5. Neugestaltung der Institutionen – hin zu einer Kultur der Kreativität
Menschliches Verhalten und menschliche Werte (auch so zentrale wie Freiheit, Würde und Wohlbefinden) sind grundlegend an die Struktur unserer sozialen Institutionen gebunden. Das liegt daran, dass menschliches Handeln und menschliche Selbsterkenntnis notwendigerweise von sozialen Interaktionen geprägt sind, die ihrerseits durch Institutionen strukturiert werden. Hegel zufolge sind individualistische Ansätze oder Lösungen für soziale Probleme unzureichend, weil die rationale Freiheit und das Wohlbefinden des Einzelnen wesentlich mit der Struktur unserer Institutionen verknüpft sind. Geisteswissenschaftliche Forschung muss die kritische Untersuchung der Werte umfassen, die sowohl stillschweigend als auch explizit in unseren sozialen Institutionen enthalten sind, ihr rationales Potenzial und ihre Defizite untersuchen und neue Institutionen schaffen, die mit unseren neuesten rationalen Selbstbildern übereinstimmen.
Damit die Geistes- und Sozialwissenschaften ihr ganzes Potenzial entfalten können, muss ein angemessener institutioneller Rahmen geschaffen werden. Ihr Potenzial wird nicht nur untergraben, wenn ihre finanziellen und materiellen Bedingungen prekär sind, sondern auch, wenn sie in eine instrumentelle Logik gezwängt und an technokratische Beschreibungen der zu lösenden Probleme gebunden werden. Um in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine Kultur der Kreativität zu ermöglichen, muss der institutionelle Rahmen vier Anforderungen gerecht werden:61
- Eine ausreichende Finanzierung von Forschung und Lehre darf als Grundvoraussetzung gelten. Die Anforderungen der Geisteswissenschaften sind weit entfernt von denen der Naturwissenschaften, die eine teure technische und labortechnische Ausstattung benötigen. Die in der Regel große Diskrepanz zwischen der finanziellen Förderung der Geisteswissenschaften und der von experimentellen Wissenschaften ist also durchaus nachvollziehbar. Doch die Tendenz, den Ersteren die Mittel zu kürzen und sie stattdessen in Letztere zu stecken, verschlechtert die Chancen dafür, dass die Geisteswissenschaften ihre wichtige Rolle in der Gesellschaft erfüllen können. Forschung darf nicht zu einer Wochenendbeschäftigung werden, und es kann nicht sein, dass Lehrkräfte mit immer höheren Studierendenzahlen und immer größeren Klassen konfrontiert werden. Unter diesen Umständen werden Forschung und Lehre zwangsläufig leiden.
- Der institutionelle Rahmen muss eine verlässliche, vertrauenswürdige Grundfinanzierung von Forschung und Lehre gewährleisten. Das bedeutet, dass größeres Gewicht auf eine sorgfältige Ex-ante-Bewertung bei der Auswahl von Forschenden und ihren Projekten als auf eine immer strengere Ex-post-Kontrolle von Rechenschaftsberichten gelegt werden sollte. Für Forschende ist der Grat zwischen Risikobereitschaft und messbaren Ergebnissen recht schmal. Es liegt in der Natur kreativer Forschung, Fragen zu stellen, deren Antworten noch ungewiss sind. Sie wird möglicherweise eher zu einem besseren Verständnis der Probleme als zu praktischen Lösungen führen.
- Dies führt uns zu unserer dritten Bedingung für einen angemessenen institutionellen Rahmen: Welche Art von Forschung sollte
belohnt werden? Was gilt als wertvoll? Wir können eine Tendenz beobachten, die Geistes- und Sozialwissenschaften den Problembeschreibungen
zu unterwerfen, die sich aus politischen Prozessen und dem Gesellschaftsverständnis von Managern ergeben. Ihre Rolle wird
dann auf die nachträgliche Produktion von Legitimität reduziert. Im schlimmsten und keineswegs ungewöhnlichen Fall würde man
den Geisteswissenschaften das Versprechen abverlangen, unmittelbar zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) eines Landes beizutragen.
Eine solche Instrumentalisierung der Geisteswissenschaften würde ihr Potenzial von vornherein untergraben. Denn die Veränderung des Problemverständnisses könnte einer ihrer wichtigsten Beiträge zum und eine der wichtigsten Triebkräfte für den gesellschaftlichen Wandel sein, der im Sinne einer Ethik der Transformation dringend erforderlich ist. Vorherrschende Rahmenkonzepte, die sowohl die Problembeschreibungen als auch das Spektrum möglicher Antworten einschränken, müssen aufgebrochen werden. In Anbetracht der aktuellen, sich überlagernden Krisen ist die Rolle der Geisteswissenschaften in dieser Hinsicht sogar noch wichtiger. Wenn die Zeit drängt, ist es notwendig, konzeptionell zu entschleunigen, denn sonst bleibt die Gesellschaft in jenem Schema stecken, das die Krisen überhaupt erst hervorgebracht hat.62 Wir sehen die Rolle der Geisteswissenschaften darin, zu interpretieren und zu verstehen, aber auch darin, Denkanstöße für neue Wege zu geben, uns selbst als Teil der Gesellschaft und der Natur zu begreifen. Was die Aufgabe der Forschung im Allgemeinen angeht, so kann ihre Rolle nicht darin bestehen, Lösungen anzubieten und den Menschen zu sagen, was sie zu tun haben, sondern ›unbequeme Tatsachen‹ zu benennen, die nicht in die vorherrschenden Denkmuster passen und diese infrage stellen. - Damit die Geisteswissenschaften ihr ganzes Potenzial ausschöpfen können, muss ihr institutioneller Rahmen multiperspektivische
und integrative Arbeit innerhalb ihrer disziplinären Grenzen und über diese hinaus ermöglichen. Kritik bleibt ohnmächtig,
wenn sie nicht gehört wird, und notwendige Provokationen wirken nicht über fragmentierte Disziplinen und verwandte gesellschaftliche
Bereiche hinweg. Die Geisteswissenschaften müssen sich den Wünschen und Ängsten nicht-akademischer gesellschaftlicher Gruppen
öffnen, ohne ihre Arbeit deren Forderungen zu unterwerfen. Die Einbindung solcher Akteure darf auch keinesfalls als Euphemismus
oder Feigenblatt für Rolle und Einfluss privater Macht missverstanden werden.
Die Geisteswissenschaften angesichts dieser Gefahr zu isolieren, wäre jedoch eine falsche Reaktion, wenn nicht gar Teil des eingangs skizzierten Problems. Der institutionelle Rahmen sollte multiperspektivische Kombinationen ermöglichen und dabei das Proprium jeder einzelnen Disziplin und ihrer besonderen Beiträge wahren.
Die Schaffung dieser neuartigen institutionellen Ökosysteme ist keineswegs trivial. Einige Faktoren sind der Entwicklung von Kreativität allerdings besonders zuträglich:63 Am wichtigsten ist die Vielfalt, die jedoch nicht mit bloßer Heterogenität verwechselt werden darf. Ausgehend von der Vielfalt im Hinblick auf Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, sexuelle Orientierung und dergleichen als Grundvoraussetzungen zielt Diversität auf die Zusammenführung verschiedener Disziplinen und gesellschaftlicher Bereiche ab. Um von der Heterogenität zur Vielfalt zu gelangen, ist eine aktive institutionelle Kuratierung erforderlich. Dazu gehört die Schaffung ausreichender Gelegenheiten zu intensiver Kommunikation und Interaktion. Ist die Einrichtung zu klein, fehlt der Anreiz zur außerdisziplinären Orientierung; ist sie zu groß und heterogen, gibt es nicht genügend Raum für intensive persönliche Kontakte und fruchtbaren Austausch.
Angesichts der Notwendigkeit gründlicher (Selbst-)Reflexion ist die Schaffung einer Atmosphäre der Sensitivität und des gegenseitigen Vertrauens von entscheidender Bedeutung. Wie sich gezeigt hat, spielt dies eine wichtige Rolle bei der Steigerung von Empowerment, Engagement, Zusammenarbeit und Innovation. Eine institutionelle Governance, die auf vertrauensvollen und Vertrauen fördernden Verhaltensweisen beruht und diese auch konsequent an den Tag legt, wird in der Regel als high-trust culture of creativity bezeichnet: sie gewährleistet Interaktionen auf der Grundlage gegenseitigen Respekts, bei denen Versprechen und Verpflichtungen verstanden und erfüllt werden, und ermöglicht somit den Aufbau wertvoller und förderlicher Beziehungen.
Alle Disziplinen haben ihre eigenen Traditionen, Theorien, Methoden und Schwerpunkte, die unter Umständen sogar innerhalb eines einzelnen Fachgebiets zu Hindernissen bei Diskussionen führen können. Das Gleiche gilt für verschiedene Sektoren. Deshalb mutet gemeinsames interdisziplinäres und intersektorales Arbeiten auch oft so an, als würde man verschiedene (Fach-)Sprachen sprechen. Um neue Wege für die Zukunft zu beschreiten, bedarf der interdisziplinäre Diskurs nachhaltiger Übersetzungsformen. Seit mehr als einem Jahrzehnt gibt es eine zunehmende Zahl von Studiengängen (nicht nur in den Geistes- und Sozialwissenschaften), die darauf abzielen, Wissenschaftler auszubilden, die mit mehr als nur einer Disziplin vertraut sind und somit die Idee der Interdisziplinarität gewissermaßen verkörpern. Diese Art der Übersetzung kann als Beitrag zur Vernetzung der Disziplinen untereinander betrachtet werden.
Stellt man diese Gesichtspunkte in den Mittelpunkt des Aufbaus oder der Neugestaltung geistes- und sozialwissenschaftlicher Einrichtungen, so besteht die Chance, nicht nur neue, sondern auch solche Wege zu entdecken, die der ganzen Gesellschaft zugutekommen, indem sie bei und zwischen allen Beteiligten ein Gefühl der gemeinsamen Verantwortung schaffen.