Johano Strassers Arbeit: Organisation des Schicksals. Vgl. Johano Strasser: Das Drama des Fortschritts, Bonn 2015, S. 25ff.
30H. Ottmann (2001), S. 2.
31Ulrich Beck: Risikogesellschaft, Frankfurt a.M. 1986, S. 300f.
32Ralf Dahrendorf: »Die Globalisierung und ihre sozialen Folgen werden zur nächsten Herausforderung einer Politik der Freiheit«, in: Die Zeit vom 1997, S. 8
33Vgl. Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft, Berlin 2017, S. 71ff.
34Vgl. C. Crouch (2010)
35Stephan Lessenich/Frank Nullmeier: »Einleitung: Deutschland zwischen Einheit und Spaltung«, in: Stephan Lessenich/Frank Nullmeier (Hg.), Deutschland. Eine gespaltene Gesellschaft, Frankfurt a.M./New York 2006, S. 7ff, hier S. 24.
36Vgl. O. Nachtwey (2017), S. 92; Armin Schäfer/Harald Schoen: »Mehr Demokratie, aber nur für wenige? Der Zielkonflikt zwischen mehr Beteiligung und politischer Gleichheit«, in: Leviathan 41 (2013), S. 94ff; Armin Schäfer: »Liberalization, Inequality and Democracy’s Discontent«, in: Armin Schäfer/Wolfgang Streeck (Hg.), Politics in the Age of Austerity, Cambridge 2013, S. 169ff
Auch neuere Studien bestätigen dieses Gefälle, etwa die Shell-Jugendstudie von Klaus Hurrelmann 2019.
37Vgl. P. Nolte (2012), S. 427.
38Vgl. Francis Fukuyama: The end of history and the last man, New York, NY 2002
39Vgl. Shmuel N. Eisenstadt: Die großen Revolutionen und die Kulturen der Moderne, Wiesbaden 2006, S. 156; Shmuel N. Eisenstadt: »Die institutionelle Ordnung der Moderne. Die Vielfalt der Moderne aus einer weberianischen Perspektive«, in: Gert Albert/Agathe Bienfait/Steffen Sigmund et al. (Hg.), Das Weber-Paradigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm, Tübingen 2003, S. 328ff
40Jean-Paul Sartre/Werner Bökenkamp/Traugott König/Vincent v. Wroblewsky: Der Existentialismus ist ein Humanismus, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 155.